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Überraschend anders: Mädchen und Frauen mit Autismus#


Freundlicherweise zu Verfügung gestellt von der Zeitschrift: Behinderte Menschen, Heft 4/4 - 2013

Von

Christine Preißmann


„Phoenix days“ Phönix-Tage sind gute Tage, das Selbst im Einklang mit sich und seiner unmittelbaren Umgebung. Phönix-Tage sind strahlende, farbige Tage. Sie haben immer auch ein Ende, deshalb muss man sie genießen und versuchen, so viel von ihnen als Erinnerungen behalten zu können, wie möglich.
„Phoenix days“ von Gee Vero

Will man die Situation von Frauen mit Autismus verbessern, ist ein umfassendes Verständnis ihrer Situation, ihres Verhaltens und ihrer Besonderheiten notwendig. Dieses Verständnis lässt sich erreichen, indem man betroffenen Menschen zuhört und ihre Erfahrungen in zukünftige Maßnahmen einbezieht.

Individualität und geschlechtsspezifische Angebote in der Medizin #

Der Wert einer ganz individuellen Behandlung unter Berücksichtigung der eigenen Wünsche und Voraussetzungen wurde in den letzten Jahren in vielen Bereichen der Medizin erkannt. Man bemerkte, wie wichtig es ist, auf jeden einzelnen Menschen persönlich zugeschnittene Therapiekonzepte anbieten zu können, um es ihm zu ermöglichen, die für ihn in der aktuellen Lage passenden Angebote auszuwählen und den eigenen Weg zu finden. Auch hat man inzwischen herausgefunden, dass männliche und weibliche Patienten verschieden sind und diese Unterschiede auch in diagnostischer und therapeutischer Hinsicht berücksichtigt werden müssen.

Auch im Hinblick auf autistische Störungen wird immer deutlicher, dass es wichtig ist, sich mit geschlechtsspezifischen Aspekten zu beschäftigen und ein individuelles Vorgehen zu praktizieren. Autistische Mädchen und Frauen stellen die Minderheit einer Minderheit in der Gesellschaft dar, sie trugen aber in den letzten Jahren entscheidend dazu bei, autistische Störungen auch im deutschsprachigen Raum bekannter zu machen (u.a. Grandin 1997; Publikationen der Autorin).

Geschlechtsspezifische Aspekte beim Autismus #

Nach wie vor geht die Fachwelt von einem Geschlechterverhältnis von einem Mädchen auf sechs bis acht Jungen aus, inzwischen diskutiert man jedoch zunehmend, ob die „wahre“ Verteilung nicht eher bei ca. 1:4 oder gar bei 1:2,5 liegt (Jenny 2011). In vielen europäischen Ländern wird von einer steigenden Anzahl von Mädchen und Frauen mit einer Diagnose aus dem autistischen Spektrum berichtet, die sich nicht selten erst als Jugendliche oder als erwachsene Frau zur diagnostischen Einschätzung vorstellen (Gawronski et al. 2012, Gould 2011). Es ist also sinnvoll, zu überlegen, welche spezifischen Schwierigkeiten bei ihnen bestehen und wie die diagnostischen Überlegungen und die therapeutischen Möglichkeiten noch besser an ihre speziellen Bedürfnisse angepasst werden können.

Die betroffenen Mädchen und Frauen unterscheiden sich vom männlichen Geschlecht in der Ausprägung der autistischen Symptomatik; außerdem sind sie anderen gesellschaftlichen Erwartungen ausgesetzt: „Weibliche Betroffene im Erwachsenenalter erleben (...) einen gesteigerten Anpassungsdruck, um den üblichen weiblichen Erwartungen in Gesellschaft und Partnerschaft zu entsprechen. Frauen werden bereits in der Kindheit, sowohl durch traditionelle Erziehungsmuster in Familie und Gesellschaft als auch in der Schule, mit Rollenklischees konfrontiert, die Verhaltensformen wie Angepasstheit, „nett und brav sein“, „nicht auffallen“ etc. fördern. Jungs dagegen wird vermittelt, dass sie dominanter, stärker und wichtiger sind. Dementsprechend bekommen sie den Raum, den sie einfordern, während Mädchen eher darin bestärkt werden, zurückhaltend und unauffällig zu sein“ (M. Steinhaus, in: Preißmann 2013, 155–156).

Oft erhalten die betroffenen Frauen daher erst sehr spät die richtige Diagnose und eine effektive Förderung, denn die geltenden Diagnosekriterien beschreiben eher die männliche Ausprägung des Autismus. Mädchen, die sich davon unterscheiden, werden mit diesen Kriterien häufig gar nicht erfasst. „Professionelle, deren Aufgabe es ist, diagnostische, therapeutische und pädagogische Angebote für Mädchen und Frauen mit Autismus zu gestalten, haben (daher) die Verantwortung, sich über diese geschlechtsspezifischen Besonderheiten, Unterschiede, Qualitäten und Persönlichkeiten der Betroffenen umfassend zu informieren“ (M. Steinhaus, in: Preißmann 2013, 157). Das Fehlen einer korrekten Diagnose bedeutet nämlich auch das Fehlen adäquater Unterstützung, um in Arbeit und Beruf, persönlichen Beziehungen, im Privatleben und in anderen Bereichen des Alltags möglichst gut zurechtzukommen. Wie sich immer wieder herausstellt, haben autistische Frauen andere Bedürfnisse im Hinblick auf Interventionen und Hilfen. Sie benötigen differenzierte Maßnahmen im Hinblick auf (vgl. Preißmann 2013):

  • Kommunikation,
  • Sozialverhalten und soziale Erwartungen,
  • Beziehungen, Freundschaft und Partnerschaft,
  • Selbstvertrauen und psychische Gesundheit,
  • körperliche Gesundheit und Wohlbefinden,
  • adaptive Fertigkeiten in Zeiten der Pubertät, des Erwachsenwerdens und auch des Alterns (Menstruation, Hygiene, Sexualität etc.),
  • Freizeitaktivitäten und sportliche Betätigung, die sich an ihren Interessen orientieren,
  • berufliche Möglichkeiten und Karriereplanung,
  • ihre persönliche Entwicklung,
  • die vielfältigen Möglichkeiten der Lebensgestaltung.

Autismus-Spektrum-Störungen: Symptomatik #

Vor allem das Kontaktverhalten und die soziale Interaktion sind auffällig. Im Kindesalter spielen die Betroffenen oft am liebsten allein: „Beim Spielen mit anderen Kindern, z.B. im Urlaub am Strand, fiel uns auch auf, dass sie sich mitten im Spiel von den Spielkameraden abwendete, um sich alleine mit anderen Dingen zu beschäftigen. Sich drehendes Sandspielzeug oder Windräder schienen für sie viel faszinierender zu sein. Später im Kindergarten zeigte sie sich auch den anderen Kindern gegenüber oft dominant, sodass es nur wenige Kinder gab, die ihre Vorgaben zur Beschäftigung akzeptierten“ (A. Schneider, in: Preißmann 2013, 31). Auch später noch fällt es Menschen mit Autismus schwer, sich auf andere Menschen einzustellen, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen und in Gang zu halten, obwohl sie sich oft durchaus für ihr Gegenüber interessieren.

Die Bedeutung von Sprichwörtern und Redewendungen oder zweideutigen Äußerungen können sich Menschen mit Autismus meist nicht erschließen: „Plötzlich ging es um das Thema Sexualität, mit dem ich überhaupt nichts anzufangen wusste, (...). Dieser Freund sagte mir schließlich ganz direkt ins Gesicht, ich sei verhaltensgestört und gehöre ‚auf die Couch‘. Nach dieser Aussage, die ich genau wörtlich genommen hatte, war ich zunächst völlig irritiert. Was hatte diese äußerst prekäre Angelegenheit denn um alles in der Welt mit einem Sofa zu tun? Soweit ich wusste, erledigten doch die meisten Menschen ihre Sexualität eher im Schlafzimmer“ (S. Pinke, in: Preißmann 2013, 55). Das wörtliche Sprachverständnis spielt in allen Lebensbereichen eine große Rolle und führt immer wieder zu Missverständnissen. Beispiele dafür „sind Zeitangaben wie ‚eine gute halbe Stunde‘ (31 Minuten? 35? 40 oder gar noch mehr?), die für mich schwer sind, weil ich meinen Tagesablauf sehr genau plane, um Sicherheit zu haben. So gab es auch früher im Urlaub mit meinen Eltern immer wieder Probleme, weil sie sich nicht so exakt festlegen wollten. Sie wussten damals noch nicht, wie wichtig das für mich gewesen wäre. Wir unternahmen also eine Wanderung „ins Blaue“ (aber die Wiesen waren doch eher grün!), wollten „bald“ ankommen und dann auch wieder „früh“ zurück sein. Es war entsetzlich. Immer wurde es später Nachmittag, bis wir wieder in der Pension waren, meine Eltern empfanden das als „früh“, ich aber hatte eher mit einer Rückkehr am Vormittag gerechnet und den Ablauf des Nachmittags daher anderweitig verplant. Dauernd gab es Streit, was mir danach immer sehr leidtat (und meinen Eltern auch, wie ich heute weiß). Es ist also nachvollziehbar, dass es oft für beide Seiten eine Erleichterung bedeuten wird, das gegenseitige Verhalten einschätzen zu können und zu erfahren, dass das tägliche Miteinander nicht nur aus Provokationen besteht“ (Preißmann 2013, 66).

Auch im nonverbalen Kontakt bestehen Auffälligkeiten; so gelingt es autistischen Menschen nur schlecht, Mimik, Gestik oder Blickkontakt anzuwenden und bei anderen richtig zu interpretieren. Daher entgehen ihnen im Gespräch viele Informationen, die andere Menschen ganz selbstverständlich nebenher aufnehmen können. In allen Lebensbereichen wird das Bekannte und Gewohnte bevorzugt, Veränderungen und unvorhersehbare Ereignisse stellen große Probleme dar. Sicherheit geben dagegen Regeln, an denen die Betroffenen sich im Alltag orientieren und die sie oft geradezu zwanghaft zu befolgen scheinen. Regeln und Strukturen stellen für sie eine wichtige Stütze dar, wenn sie sich im sozialen Miteinander verloren fühlen.

Es fällt ihnen schwer, übergeordnete Zusammenhänge zu erkennen, ihre Wahrnehmung konzentriert sich eher auf Details. Daher können sie oft große Mengen an Fakten problemlos auswendig lernen, was man sich inzwischen in Schule und Beruf auch zunutze macht.

Menschen mit Autismus sind oft motorisch ungeschickt und haben häufig kein Interesse an Bewegungsspielen oder Mannschaftssportarten im Sportunterricht. Auch mit der Handschrift treten nicht selten Probleme auf: „Anna hatte im Laufe der ersten Klasse rasch Lesen und Schreiben gelernt und entwickelte einen großen Ehrgeiz, alles besonders gut und sorgfältig machen zu wollen; beispielsweise legte sie im Fach Mathematik größten Wert auf akkurat untereinander angeordnete Zahlen. Die Genauigkeit ging allerdings oft zulasten der Schnelligkeit, sodass es schon in der Grundschule häufig vorkam, dass Anna beispielsweise bei Klassenarbeiten mit dem festgesetzten Zeitrahmen nicht zurechtkam“ (A. Schneider, in: Preißmann 2013, 32).

Insgesamt benötigen autistische Menschen oft Hilfe und Anleitung bei scheinbar leichtesten Aufgaben, während sie schwierige Anforderungen manchmal nahezu mühelos erledigen. Daher wirken sie in der Kindheit ebenso wie im Jugend- und auch noch im Erwachsenenalter auf ihre Umgebung oft merkwürdig und geben den anderen doch einige Rätsel auf: „Ich war ein ruhiges, stilles Kind, das sich große Mühe gab, nicht weiter aufzufallen, sondern in Ruhe gelassen zu werden und allein für sich interessantes Wissen zu erwerben. In manchen Fächern war ich richtig gut, auf anderen Gebieten dagegen fehlten mir teilweise sogar die wichtigsten Grundkenntnisse, was immer wieder verwirrend für meine Lehrer war und mir oft als Faulheit oder Desinteresse ausgelegt wurde“ (Preißmann 2013, 18).

Unterschiede in der Symptomatik zwischen Männern und Frauen #

Die autistische Störung wird beim weiblichen Geschlecht deutlich seltener und später diagnostiziert als bei Jungen. Man vermutet dafür folgende Gründe:

  • Die Symptome sind häufig subtiler und weniger stark ausgeprägt als bei Jungen. Die betroffenen Mädchen werden daher oft lediglich als „seltsam“ wahrgenommen, nicht jedoch als umfassend beeinträchtigt. Sie sind in der Regel ruhiger und können ihr Verhalten besser kontrollieren. Bei ihnen stehen daher seltener die Aggression und das Stören des Unterrichts, sondern vielmehr passives Verhalten und der Rückzug im Vordergrund. Dies entspricht dem gesellschaftlichen Rollenbild von Frauen (still, schüchtern, unschuldig, bescheiden), was auf andere Menschen weit weniger störend wirkt als Aggressionen und daher nicht nach sofortiger Intervention verlangt. Auch der mangelnde Blickkontakt wird bei Frauen eher auf eine Schüchternheit geschoben, die für das weibliche Geschlecht nicht ungewöhnlich erscheint und daher nicht zu der Annahme einer autistischen Störung führt.
  • Während Jungen mit Autismus daher in der Regel häufiger bereits im Kindesalter schwerwiegende soziale und kommunikative Probleme aufweisen, fallen diese Schwierigkeiten bei autistischen Mädchen oft erst im Jugend- und jungen Erwachsenenalter auf, wenn die Unterschiede zu den Klassenkameradinnen deutlicher werden (Faherty 2002, Hubbard 2010).
  • Betroffene Mädchen können soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten meist schneller erlernen als Knaben. Außerdem gelingt es ihnen besser, ihre Schwierigkeiten zu „tarnen“. Sie beobachten aufmerksam ihre Umgebung und versuchen, andere Mädchen nachzuahmen oder sogar zu kopieren (z.B. deren Mimik und Stimme, aber auch soziale Verhaltensweisen), um nicht aufzu fallen und „unsichtbar“ in der Gruppe mitlaufen zu können. Oder sie versuchen, sich durch Auswendiglernen die Dinge anzueignen, die ihnen im sozialen Kontakt schwer fallen. Sie können durchaus eine beste Freundin haben. Insgesamt zeigen sie oft ein größeres Interesse an Freundschaften und Beziehungen als Jungen und können soziale Situationen, Kommunikation oder Freundschaft häufig gut reflektieren. Wenn sie an sozialen Spielen beteiligt sind, werden sie oft von Gleichaltrigen „geführt“, sodass sie bei der Kontaktaufnahme nicht selbst aktiv werden müssen. In der Grundschule werden sie häufig von anderen Mädchen „bemuttert“, in der weiterführenden Schule von diesen jedoch eher geärgert und gehänselt.
  • Sie pflegen im Schulalter bezüglich der Themenwahl oft weniger auffällige und manchmal sogar alterstypische Spezialinteressen, nicht selten solche aus „sozialen“ und weniger aus technischen oder abstrakten Bereichen, die aber in der Regel genauso exzessiv, obsessiv und repetitiv ausgelebt werden wie die Vorlieben der Jungen. Diese sind wie beim männlichen Geschlecht auch durch häufiges Anordnen und Kategorisieren geprägt und werden meist allein ausgelebt oder aber dominant gegenüber einem Spielpartner statt im wechselseitigen Miteinander. Meist ist es also nicht so sehr das besondere Interessengebiet, das autistische Mädchen von ihren Alterskameraden unterscheidet, sondern es sind vielmehr die Intensität und die Qualität dieser Interessen. Autistische Jungen dagegen wählen nicht selten solche Favoriten aus, mit denen sich ihre Alterskameraden in der Regel nicht beschäftigen (Toilettenspülungen, Strommasten etc.).

Jugendalter als Krisenzeit #

Häufig kommt es bei Mädchen mit Autismus im Jugendalter zu einer schweren Krise, wenn die Unterschiede zu den anderen Mädchen zunehmend größer und auffälliger werden.

Typische „Mädchen-Themen“ werden nun als uninteressant und oberflächlich erlebt Kleidung, Kosmetika, Schmuck etc.), die Betroffenen verfolgen vielmehr weiterhin ihre Interessen und Spiele aus der Kindheit: „Meist stand ich abseits, war nicht einbezogen und hörte nur zu, wenn die anderen Mädchen sich unterhielten. Woher hätte ich wissen sollen, welcher Junge ‚süß‘ war und aus welchem Grund? Es war mir ein ständiges Rätsel, nach welchen Kriterien meine Klassenkameradinnen hier urteilten und weshalb sie ihre Zeit mit diesen Themen verschwendeten. Von solchen Dingen hatte ich keine Ahnung, und es langweilte mich entsetzlich, darüber nachzudenken. Ich bekam immer mehr das Gefühl, es verband mich nichts mit den anderen Mädchen. Die Dinge, die mich interessierten, nämlich vor allem Weihnachtsmärkte, Pläne aller Art und große Flughäfen, schienen für sie leider eher langweilig. Meine Klassenkameradinnen und ich passten nicht zusammen; das merkten sowohl sie als auch ich“ (Preißmann 2013, 19) – „Die anderen schauten eine damals beliebte Seifenoper für Erwachsene, hörten angesagte Musik und kleideten sich mit einer ganz bestimmten Marke. Ich schaute gerne Sesamstraße, hörte Kinderkassetten und zog Pullover mit Kindermotiven an“ (C. Meyer, in: Preißmann 2013, 23).

Die Betroffenen ziehen das Gewohnte vor (z.B. alte, bequeme Kleidung) und unterwerfen sich nicht der Mode. Oft sind sie ihrem Aussehen gegenüber ambivalent oder auch gleichgültig, meist wählen sie die Kleidung nach praktischen Gesichtspunkten und vor allem danach aus, ob sie ihnen angenehm und bequem ist. Schließlich sind viele Betroffene hoch sensibel auch bezüglich taktiler Reize und können steife, raue Stoffe auf ihrer Haut nicht ertragen (u.a. Preißmann 2005). Auch der Wunsch nach Beständigkeit spielt eine große Rolle, so werden unverwüstliche Materialien bevorzugt, ungeachtet der Frage, ob dies der aktuellen Mode entspricht oder nicht. Der „letzte modische Schrei“ ist ein Ausdruck, der vielen autistischen Frauen sowohl sprachlich als auch inhaltlich fremd ist. Auf die Klassenkameradinnen, die sie immer mehr ausgrenzen, wirken sie unreif und „uncool“: „Annas Vorliebe für klassische Musik und die Lektüre über das Leben von Mozart fanden die anderen Jugendlichen sicher ‚uncool‘. Anna zeigte auch kein Interesse an der Trendkleidung. Statt bauchfreier Tops trug sie Blümchenkleider, was ich durchaus mutig und selbstbewusst fand. Sie ist auf ihre Art und Weise ein hübsches Mädchen und in ihrer Natürlichkeit absolut authentisch“ (A. Schneider, in: Preißmann 2013, 67). Eventuell bestehende Freundschaften bröckeln oft in dieser Zeit, da autistische Frauen oft auf ihren zum Teil extremen Standpunkten verharren: „Ihre absolute Ablehnung von Fast Food und Alkohol kam bei den anderen nicht gut an“ (ebd.).

Die Veränderungen in der Pubertät bereiten Frauen mit Autismus oft große Schwierigkeiten. Die meisten Betroffenen fühlen sich daher gerade in den Zeiten des Erwachsenwerdens so fremd und allein wie selten zuvor, sie sind rast- und ruhelos und suchen nach ihrer Identität. Manche von ihnen wollen gar nicht wahrhaben, dass sie sich nun zu einer Frau entwickeln, sie würden es bevorzugen, ein Kind zu bleiben, weil in diesem Lebensalter die gesellschaftlichen Erwartungen noch eher zu erfüllen waren: „Ich erinnere mich, wie ich zu Hause das Fotoalbum mit ins Badezimmer nahm und die Tür schloss. Ich setzte mich auf den Fußboden und begann zu weinen, als ich die Bilder ansah, die mich als kleines Kind zusammen mit meinen Eltern zeigten. Ich wollte nicht erwachsen werden. Ich wollte mir nicht die Beine rasieren und keinen BH tragen müssen. Ich hasste meine Regelblutung, ich wäre so gern wieder ein kleines Kind gewesen“ (Hubbard 2010, 78; Übers. durch die Herausgeberin). Auch die notwendige Körperhygiene wird häufig zum Problem: „Hinzu kam, dass ich auch kein Verhältnis zur Hygiene entwickelte. Ich wusste beispielsweise lange nicht, was fettige Haare sind. Ich putzte meine Zähne nicht richtig, gerade der Umstieg auf Erwachsenenzahnpasta fiel mir schwer. Und ich wusch mich nur dann, wenn es unbedingt nötig war und man mich darauf hinwies. Ich verstand nicht, wozu dieser tägliche Aufwand gut sein sollte“ (C. Meyer, in: Preißmann 2013, 24).

Die zunehmenden gesellschaftlichen Erwartungen an eine Frau (gefühlsbetont, „hübsch“, bessere Impulskontrolle, Fähigkeit zum „Multi- Tasking“ etc.) können die Betroffenen in der Regel nicht erfüllen, werden oft als „kalt“, abweisend und zu intellektuell wahrgenommen. Andere Gleichaltrige dagegen definieren sich anders. Sie sind deutlich stärker auf körperliche Attraktivität fixiert als die Gleichaltrigen vor 30 Jahren: „Ich bin gern ein Mädchen, weil ich lange Haare habe, weil ich mich schminken, schöne Sachen anziehen und Fußkettchen tragen kann“ (Romberg 2012). Nach solchen Zeilen wird es verständlich, wie fremd und anders sich autistische Mädchen fühlen und dass es ihnen oft so gar nicht gelingt, sich mit dem „Frau-Sein“ zu identifizieren.

Hilfe und Unterstützung #

Die Tatsache, dass Mädchen und Frauen mit Autismus über mehr soziale Kompetenzen verfügen als betroffene Männer, bedeutet nicht, dass sie weniger Schwierigkeiten haben. Im Gegenteil, sie fühlen sich nur schlecht ausgerüstet, um das Leben als Erwachsene zu meistern; die Zukunft macht ihnen Angst und sie erleben ihren Alltag als brutal anstrengend. Es ist also wichtig, ihnen in jedem Lebensalter eine effektive Unterstützung anzubieten.

  • Oft profitieren die Betroffenen vom Trainieren sozialer Kompetenzen in Gruppen, wo insbesondere die Erfahrung, nicht allein zu sein mit den alltäglichen Problemen, wichtig und befreiend für sie sein kann.
  • Auch die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe speziell für betroffene Frauen wird als sehr hilfreich empfunden. Es ist wichtig, andere Frauen zu treffen, die dieselben Erfahrungen gemacht haben und von deren Lösungen man profitieren kann. Für die Betroffenen selbst und ihr soziales Umfeld sind ermutigende Berichte anderer autistischer Frauen sinnvoll, die nichts beschönigen, die aber doch zeigen, dass in jedem Lebensalter durch geeignete Maßnahmen Verbesserungen möglich sind (u.a. Preißmann 2012 und 2013).
  • Zusätzlich ist meist auch eine Einzeltherapie sinnvoll, Psycho- und Ergotherapie bieten Hilfe und Entlastung. Die Arbeit mit autistischen Menschen muss dabei langfristig ausgerichtet sein und erfordert viel Geduld. Man muss sich auf jeden ein zelnen Menschen individuell einstellen, mit ihm gemeinsam die eigenen Wünsche und Bedürfnisse berücksichtigen und die jeweiligen Lebensziele definieren und verfolgen. Maßstab für die Unterstützung kann also nicht „eine gewisse Norm“ sein, die zu erreichen „wünschenswert“ wäre. Es muss vielmehr genau dort nach Lösungsansätzen gesucht werden, wo die Betroffene selbst Einschränkungen erlebt (M. Miller, in: Preißmann 2013, 171).
  • Wichtig ist vor allem die ganz konkrete lebenspraktische Unterstützung; viele Kleinigkeiten, die andere Menschen ganz selbstverständlich beherrschen, müssen sich die Betroffenen mühsam aneignen. Das betrifft individuell zu entwickelnde Hilfen am Arbeitsplatz, im Hinblick auf Wohnmöglichkeiten, bei Freundschaften oder bei der gesellschaftlichen Teilhabe. Oft muss man der Betroffenen dabei helfen, individuelle Wünsche und Bedürfnisse auszubilden und zu entscheiden, was ihr gut tut. Das setzt das Angebot voraus, unterschiedliche Möglichkeiten kennen zu lernen und zu beurteilen. Frauen mit Autismus sind häufig zurückgezogen und isoliert, daher fehlt ihnen oft das Wissen über die Erfahrungen anderer Menschen, ihre individuellen Lebensweisen und die bestehenden Möglichkeiten, die man ihnen aufzeigen und für die man sie motivieren muss. Hier kann auch das Lesen von Biografien eine Hilfe darstellen.
  • Manchmal lohnt es sich dabei durchaus, auch kreative Lösungen anzustreben, die von den Vorstellungen und den Lebensentwürfen anderer Menschen abweichen. Einigen autistischen Menschen ist es auf diese Weise gelungen, ihr Glück in außergewöhnlichen Bereichen zu finden und ein erfülltes Leben zu führen. Viele autistische Mädchen und Frauen benötigen auch Hilfe bei der Entscheidung, wann sie versuchen möchten, sich an die gesellschaftlichen Konventionen anzupassen, um nach ihren Wünschen teilhaben zu können, wann sie andererseits aber auch auf ihre ganz eigene Weise glücklich werden können. Es ist wichtig, dies für jede einzelne Betroffene individuell herauszufinden.
  • Insgesamt ist es wichtig, nicht aufzugeben. Im Laufe der Zeit sind mit viel Geduld viele Verbesserungen möglich, die ein schönes und glückliches Leben ermöglichen: „In den letzten Jahren konnte ich die ruhigste und friedlichste Zeit meines Lebens verbringen. Mit der Unterstützung, die ich aktuell in Form von Psycho- und Ergotherapie erhalte, komme ich derzeit ganz gut zurecht und bin unendlich dankbar dafür. Heute ist es nicht mehr nur so, dass ich wie früher manchmal eine halbwegs erträgliche Zeit verbringen kann, sondern ich kann inzwischen sagen, ich führe jetzt im Großen und Ganzen ein gutes und glückliches Leben, das zu mir passt. Nach einer schwierigen und anstrengenden Zeit mit zwei Bandscheibenvorfällen und nachfolgend einer sehr schweren depressiven Phase fühle ich mich heute besser und leistungsfähiger als je zuvor. Im Rückblick sehe ich inzwischen, dass ich durch solche und ähnliche Prüfungen in meinem Leben sehr viel gelernt habe und mich stark weiterentwickeln konnte (...). Ich habe gelernt, kleine Freuden des Alltags zu genießen, auf meine Fähigkeiten zu vertrauen und mit meinen Schwierigkeiten zu leben (...). (Und) manchmal (bin ich) doch auch ein bisschen stolz auf das, was ich mit meinen Voraussetzungen geschafft habe. Ich konnte viele meiner Ziele erreichen, manche mit viel Mühe und Anstrengung, es wurde mir nichts geschenkt, ich habe sie mir größtenteils selbst erarbeitet. Und das macht dann schon auch ein bisschen zufrieden, glücklich und vor allem dankbar“ (Preißmann 2013, 105–106).

Zusammenarbeit aller Beteiligten verbessern #

Will man die Situation von Frauen mit Autismus verbessern, ist ein umfassendes Verständnis ihrer Situation, ihres Verhaltens und ihrer Besonderheiten notwendig. Dieses Verständnis lässt sich erreichen, indem man betroffenen Menschen zuhört und ihre Erfahrungen in zukünftige Maßnahmen einbezieht. Es ist wichtig, die Zusammenarbeit zwischen Menschen mit Autismus und ihren Angehörigen einerseits sowie den Fachleuten andererseits zu verbessern.

Notwendig sind Informationen über die Vielfalt autistischer Störungen für die Betroffenen selbst, ihre Eltern, Geschwister und andere Familienmitglieder, ihre Freunde, Schulkameraden, Arbeitskollegen oder Bekannte, aber auch für alle Fachleute, die mit autistischen Mädchen und Frauen zu tun haben, also Ärzte, Therapeuten, Pädagogen oder Sozialarbeiter, Ausbilder, Arbeitgeber usw. Schließlich liegt es an uns allen gemeinsam, eine Gesellschaft zu schaffen, die kreativ und innovativ, flexibel und unkonventionell genug ist, um auf die vielfältigen neuen Herausforderungen antworten zu können. Daran müssen alle Menschen beteiligt werden – diejenigen, die sich „normal“ verhalten, genauso wie alle, die durch ihr Denken und Handeln, ihr Verhalten und ihre Ideen besondere und außergewöhnliche Persönlichkeiten darstellen, die diese Welt bereichern.

Literatur#

  • Baron-Cohen S. Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn. München: Heyne; 2004
  • Faherty C. Asperger’s Syndrome in Women: A different Set of Challenges? Autism-Asperger’s Digest. Arlington: Future Horizons; 2002
  • Gawronski A, Pfeiff er K, Vogeley K. Hochfunktionaler Autismus im Erwachsenenalter. Verhaltenstherapeutisches Gruppenmanual. Weinheim: Beltz; 2012
  • Gould J. The lack of diagnosis of women and girls on the autism spectrum. In: Autismus deutsche Schweiz (Hrsg.): Autistische Störungen bei Mädchen und Frauen. Tagungsbroschüre. Zürich; 2011: 12–15
  • Grandin T. Ich bin die Anthropologin auf dem Mars. Mein Leben als Autistin. München: Knaur; 1997
  • Hubb ard K. Unwrapping the Mysteries of Asperger’s. Bloomington: Author House; 2010
  • Jenny B. Asperger-Syndrom bei Mädchen und Frauen. In: Autismus deutsche Schweiz (Hrsg.): Autistische Störungen bei Mädchen und Frauen. Tagungsbroschüre. Zürich; 2011: 4–11
  • PreiSSmann C (Hrsg .). Überraschend anders: Mädchen und Frauen mit Asperger. Stuttgart: Trias; 2013
  • PreiSSmann C (Hrsg .). Asperger – Leben in zwei Welten. Betroffene berichten: Das hilft mir in Schule, Beruf, Partnerschaft und Alltag. Stuttgart: Trias; 2012
  • PreiSSmann C. Psychotherapie und Beratung bei Menschen mit Asperger-Syndrom. 2., überarbeitete Auflage. Stuttgart: W. Kohlhammer; 2009
  • PreiSSmann C. …und dass jeden Tag Weihnachten wär. Wünsche und Gedanken einer jungen Frau mit Asperger-Syndrom. Berlin: Weidler; 2005
  • Romberg J. Die geteilte Kindheit. GEO 2012; 7: 42–51 Christine Preißmann

Buchcover

Überraschend anders – Mädchen & Frauen mit Asperger #

92 Seiten, 13 Abb., broschiert 19,99 Euro (D); 20,60 (A); 28,00 CHF Trias 2013 ISBN: 978-3-8304-6819-6 Wer sich noch intensiver mit dem Thema auseinandersetzen möchte, dem sei das neue Buch von Christine Preißmann „Überraschend anders – Mädchen & Frauen mit Asperger“ empfohlen. „Es ist das Beste, das ich je zum Thema gelesen habe“, schreibt eine Betroffene. Die Akzeptanz der autistischen Besonderheit, die sich anders äußert als bei Jungen, steht im Vordergrund. Das Buch enthält viele Beispiele gelungener Problemlösungsstrategien, jedes Kapitel schließt mit hilfreichen Tipps zur eigenen Alltagsbewältigung, aber auch zur Unterstützung durch Lehrer, Eltern, Freunde. Nicht einmal wird das Wort „Störung“ benutzt, womit sich das Buch wohltuend von anderen Publikationen abhebt.

Christine Preißmann

Die Autorin #

Dr. Christine Preißmann ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie und selbst vom Autismus (Asperger- Syndrom) betroffen. Durch Vorträge, Lesungen und Publikationen möchte sie über den Autismus in all seinen Facetten informieren und zu einem besseren Verständnis für die betroffenen Menschen beitragen.

Behinderte Menschen, Heft 4/5 - 2013