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Inklusion und das Verschwinden der Menschen #

Über Grenzen der Gerechtigkeit #


Freundlicherweise zu Verfügung gestellt von der Zeitschrift: Behinderte Menschen, Heft 1 - 2013

Von

Markus Dederich


Schmetterlinge
© Susanne Kuzma

Die Idee der Inklusion ist dabei, eine rasante Karriere zu machen, mit der vor wenigen Jahren wohl kaum jemand ernsthaft gerechnet hätte. Betrachtet man den fachlichen Diskurs in der Heil- und Sonderpädagogik und die vielfältigen Aktivitäten im Raum des Politischen, dann ist es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass sich manche wissenschaftliche Kommentatoren in einen Zustand der Verzückung schreiben und manche Politiker in einem Strudel des Aktionismus verlieren. Umso dringender scheint es geboten, innezuhalten und die Entwicklungen in Ruhe und mit kritischer Distanz zu reflektieren.

Mit diesem Innehalten und kritischen Reflektieren ist nicht intendiert, hinter Errungenschaften wie die der UNBehindertenrechtskonvention zurückzugehen oder die Idee Inklusion in Frage zu stellen. Denn auch für diese Konvention gilt, dass der „Verweis auf gegebene Rechte [...] zum entscheidenden Argument in der sozialen Auseinandersetzung um rechtliche Gleichheit und gesellschaftliche Teilhabe“ (Heidenreich 2011, 87) wird. Zugleich aber ist es unerlässlich, das kritische Denken nicht einzustellen, sondern an einige durchaus problematische Aspekte zu erinnern. Dazu sollen die nachfolgenden Überlegungen einen kleinen Beitrag leisten. Solche problematischen Aspekte sind durchaus bekannt und in den vergangenen Jahren immer wieder benannt worden. Mir geht es jedoch um zwei fundamentale Probleme, die beide in systematischer Weise mit der Frage zusammenhängen, ob die Inklusion teilbar ist oder nicht. Das erste Problem betrifft die im Diskurs häufig eingenommene und vor allem der faktisch betriebenen Politik zugrundeliegende Position, die von einer pragmatischen Teilbarkeit der Inklusion ausgeht. Insbesondere erweist es sich als schwierig, ethisch plausible Kriterien für diese Teilbarkeit zu finden. Das zweite Problem betrifft den Gegenpol des Spektrums von Positionen, nämlich die Position, die die Unteilbarkeit der Inklusion vertritt. Denn das normative Postulat der Unteilbarkeit erweist sich (davon abgesehen, dass es sich als illusorisch herausstellen könnte) in einer bestimmten Hinsicht als ethisch problematisch. Unter der – für die hier vorgetragene Überlegung entscheidenden – Voraussetzung, dass Inklusion kein Wahlangebot ist, sondern das Bildungs- und Sozialsystem durchgängig inklusiv angelegt ist, könnte sich das Dilemma ergeben, dass das, was für die meisten richtig ist, keineswegs für alle richtig ist. Hier lautet meine These, dass die konsequente Verwirklichung von Inklusion im Zeichen der Gerechtigkeit neue Ungerechtigkeiten produzieren könnte.

Pointiert formuliert: Wenn die Umsetzung einer Idee wichtiger wird als die Konsequenzen, die die Umsetzung für die Menschen hat, dann wird eine bedenkliche Schieflage erzeugt, weil der einzelne Mensch in seiner Singularität, Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit nicht mehr von Bedeutung ist, sondern auf einen besonderen Fall eines Allgemeinen oder zu einer bloßen Störgröße reduziert wird. Das ist gemeint, wenn im Titel von einem „Verschwinden des Menschen“ die Rede ist. Diese Formulierung ist keine Anspielung auf Foucault und seine These vom Verschwinden des Menschen im Sinne einer bestimmten, spezifisch modernen Subjektkonstruktion (vgl. Foucault 1974, 462).

Meine Überlegungen und Fragen beziehen sich auf die Inklusion als Idee. Dies zu betonen ist wichtig, denn bis heute ist der Begriff der Inklusion alles andere als eindeutig. Es gibt deskriptiv- analytische und präskriptive bzw. normative Verwendungsweisen, und häufig wird nicht hinreichend klar zwischen beiden unterschieden. Als Idee, die die Gestaltung nicht nur des Bildungssystems, sondern auch des Sozialen und der Gesellschaft überhaupt betrifft, ist Inklusion stark präskriptiv und normativ aufgeladen. Es handelt sich um einen Wertbegriff, der eine bestimmte Ausrichtung des Handelns vorschreibt. Dieses Handeln soll ein in ethischen Begriffen beschreibbares Gut verwirklichen: Einerseits soll es die gesellschaftliche Kohäsion stärken, andererseits einen entscheidenden Beitrag zur Einbindung von bisher randständigen Individuen und Gruppen in das Gesellschaftliche leisten. Wollte man den Kern der Idee in Begriffen der politischen Philosophie umschreiben, wäre Inklusion vor allem eine Frage der Anerkennung, der Teilhabe und der Gerechtigkeit. Daher wird Inklusion auch häufig mit der Idee politischer Gleichheit, mit Menschenrechten und der demokratischen Entwicklung der Gesellschaft in Verbindung gebracht. Viele Inklusionsbefürworter gehen davon aus, dass eine humane Gesellschaft nicht auf die Verwirklichung dieses Guts verzichten kann, ja, dass sie erst durch deren Verwirklichung wahrhaft human wird.

Inklusion auf diese Weise als Idee zu begreifen, hat wichtige Konsequenzen für die wissenschaftliche Reflexion und Forschung. Sofern nämlich Inklusion ein ethisches Gut darstellt, kann man nicht auf der Basis empirischer Argumente die Richtigkeit oder Falschheit des Konzeptes nachweisen, sondern allenfalls die Praktikabilität bestimmter Umsetzungsstrategien. Der Nachweis jedoch, ob etwas umsetzbar und praktikabel ist, ist kein Beweis ethischer Richtigkeit oder Falschheit der Idee als solcher. Sehr wohl aber lässt sich anhand empirischer Befunde prüfen, ob, in welcher Hinsicht und eventuell mit welchen Einschränkungen reale Formen und Begleiteffekte der Umsetzung der Idee der Inklusion als ethisch legitim ausgewiesen werden können.

Teilbarkeit oder Unteilbarkeit der Inklusion?#

Ich beginne mit dem ersten Problem. Betrachten wir den Diskurs über die Inklusion und ihre Umsetzung, dann finden sich auch unter den Befürwortern kontroverse, ja unvereinbare Positionen. Dies betrifft vor allem die Frage, ob die Inklusion teilbar ist oder nicht. Wie ich nachfolgend skizzieren möchte, sind beide Positionen nicht frei von Fallstricken.

Die einen (ich nenne sie hier die radikal-innovativen, idealistischen Inklusionisten) gehen von einer radikalen Idee der Inklusion aus, die keinerlei vorgängige Ausschlüsse akzeptiert. Sie lesen ein umfassendes Inklusionsgebot aus der UN-BRK heraus. Die anderen (ich nenne sie hier die struktur-konservativen, pragmatischen Integrationisten) weisen einen solchen weitgehenden Anspruch zurück und glauben ihrerseits, ihre Position sei durch die UN-BRK gedeckt. Ihrer Auffassung nach muss man pragmatisch an die Sache herangehen und Unvollkommenheiten akzeptieren.

Nehmen wir für den Augenblick einmal an, die Unteilbarkeit gehöre zu den Grundprinzipien der Inklusion als gesellschafts- und bildungspolitisches Konzept. Unteilbarkeit kann nur bedeuten: Es geht um eine Inklusion aller, ohne Ausnahmen. Von hier aus gesehen käme der Vorschlag, aus pragmatischen Gründen von der Unteilbarkeit der Inklusion abzusehen, einer Zerstörung der Idee der Inklusion selbst gleich. Gleichwohl bevorzugt die Gruppe der pragmatischen Integrationisten differenzierte Lösungen, was bedeutet, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Das läuft in der Praxis z.B. in Hinblick auf Schule auf die Beibehaltung eines zweigleisigen Systems hinaus, das neben den anderen Schultypen inklusive Schulen und Förderschulen umfasst. Ein solches System impliziert aus Sicht der idealistischen Inklusionisten natürlich unweigerlich, dass die Idee der Inklusion durch ein Moment der Exklusivität infiltriert und möglicherweise in ihrer Grundsubstanz angegriffen wird.

Verfolgen wir das Konzept der zweigleisigen Strategie noch ein wenig weiter. In ihrem primär an einer pragmatischen Umsetzung interessierten Gutachten gehen Preuss-Lausitz und Klemm davon aus, dass 85 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf inklusiv beschult werden können. Ohne zu bezweifeln, dass eine solche Quote ein enormer Fortschritt im Vergleich zu heute wäre – vorausgesetzt, die Inklusion ist gut gemacht –, stellt sich doch die Frage, wie sich die verbleibenden 15 Prozent zusammensetzen?

Wäre die Entstehung einer Restschule für den harten, nicht integrierbaren Kern ein Fortschritt oder ein Anzeichen für das Versagen des Systems und das Scheitern der Inklusion? Oder wäre die Entstehung einer Restschule prinzipiellen (d.h. nicht verschiebbaren) Grenzen der Inklusion geschuldet? Aber wie wäre eine solche prinzipielle Grenze begründet? Gibt es Störungsbilder, die per se gegen Inklusion sprechen? Das würde allerdings bedeuten, dass die Idee der ausnahmslosen Inklusion aller insofern falsch ist, als sie etwas prinzipiell Unmögliches fordert. Oder wäre die Entstehung einer Restschule eine pragmatische Konzession? In diesem Fall stellt sich die Frage, welche Maßstäbe und Kriterien dieser Pragmatik zugrunde liegen. Oder gibt es keine allgemeinen Kriterien und die Exklusion von der Inklusion erfolgt jeweils situativ, z.B. aufgrund des Vorhandenseins oder Fehlens von geeigneten Rahmenbedingungen und Ressourcen? Damit aber wäre die Grenzziehung völlig willkürlich und kontingent und damit alles andere als gerecht. Es ist also durchaus folgenreich zu fragen, ob der von Preuss-Lausitz und Klemm angestrebten Quote empirisch-praktische oder normative Kriterien zugrunde liegen.

Um das Problem an einem Beispiel zu veranschaulichen: Wenn etwa massive Unterrichtsstörungen durch Schülerinnen oder Schüler mit schwerwiegenden Verhaltensproblemen bzw. sozial-emotionalen Entwicklungsauffälligkeiten ein Kriterium des Ausschlusses von der Inklusion sind, dann stellt sich natürlich die Frage, wo genau im sehr weiten Spektrum der Ausprägung und Intensität dieser Probleme bzw. Auffälligkeiten die Grenze zwischen Inklusionstauglichkeit und -untauglichkeit liegt und wieweit diese Grenze durch situative, personelle und strukturelle Rahmenbedingungen beeinflusst wird. Ein anderes Kriterium könnte die prognostische Einschätzung sein, ob die Inklusion in einem gegebenen Einzelfall überhaupt „gelingen“ kann. Hier stellt sich dann umgehend die Frage, was die Kriterien für das Gelingen sind: soziales Miteinander und gegenseitige Wertschätzung? Reibungsloser Ablauf von Unterricht? Quantifizierbare Bildungszuwächse bei Schülerinnen und Schülern? Oder eine wie auch immer gewichtete Kombination von Kriterien?

An dieser Stelle soll kurz auf ein angrenzendes, ebenfalls erhebliches Problem hingewiesen werden. Denn es gibt nicht nur die Auffassung, dass die Inklusion teilbar ist. Neuerdings ist wieder vermehrt zu hören, dass es auch Grenzen schulischer Bildbarkeit überhaupt gebe und folglich nicht nur Systemdifferenzierung, sondern auch Ausschluss aus dem Bildungssystem insgesamt als legitime Option angesehen wird. Inzwischen scheint dies wieder ein politiktauglicher Gedanke zu sein. So heißt es in § 40 Absatz 2 des Referentenentwurfs zum „Ersten Gesetz zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen (9. Schulrechtsänderungsgesetz)“ des Landes NRW vom 10.9.12: „Für Schülerinnen und Schüler, die selbst nach Ausschöpfen aller Möglichkeiten sonderpädagogischer Unterstützung nicht gefördert werden können, ruht die Schulpflicht.“

Unabhängig davon, ob dieser Passus am Ende in den Gesetzestext aufgenommen wird, wirft diese kleine und harmlos daherkommende Formulierung Fragen auf: Anhand welcher Kriterien kann gewusst werden, dass alle Möglichkeiten sonderpädagogischer Förderung ausgeschöpft sind? Wer legt diese Kriterien fest und prüft, ob sie zutreffen? Noch grundsätzlicher wäre aber im Sinne des Nichtausschlusses zu fragen, ob Förderung auch und vielleicht gerade dann angezeigt ist, wenn nichts mehr geht, wenn ein scheinbar endgültiger Stillstand eingetreten ist. Es war eine zentrale Erkenntnis der Pädagogik der Aufklärung, dass der Mensch nicht nur bildsam ist, sondern auch der Bildung bedarf, um seine Humanität zu entfalten. Von hier aus muss festgestellt werden, dass der Ausschluss von Bildung schwerstbehinderter Menschen auf eine Preisgabe von deren Humanität hinausläuft.

Neuerlich hat Jantzen (2012) festgestellt, dass die allgemeine Wertschätzung von Heterogenität viel falsche Rhetorik enthält, denn es lässt sich beobachten, dass es ungebrochene Exklusionstendenzen gibt. Jantzens Argumentation zeigt unter Rückgriff auf einen soziologischen, deskriptiv-analytischen Inklusionsbegriff, dass der präskriptiv-normative Inklusionsbegriff, der den pädagogischen Diskurs dominiert, zur Verschleierung faktischen Ausschlusses missbraucht werden kann. Jantzen zufolge wird Exklusion beispielsweise dadurch politisch hergestellt, dass Menschen mit schweren oder komplexen Behinderungen „von vornherein als nichtinkludierbarer Rest behandelt werden, als ob sie nicht das gleiche Recht gemäß der BRK hätten, alle Rechte zu haben, auch wenn wir sie ihnen heute in vielerlei Hinsicht noch nicht gewährleisten können“. Während auf der Vorderbühne von Inklusion geredet wird, „wird auf der Hinterbühne weiter ausgegrenzt und unsichtbar gemacht“.

„Solange von leichter Sprache, Umdefinition von Menschen mit Lernschwierigkeiten und Teilhabe auf der Vorderbühne die Rede ist oder dort das ‚Es ist normal verschieden zu sein‘ zur Rede von ‚verhaltensoriginellen‘ Menschen führt, die auf der Hinterbühne in Sondergruppen von Großeinrichtungen akkumuliert oder in Wohnheimen verborgen werden, wo immer schlechter bezahlte Mitarbeiterinnen einen immer größeren Arbeitsaufwand leisten müssen und dies alles nicht thematisiert wird [...], wo allgemein gesellschaftliche Ausgrenzung unter dem ‚Es ist normal anders zu sein‘ verschwindet, kann weder von Inklusion noch von der Gewährleistung von Menschenrechten die Rede sein“.

Wie das Beispiel von Menschen mit schweren und komplexen Behinderungen zeigt, will das „Offenhalten“ unseres Bildes vom Menschen – ein zentrales Anliegen der Idee der Inklusion – in der gesellschaftlichen Praxis oft nicht gelingen. Solange die Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssysteme vorwiegend ökonomisch ausgerichtet sind und eine Maximierung von Effizienz anstreben und die skizzierten ästhetischen und psychologischen Ausgrenzungsmechanismen ungebrochen greifen, werden die gut gemeinten und ohne Frage sympathischen Bekenntnisse zur Inklusion ins Leere laufen bzw. an unüberwindbar scheinende Grenzen stoßen. Wenn Inklusion, wie viele ihrer Befürworter sagen, ein Passungsverhältnis ist, dann reicht es nicht aus, kleinere Justierungen vorzunehmen. Dann muss man die Gesellschaft und Kultur insgesamt in den Blick nehmen und kritisch untersuchen, wo und wie systematisch in Ausschluss oder Marginalisierung mündende Nicht-Passungen hergestellt bzw. aufrechterhalten werden.

Es ist offensichtlich, dass geteilte Inklusion erhebliche ethische Fragen aufwirft und überaus problematisch ist. Wie aber verhält es sich mit einer als unteilbar angesehenen Totalinklusion?

Ist die unteilbare Inklusion gerecht? #

Mit dieser Frage wird das Projekt der radikalen Inklusionisten kritisch in den Blick genommen. Im Diskurs der weitgehenden Inklusionsbefürworter spielt seit einigen Jahren die Idee der Gerechtigkeit in zwei Varianten eine wichtige Rolle: als soziale Gerechtigkeit und als Bildungsgerechtigkeit (vgl. Lindmeier 2008, 2012; Prengel 2012). Bei Reich (2012) liest sich das so: Ziel der Gerechtigkeit ist es, die Chancen aller zu erhöhen, an Bildung teilzuhaben. Dieses Ziel kann, so Reich, unter den Bedingungen eines separierenden Bildungssystems nicht verwirklicht werden. Denn ein solches Bildungssystem erzeugt entweder systematisch Ungleichheit oder es hebt bereits bestehende Ungleichheiten nicht nur nicht auf, sondern verstärkt sie. Deshalb geht es vorrangig um den Abbau von Diskriminierung und die Anhebung des Bildungsniveaus insgesamt, also auch für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Das zentrale Stichwort ist „Chancengerechtigkeit“ unter den Bedingungen der „Diversität“, d.h. der faktischen Existenz einer Vielfalt von individuellen, sozialen und kulturellen Differenzen. So formuliert Reich eine seiner Hauptforderungen wie folgt: „Die Gesellschaft muss vor allem im Erziehungs- und Bildungssystem Ressourcen und Hilfen bereitstellen, um diese Diversität zu leben und die Diskriminierung einzelner Gruppen oder von Individuen im gesellschaftlichen Ganzen zu vermeiden, wenn nicht insgesamt negative Entwicklungstendenzen in Richtung ungerechter Ausschlüsse und Diskriminierungen auftreten sollen“ (Reich 2012, 35).

Dies ist eine der Stellen, an denen die Empirie ins Spiel kommen muss. Denn es ist eine legitime Frage zu prüfen, ob das, was als gerecht behauptet wird, auch faktisch gerecht ist. Ist es gerecht – und ich formuliere hier einmal spitz –, wenn etwa gehörlose, autistische, tetraplegische Kinder die einzigen ihrer Art in einer Klassengemeinschaft sind, sie also keine Möglichkeit haben, sich einer Peergroup von ihresgleichen zugehörig zu fühlen? Ist es gerecht, wenn sich lernschwache Schülerinnen und Schüler in einem Lernmilieu, das mit zunehmender Dauer der Schulzeit ein Leistungsmilieu ist, im Vergleich zu den meisten anderen als leistungsschwach erleben müssen? Ist es gerecht, wenn eine kleine, aber in sich äußerst heterogene Gruppe von beeinträchtigten Schülern nicht von Spezialisten unterrichtet wird, deren pädagogische Kompetenzen genau auf sie zugeschnitten sind? Ist es gerecht, in einem schulischen Milieu aufzuwachsen, in dem Differenzen gewürdigt werden, die sich jedoch spätestens beim Übergang in die Arbeitswelt benachteiligend auswirken? Ist es gewährleistet, dass der zieldifferente Unterricht in heterogenen Lerngruppen nicht zur Herausbildung neuer sozialer Demarkationslinien zwischen „uns“ und den „anderen“ führt? Abstrakt formuliert: Können sich die radikalen Inklusionisten sicher sein, dass ihre Idee von Gerechtigkeit nicht neue Ungerechtigkeiten produzieren wird?

Diese Fragen verweisen auf ein grundlegenderes philosophisches Problem, das nachfolgend etwas genauer betrachtet werden soll. Im gegenwärtig in der Heil- und Sonderpädagogik geführten Diskurs über Grundlagen der Inklusion zeigt sich eine klare Vorliebe für Gesellschaftstheorie, politische Theorie oder philosophische Gerechtigkeitskonzeptionen. Gegenüber der früheren eher individualethischen Orientierung ist dies ein deutlicher Gewinn. Jedoch neigt diese neue Vorliebe zu einer gewissen Einseitigkeit, so dass sich der ungute Eindruck aufdrängt, dass die akademische Reflexion den einzelnen Menschen weitestgehend aus dem Blick verloren hat. Mit der eindimensionalen Konzentration auf Umwelten, Strukturen, Systeme, Institutionen und eine (etwa durch das Recht verkörperte) normative Ordnung wird der einzelne Mensch mit Behinderung in seiner Singularität vernachlässigt bzw. auf einen besonderen Fall eines Allgemeinen reduziert.

Diese Schieflage lässt sich umgehen, indem die Idee der Gerechtigkeit gerade nicht von den Institutionen oder einem Vertrag fiktiver Gleicher her gedacht wird, sondern von der Verantwortung für den konkreten anderen Menschen ausgeht. Mit Verantwortung ist zunächst nichts anderes gemeint als eine unbedingte und unabweisbare ethische Verpflichtung gegenüber diesem anderen Menschen. Diese veränderte Blickrichtung hat allerdings die weitreichende Konsequenz, dass die Gerechtigkeit nicht mehr alleiniges Maß aller Dinge ist, sondern komplementär zur Verantwortung konzipiert werden muss. Dabei zeigt sich, dass Verantwortung und Gerechtigkeit in einer nicht zu umgehenden Spannung stehen.

Verantwortung und Gerechtigkeit bei Levinas #

Im Werk von Levinas, der für seine Philosophie der radikalen Andersheit und seine Ethik der Verantwortung bekannt ist, findet sich ein Denken über das Problem der Gerechtigkeit, das diese einer fundamentalen Kritik unterzieht, gleichzeitig aber ihre Unverzichtbarkeit für die menschliche Gesellschaft herausstellt. Levinas’ Gerechtigkeitsdenken kreist um die Figur des sog. „Dritten“. Diese Figur bildet eine spannungsreiche, kontrapunktische Ergänzung zur Verantwortung. Verantwortung ist eine spezifische, nämlich ethische Relation zum anderen Menschen. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass Levinas den Anderen als radikal Anderen versteht, als Menschen, dem ich zwar nah sein kann, der sich aber trotzdem dem Zugriff meines Wissens und einer restlosen Identifikation mit sozialen Zuschreibungen entzieht. Der Andere ist demnach mehr als ein besonderer Fall eines Allgemeinen; er ist einzig bzw. singulär, was bedeutet, dass er den Schematismus von Allgemeinem und Besonderem unterläuft (vgl. Schnell 2008).

Nach Levinas besteht Verantwortung gegenüber dem Anderen als Anderen. Sie besteht mit anderen Worten unabhängig davon, ob dieser Andere meinesgleichen ist oder ein Fremder, ob ich Sympathien für ihn hege oder nicht usw. Dies liegt daran, dass ich diese Verantwortung nicht frei gewählt habe, sondern der Andere mich in sie einsetzt, indem er unausweichliche Ansprüche an mich richtet. Levinas zufolge ist diese Relation der Verantwortung gegenüber dem radikal Anderen asymmetrisch angelegt, weil der Anspruch bzw. Appell der Antwort stets vorausliegt. Es ist genau diese Nachträglichkeit der Antwort gegenüber dem Anspruch, die die Unausweichlichkeit und Asymmetrie der Verantwortung ausmacht. Nun ist, wie Waldenfels betont, der „fremde Anspruch, der im Blick, in der Geste, im Anruf des Anderen leibhafte Gestalt annimmt, [...] weder berechtigt noch unberechtigt. [...] Ein An-spruch im doppelten Sinne von Anspruch an jemanden und Anspruch auf etwas zeichnet sich aus durch jene Unausweichlichkeit, diesseits von Sein und Sollen“ (Waldenfels 2006, 131). Der Anspruch des Anderen ist unausweichlich. Er hat mich bereits getroffen und affiziert, bevor ich mich mit ihm befasse, ihn bedenke, darauf eingehe oder mich ihm entziehe. Das bedeutet, dass der Anspruch dem antwortenden Akt eines freiheitlichen Subjekts vorausgeht. „Was mir nolens volens geschieht, ist kein Akt, es wird zum Akt, den ich vollführe, indem ich so oder so darauf antworte“ (Waldenfels 2006, 109).

Die ethische Konstellation ist also eine Relation der Verantwortung, in die mich der andere Mensch, wer immer er sei, einsetzt. Diese Unausweichlichkeit des Mich-Meinens ist die Quelle jeglicher ethischer Verbindlichkeit. Dies sagt aber noch nichts darüber aus, wie ich dieser Verantwortung nachkomme und in einem normativen Sinn nachzukommen habe.

Dies lässt sich erst angesichts der Figur des Dritten klären. Diese Figur steht für die anderen Anderen, die neben dem einen Anderen immer schon auch existieren. Darüber hinaus sind auch Institutionen gemeint, die das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft regeln, etwa konfliktvermittelnde Instanzen wie Gerichte oder Instanzen der Verteilung von Gütern, beispielsweise das Gesundheitsund das Bildungssystem. Gegenüber der ethischen Unausweichlichkeit der Antwort auf den Anspruch des Anderen ist die Figur des Dritten maßgeblich für das Was und Wie der Antwort. In demokratischen Gesellschaften, die dem Grundsatz nach dem Prinzip der Gleichheit verpflichtet sind, bearbeiten solche Institutionen bestimmte Aufgaben oder Probleme nach dem Grundprinzip, Gleiche gleich und Ungleiche ungleich zu behandeln. Angesichts der vielen Menschen und ihrer höchst unterschiedlichen Ansprüche und Bedarfe stellt sich die Frage, wem was gerechterweise zusteht.

Die Figur des Dritten hat Levinas zufolge erhebliche Konsequenzen für die ethische Relation zwischen Ich und Anderem. Sie verkörpert den „Augenblick der Gerechtigkeit (der Justiz). [...] Hier fordert das Recht des Einzigen, das Urrecht, des Menschen Urteil, und somit Objektivität, Objektivierung, Thematisierung, Synthese. Es werden Institutionen benötigt, die richten, und eine politische Autorität zu ihrer Unterstützung“ (Levinas 1995, 237). Durch die Gegenwart des Dritten entsteht die Notwendigkeit des Vergleichs, der kriterienbasierten Abwägung, Bewertung und Hierarchisierung verschiedener Ansprüche, etwa, um in Konfliktsituationen oder bei der Verteilung sozialer Güter angemessene Entscheidungen treffen zu können. Solche Konstellationen machen es unvermeidbar, den Einzelnen trotz seiner Singularität „auf die Partikularität (Besonderheit) eines Exemplars der Gattung“ (Levinas 2011, 343) zu reduzieren. Die radikale Andersheit des Anderen wird durch die Gegenwart des Dritten und die durch ihn verkörperten sozialen, kulturellen und politischen Kontexte in Verhältnisse relativer Gleichheit bzw. Ungleichheit gerückt. Ich fasse zusammen: Die Verantwortung und mit ihr das Antworten auf den Anspruch des Anderen sind mir unentrinnbar auferlegt. Dies gilt aber nur für das Dass der Antwort (auch ein Sich-Abwenden ist eine Antwort), nicht aber für das Was und Wie der Antwort, denn diese sind nicht durch den Anderen erzwungen. Es liegt in meiner Freiheit, wie ich antworte. Durch die anderen Anderen, die mich im Angesicht des Anderen ansprechen und beanspruchen, sehe ich mich mit einer Vielzahl singulärer und nicht vergleichbarer Ansprüche konfrontiert, die ein Vergleichen und Abwägen unausweichlich machen. Dafür aber sind gut begründete Kriterien notwendig, die für alle gleichermaßen gelten. Auf dieser Grundlage werden die an sich unvergleichlichen singulären Ansprüche verglichen und in eine Rangordnung gebracht. So unvermeidlich dies auch sein mag, so deutlich ist auch, dass im Licht der Singularität des radikal Anderen dem Gleichmachen des Ungleichen ein Moment der Gewaltsamkeit innewohnt. Nach Schnell (2008) ist „von sich selbst her [...] die Pluralität singulärer Ansprüche nämlich nicht auf eine Reihenfolge, die festlegt, wem ich mich zuerst zuwende, angelegt. Erst die Einführung gerechter Institutionen trägt dazu bei, dass Bevorzugungen und Benachteiligungen auftreten. Dieser wohl kaum zu vermeidende Einbruch ist mit Momenten der Gewaltsamkeit behaftet, weil er auf unzureichenden Gründen beruht“ (S. 124).

Mit Gewaltsamkeit ist gemeint, dass es für die Gerechtigkeit keine Letztbegründung gibt, d.h. einen Grund, hinter den nicht mehr zurückgegangen und der nicht mehr vernünftig bezweifelbar ist. Das aber bedeutet, dass Gerechtigkeit nicht allein vernünftig begründet ist, sondern auch auf kontingenten Setzungen beruht. An Nietzsche anknüpfend bestreitet etwa Derrida (1991) die Möglichkeit, die Idee der Gerechtigkeit allein auf vernünftigen Gründen basieren zu lassen. Anders als das Recht, das „ausgleichbar und satzungsgemäß, berechenbar, ein System geregelter, eingetragener, codierter Vorschriften“ (S. 44 f ) ist, ist Gerechtigkeit nach Derrida „unendlich [...], unberechenbar, widerspenstig gegen jede Regel, der Symmetrie gegenüber fremd, heterogen und heterotop“ (S. 44).

Waldenfels (2006) versteht das Gleichsetzen des Ungleichen im Zeichen der Gerechtigkeit als einen Akt der Herstellung einer Ordnung. Innerhalb eines bestimmten Kontextes wird jemand anhand von Kriterien oder Maßstäben als jemand, d.h. in einer bestimmten Hinsicht verstanden: als behinderte Person, als Pflegebedürftiger, als Simulant. Dieses Bestimmen als oder Verstehen von jemandem als jemand Bestimmtes ist nur möglich unter Rückgriff auf allgemeine Kriterien, d.h. durch Vergleich. Dieser unausweichliche und notwendige Akt aber verkennt die Andersheit des Anderen. „In diesem Sinne haftet jeder Gerechtigkeit, die seit eh und je darin besteht, Gleiches gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln, ein Moment der Ungerechtigkeit an. Dies gehört zu den konstitutiven Merkmalen einer jeden kontingenten Ordnung, die selektiv und exklusiv verfährt“ (Waldenfels 2006, 127 f.).

Im Gegensatz zur radikalen Andersheit des Anderen und der asymmetrischen ethischen Beziehung zu ihm erzwingt die Figur des Dritten also Gleichheit, Symmetrie, Reziprozität. Durch seine Situiertheit in einem Ordnungsgefüge und angesichts des Dritten erlangt der einzelne Mensch den „Status“ eines Rechtssubjektes und wird zu einem Gleichen unter Gleichen, der einen Anspruch auf Gerechtigkeit hat. Jedoch beharrt Levinas angesichts Erfahrungen mit totalitären Systemen und der Allgegenwärtigkeit von Macht und Gewalt darauf, die Gerechtigkeit und auch das davon deutlich unterschiedene Recht an die Singularität des anderen Menschen zurückzubinden. Um die Humanität des anderen Menschen zu wahren und um der Gerechtigkeit selbst willen ist es unerlässlich, immer wieder „auf das unter den Identitäten der Staatsbürger verborgene menschliche Antlitz aufmerksam“ (Levinas 1995, 327) zu machen und das Bewusstsein für die Verantwortung, die das Antlitz auferlegt, wach zu halten.

Zusammenfassend gilt also: Das Ethische ist die nicht gewählte und unbedingte Verantwortung für den Anderen, die Politik hingegen ist die „Sphäre der bedingten und geregelten Verhältnisse“ (Heidenreich 2011, 145). Nach Bernasconi (1998) stehen die mich in die Verantwortung rufenden Ansprüche des Anderen und die das Politische bedingende Anrecht des Dritten weder in einem Ableitungsverhältnis noch in einer hierarchischen Rang- oder zeitlichen Abfolge. Vielmehr ist der Dritte und damit die Gerechtigkeit von vorne herein mit im Spiel und steht in einer unauflösbaren Spannung zur Verantwortung. „Die beiden Dimensionen von fremdem Anspruch und Anrecht des Dritten haben ihren gemeinsamen Schnittpunkt in dem erwähnten Gleichsetzen des Nichtgleichen, dem Vergleichen des Unvergleichlichen, welches besagt, dass Nichtgleiches im Gleichen, Unvergleichliches im Verglichenen auftritt“ (Waldenfels 2006, 132). Auf der einen Seite ist die Beziehung der unbedingten Verantwortung dem Anderen gegenüber „ein Korrektiv gegenüber der soziopolitischen Ordnung“ (Bernasconi 1998, 90). Auf der anderen Seite dient „die Anwesenheit des Dritten im Antlitz des Anderen dazu [...], die Parteilichkeit einer Beziehung zum Anderen korrektiv auszugewichten, die sonst keinen Grund hätte, die Ansprüche der anderen Anderen nicht zu ignorieren“ (ebd.). Levinas selbst drückt das Spannungsverhältnis wie folgt aus: „Die Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit nur in einer Gesellschaft, in der zwischen Nahen und Fernen nicht unterschieden wird, in der es aber auch unmöglich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen“ (Levinas 2011, 347).

Allerdings gibt es in der heutigen Politischen Philosophie (und in der Inklusionsdebatte, die sich auf grundlagentheoretischer Ebene u.a. auf philosophische Konzepte des Politischen bezieht) eine starke Tendenz, die von Levinas herausgearbeitete grundlegende Verantwortung zu übergehen. Dies ist, wie Stegmeier in Anlehnung an Levinas in einer philosophischen Rückschau skizziert, folgenreich. Indem sich die Philosophie einseitig auf das Allgemeine, das Geordnete, das Prinzipielle bezog und das Singuläre, Einmalige, nicht unter ein allgemeines Prinzip Subsumierbare überging, nährte sie „den Glauben an Institutionen des Allgemeinen, die dem Einzelnen nicht nur vorab sein tägliches Leben ordneten, sondern ihm nach und nach seine Verantwortung für die anderen Einzelnen abnahmen, neben Recht, Moral und Staat, Politik, Wirtschaft und Kirche. Je mehr die Einzelnen zu Gliedern eines Allgemeinen wurden, richteten sie sich in ihm ein und verloren das Gefühl ihrer bleibenden eigenen Verantwortung für seine Institutionen. Die Einzelnen konnten dann im besten Wissen und Gewissen als ‚Vertreter’ des Allgemeinen und seiner Verwaltung handeln, konnten im Schutz proklamierter Normen glauben, es sei schon das Gute und Gerechte, ihnen zu entsprechen“ (Stegmaier 2002, 67).

Und genau dieses Problem zeichnet sich auch in der Inklusion ab: Der Tendenz nach kommt der andere Mensch im Zeichen der Gerechtigkeit nur noch als verallgemeinerter Anderer in den Blick, jedoch nicht in seiner Einzigkeit und Singularität. Dieser Unterschied ist keineswegs so marginal, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn wenn es stimmt, dass der einzelne Mensch mehr ist als bloß ein besonderer Fall eines allgemeinen Menschseins, d.h. wenn er singulär ist, dann könnte es sein, dass das, was im Allgemeinen ethisch geboten und praktisch richtig ist, sich in Bezug auf einen Menschen in seiner Singularität ethisch problematisch und praktisch als falsch erweist.

Es ist diese philosophische Überlegung, die zu der Frage führt, ob die aufs Ganze gehende Inklusion mit ihrem Anspruch, Gerechtigkeit für ausnahmslos alle herstellen zu können, sich im konkreten Einzelfall nicht nur als schwierig, sondern auch als ungerecht herausstellen könnte.

Abschließende Überlegungen #

Ich schließe mit zwei Bemerkungen. Erstens: Ohne Zweifel ist die im Diskurs über Gerechtigkeit und Inklusion erfolgende Umstellung auf sozialethische Fragen und die dort vorgenommene Ausrichtung an menschenrechtlich verankerten Normen unerlässlich für eine politische Fundierung der heil- und inklusionspädagogischen Theorie. Zudem hat diese Orientierung auch den Vorzug, das gelegentlich hochmoralische Klima früherer Ethikdebatten in der Heil- und Sonderpädagogik etwas abzumildern – obwohl die Inklusion die Gemüter durchaus erhitzt und auch diese Debatte manchmal eine moralisierende Note bekommt. Auf der anderen Seite rückt der Gerechtigkeitsdiskurs aufgrund seiner starken Normenorientierung die Inklusionsfrage in die Nähe des Rechts. Noch offensichtlicher wird dies dort, wo die in der UN-Behindertenrechtskonvention herausgestellten Menschenrechte nicht nur zur Begründung von Inklusion herangezogen, sondern wo ein Menschenrecht auf Inklusion aus der Konvention herausgelesen wird. Dies führt zu einer Verrechtlichung der Idee der Inklusion. Eine solche Entwicklung ist zwiespältig. Während sie auf der einen Seite durch die Sicherung einklagbarer Rechte formale, institutionelle und prozedurale Aspekte der Inklusion sichert, kann sie den (wenn man so will: individualethischen) Aspekt der individuellen Verantwortung aus dem Blick rücken. Das aber hätte weitreichende Folgen, denn Verrechtlichung kann tatsächliche Wertschätzung von Menschen mit Behinderungen, den Wunsch mit ihnen zu lernen, zu leben und zu arbeiten und sie trotz aller Unterschiede als meinesgleichen zu respektieren, nicht erzwingen. Daher ist es weder gewagt noch einem ungebührlichen Pessimismus geschuldet vorauszusehen, dass die Durchsetzung von Inklusion durch Verrechtlichung nicht nur an Grenzen stoßen, sondern auch scheitern wird, wenn Inklusion nicht zugleich zu einem durch eine hinreichende Zahl von Menschen verkörperten und gelebten Wert wird. Und ebenso klar ist, dass allein eine an allgemeinen Prinzipien orientierte und vom anderen Menschen in seiner Singularität abstrahierende Gerechtigkeitsperspektive die Inklusion nicht zum Erfolg führen wird.

Meine zweite Bemerkung ist eher grundsätzlicher Art und knüpft noch einmal an das zweite vorab erörterte Problem an. Phänomenologisch lässt sich die Umsetzung der Idee der Inklusion als Versuch beschreiben, durch politische Reformen das Bildungs- und Sozialsystem nicht nur neu zu ordnen, sondern eine neue Ordnungsform zu etablieren. Jedoch lässt sich zeigen, dass jede Ordnung selektiv und exklusiv ist – hier berühren sich trotz aller Unterschiede die Phänomenologie und die Systemtheorie in Anschluss an Luhmann. Dies gilt auch für solche Ordnungen, die sich als umfassend und inklusiv verstehen. Hierzu schreibt Waldenfels: „Das Außerordentliche, das jede Ordnung begleitet wie ein Schatten, besagt nicht, dass etwas außerhalb der Ordnung bleibt, sondern dass die Ordnung selbst als Ordnungsstiftung und Ordnungserhaltung nicht in sich selbst gründet. [...] Möglichkeiten, die ausgeschlossen werden, sind nicht ausgetilgt. Das Liebäugeln mit einer ganz und gar inklusiven Gemeinschaft, der im Grunde nichts und niemand äußerlich ist, gehört zu den Ideen, die verblassen, wenn man sie zu realisieren versucht“ (Waldenfels 2012, 298 f.). Der Rekurs auf eine Idee der Menschheit bzw. eine Idee der allumfassenden, allgemeinen Humanität erweist sich als nicht unproblematisch. Eine solche Idee besagt ja: Dies (eine religiöse Praktik, ein politisches System, eine Moral) ist etwas, was ausnahmslos allen Menschen gemäß ist. Jedoch stellt die Menschheit „kein grenzenloses Wir dar, das imstande wäre, sich selbst zu repräsentieren und im eigenen Namen zu sprechen. Mit der Berufung auf die Menschheit werden wir die Fremdheit nicht los; denn stets ist es eine partikulare Instanz, die den Anspruch erhebt, ‚für uns alle‘ zu sprechen und zu kämpfen, ohne unser aller Zustimmung einzuholen. Die Menschheit ist vielstimmig, eine einstimmige Menschheit ist nicht mehr als eine fixe Idee, allerdings eine wirksame“ (Waldenfels 2012, 313).

Was folgt hieraus für die Debatte über Inklusion? Auch wenn dies politisch völlig inkorrekt ist: Ohne Zweifel muss die Idee der Inklusion erneut darauf geprüft werden, ob sie „blinde Flecken“ aufweist, die sich spätestens bemerkbar machen, wenn die Umsetzung vorher nicht bedachte Folgen zeitigt. Dass die Vorstellung, die Inklusion sei teilbar, zu erheblichen Problemen führt – nämlich der Bildung eines „harten Kerns“, dem die Inklusionsfähigkeit abgesprochen wird –, ist hinlänglich bekannt. Auf der anderen Seite ist aber bisher noch kaum darüber gesprochen worden, dass auch die gegenläufige Position, die die Unteilbarkeit der Inklusion vertritt, nicht nur aus pragmatischen, sondern aus prinzipiellen Gründen problematisch sein kann. Dieses Problem wird dann virulent, wenn beispielsweise schulische Inklusion nicht eine Wahlmöglichkeit ist, sondern „alternativlos“ ist. Besonders dann wäre zu fragen, ob die Inklusion tatsächlich per se ethisch gut ist, wie die meisten ihrer Befürworter zu glauben scheinen. Ist Inklusion tatsächlich die einzig legitime Antwort auf die Forderung nach Nicht-Ausschluss? Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Fragen steht in der Heil- und Sonderpädagogik noch aus.

Literatur#

  • Bernasconi, Robert (1998): Wer ist der Dritte? Überkreuzung von Ethik und Politik bei Levinas. In: Waldenfels, Bernhard/Därmann, Iris (Hg.): Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik. München, S. 87–110
  • Derrida, Jacques (1991): Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität‘. Frankfurt
  • Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. Frankfurt
  • Heidenreich, Felix (2011): Theorien der Gerechtigkeit. Eine Einführung. Opladen & Farmington Hills
  • Jantzen, Wolfgang (2012): Behindertenpädagogik in Zeiten der Heiligen Inklusion. In: Behindertenpädagogik, 51 Jg., Heft 1, S. 35–53
  • Kant, Imm anuel (1965): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg
  • Levinas, Emm anuel (1995): Zwischen uns. Versuche über das Denken des Anderen. München und Wien
  • Levinas, Emm anuel (2011): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. 4. Auflage, Freiburg und München
  • Lindmeier, Christian (2008): Inklusive Bildung als Menschenrecht. In: Sonderpädagogische Förderung heute, Heft 4, S. 354–374
  • Lindmeier, Christian (2012): Heilpädagogik als Pädagogik der Teilhabe und Inklusion. In: Sonderpädagogische Förderung heute, 57. Jg., Heft 1, S. 25–44
  • Prengel, Annedore (2012): Kann Inklusive Pädagogik die Sehnsucht nach Gerechtigkeit erfüllen? Paradoxien eines demokratischen Bildungskonzepts. In: Seitz, Simone u.a. (Hg.): Inklusiv gleich gerecht? Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Bad Heilbrunn, S. 16–31
  • Reich, Kersten (2012): Inklusion und Bildungsgerechtigkeit – eine Einführung. In: Reich, Kersten (Hg.): Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Standards und Regeln zur Umsetzung einer inklusiven Schule. Weinheim und Basel, S. 12–47
  • Schnell, Martin W. (2008): Ethik als Schutzbereich. Kurzlehrbuch für Pflege, Medizin und Philosophie. Bern
  • Stegmeier, Werner (2002): Levinas. Freiburg
  • Waldenfels, Bernhard (1992): Einführung in die Phänomenologie. München
  • Waldenfels, Bernhard (2006): Schattenrisse der Moral. Frankfurt

Der Autor#

Prof. Dr. Markus Dederich

Prof. Dr. Markus Dederich Geb. 1960. Lehrstuhl für Allgemeine Heilpädagogik an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Ethik und Behinderung, Inklusion und Exklusion, philosophische Grundlagen der Heilpädagogik, Disability Studies.

Neueste Publikationen: „Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies“, Bielefeld 2007; „Behinderung und Anerkennung“, Stuttgart 2009 (hg. mit Wolfgang Jantzen); „Sinne, Körper und Bewegung“, Stuttgart 2011 (hg. mit Wolfgang Jantzen und Renate Walthes); „ Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin – Auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik“, Bielefeld 2011 (hg. mit Martin W. Schnell). Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Frangenheimstraße 4, 50931 Köln

Behinderte Menschen, Heft 1 - 2013