!!!Wie klingt Wien?


!!Was wirklich gute Schrammel-Musik original gewesen ist, lässt sich nur vermuten. Wie gut wirklich gute Schrammel-Musik sein kann, dürfen wir seit ein paar Jahren wieder erleben. Wienmusik: zwei Wiener Veduten.

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''Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: [Die Presse|http://diepresse.com] (Freitag, 29. Juni 2012)''

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Von

__Otto Brusatti__

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Die __Backstreet Boys__ des Vormärz. Alles begann wahrscheinlich im baffen Staunen während einer der wenigen, aber bedeutenden äußerlichen Umwälzungen für die europäische mehrstimmige Musik. Wiener Kongress, 1814/1815. Europa wurde neu geordnet und nach Aufklärung und Kriegszeiten ziemlich harsch in frische/alte Grenzen und Schranken gepresst. Aber erstmals kam es zu einem vergleichsweise kurzfristig angesetzten Austausch der Völker, ihrer Eigenheiten (vor allem anhand von Herrschsystemen und Gesinde), ihrer Musik. Denn viele Delegationen und deren Begleitmusiker brachten Stücke mit nach Wien oder wenigstens eine Kenntnis dieser, ihrer Spieltechniken und nationalen Eigenheiten. Es muss für die aufmerksame Junggeneration Wiens wie eine Überrumpelung, jedenfalls aber der gern zitierte, bis ins Geniale geleitende Tritt gewesen sein.

Wir haben nur einige (dann immer mehr) auskomponierte Quellen, seltsamerweise hingegen kaum Berichte, Erzählungen, nicht einmal Anekdoten darüber. Aber wir dürfen annehmen, dass sich die bestehenden Stadtensembles, geschult an Beethoven, Haydn oder Mozart sowie am höfischen Operngeschmack (also alleweil noch am italienischen, ehedem vor allem am französischen) und im Bedürfnis nach Tanz- und schematischer Unterhaltungsmusik sowohl praktisch als auch innovativ des fremden Angebotes bedienten, es bald auch an sich rafften. Die ersten Bandas, Tanzmusikgruppen und professionelle Kleinorchester stillten, wachsend und immer mehr Geld damit machend, das von den Kongressfeierlichkeiten und dem zunächst noch geduldeten Nachkriegsrummel geweckte, rasant steigende Bedürfnis nach verfügbarer U-Musik. Wer wollte da nicht Vergleiche ziehen zu knapp 100 Jahren später einem Fin de siècle oder zur Massenverfügbarkeit von Musik wieder kaum ein Jahrhundert danach im explodierenden Digitalen? 

Namen kennt man noch immer kaum. Wir sollten aber die kleinen Maestros und deren erste, ja doch, Discos in Wiener Vorstädten, Michael Pamer (im „Sperl“), Joseph Wilde („Weißer Schwan“), Johann und Joseph Faistenberger („Zum Schaf“) oder Mathias Schwarz („Schwarzer Bock“) für die Entwicklung von Musikeinsatz, -vermarktung, Bedürfnisweckung und Befreiung nicht gering ansetzen. Ganz im Gegenteil!

Sie trieben, erstmals öffentlich, professionell und für alle Schichten auf dieselbe Weise, das Aufschaukeln des Publikums mittels neuer Musik, mittels erwarteter Klänge, mittels sich verfeinernder Spielweisen und in Massendistribution voran. Sie lebten vor, was bis heute Fluch und Gnade für diesbezügliche Persönlichkeiten darstellt: Raubbau am Körper, Raubbau an der Seele, Antibürgerlichkeit jenseits damals noch starker gesellschaftlicher Schranken. Wer wollte nicht auch da Vergleiche ziehen zu später? Zu Film und Pop und volkstümlicher Massenmusik vor allem in den Medien? Standen damals vielleicht am Rand des Kongresses, als die fremden Kapellen musizierten, die Wiener miteiferten und all die vielen neuen Klänge und Rhythmen sprudelten, ein junger Schubert, ein 14-jähriger Lanner und ein noch jüngerer Strauss verblüfft neben den Ensembles, auf den Straßen vor den offenen Fenstern der Palais wie der Tanzschuppen, offenen Mundes, jedenfalls aber offenen Herzens?

Wir haben kein Biografiedetail davon, kein einziges. Dennoch, ihre Kompositionen der folgenden Jahrzehnte verraten sowieso beinahe alles. Jedenfalls, Wien befand sich (wieder einmal, wie schon so oft und wie später abermals oft) im Stadium eines Grundschubes. Die Metapher ist bewusst gesetzt. Eine ungeheure Kraft, ein Energiereservoire der neuen Art wurde gezündet; bald würden wie auf mehreren Raketenteilen die Menschen mit neuer Musik und vor allem mit neuer Musikkörperlichkeit in frische Un- und Endlichkeiten geschleudert werden.

Lanner – von seiner Person wissen wir noch immer sozusagen kaum etwas –, er trat den Tanzformationen bei. Es waren zumeist und zuerst rund zehn Musiker, Streicher und Bläser. 1822 arbeitete er mit/in den Kapellen der Musiker Pechatschek oder Drahanek, später mit den Innovatoren Scholl oder der Familie Fahrbach (alle bisher Genannten sind wesentliche, heute noch immer viel zu wenig gewürdigte Künstler Österreichs und Wiens gewesen). Bald machte er sich selbstständig. Bloße, einfache Kammermusik offerierte er zunächst, dieser Lanner, der bald selbst zu komponieren begann (wo hatte er, der spätere Virtuose und ein innovatives Genie, das gelernt?). Dann! Er holte um 1824 einen Neuen in seine Formation, einen drei Jahre Jüngeren, auch der ein angehender Virtuose, kompositionsbegabt, gern ein wenig im Hexenmeisteroutfit (was er zeit seines kurzen Lebens ausbauen würde), Johann Baptist Strauss, später, nach seiner Installierung der neben den Bachs berühmtesten Dynastie, „Vater“ genannt. Sein Erstgeborener, Johann, der Sohn, begann Mitte der 1840er dasselbe in Vaterkopiatur und als Lanner-Nachfolger. Eine Mischung: Ödipuskomplex, Geschäftsabsprachen und Generationenkonflikt mit allerhöchsten künstlerischen Ergebnissen.

Was sich sodann in den folgenden zwei Jahrzehnten und bis ins Revolutionsjahr 1848 entwickelte, darüber ließen sich feine Romane schreiben. Es war die Grundlegung dessen, was heute weltweit die Massenmusik vor allem ist: Unterhaltung, Divertissement, Ideologie der Selbstbefreiung, Eigen- und Gegenwelt. In Rasanz trieben Lanner/Strauss ihre Musikausschüttung über die Massen und für alle Stände voran – vom Proletariat bis zum Kaiserhaus. Es war Bedürfnisweckung und Bedürfnisbefriedigung mit stets frisch nachgelieferter und virtuos dargebrachter Musik (in den parallelen Virtuosenzeiten von Rossini, Paganini oder Liszt, im Biedermeier mit den außerhalb von Musikkonsum und Tanz strengen Alltagsregeln, mit der hereinbrechenden Volksmusik als Katalysator). Es war und blieb: Aufforderung zur Bewegung. Musik als Refugium.

Strauss/Lanner, die anderen: Sie machten erstmals mit so einer Musik viel Geld, live präsent oft täglich und mit immer besser werdenden Ensembles. Man unternahm von der Presse bejubelte Europatourneen, tätigte Geschäfte (Spezialauftritte, Notenverkäufe). Es war vergleichbar der Popmusik nach 1960. Strauss/Lanner: Sie erreichten beide nicht einmal ihre Fünfziger. Alkohol, Backstage-Leben, Groupies – auch das „erfand“ man mit neuer U-Musik.

Apropos Strenge der Zeit, ja überhaupt gesellschaftliche Zwänge und deren Überwindung mit Musik: Das Angebot im Tanzhaus (in der Biedermeier-Disco) war neu, spannend. Um als Frau/Mann den Rhythmen entsprechen zu können, um Walzer und Polkas mitzumachen, musste man sich aneinander festhalten. Frau/Mann konnten sich – in der Öffentlichkeit! – so nahe kommen, so aneinander sein, wie höchstens daheim im versperrten Schlafzimmer erlaubt. Voll geplant und mitbewegt durfte man sogar, wenn sich die neue Tanzmusik in rasante Bereiche hinaufzuschrauben anschickte, im Galopp durch die Räume rasen, aneinander geklammert.

Und dann, wenn schon nicht übereinander her-, so doch mindestens hinfallen.

__Die Mikulas.__ Wirklich gute Schrammel-Musik? Tja, die kam erst um 2000 wieder. Was wirklich gute Schrammel-Musik original gewesen ist, lässt sich sowieso nur vermuten (Wien-Klang/Lebensgefühl zwischen Nostalgie und Bewältigung von Fortschrittsängsten). Was Schrammel-Musik dazwischen war? Massenware, schäbiger Tourismuskommerz, spieltechnische Mängel, sauschlechte Wien-Klischees mit Alkoholismus und Proletenbewusstsein. Noch immer wird in Deutschland mit „Schrammeln“ vordergründiges, mies-aufputschendes, ein die Bürgerschaften verwirrendes Musizieren bezeichnet.

Schrammel-Musik ist um und nach 2000 wieder Basis für Innovatives geworden, für gekonnte Neukompositionen, für Quartette, welche die Konkurrenz mit dem klassischen Fach nicht scheuen, ja sogar suchen. Schrammel-Musik einst? Fakten werden liebevoll tradiert, die von den legendären Brüdern, ihren Musikgenossen, von Instrumenten und Stimmen. Abstammung: hohes Waldviertel, gemixt mit Böhmen und Wienerischem in fast 100-jähriger Tradition, veredelt vor allem durch Joseph Lanner (seine Stücke waren am Beginn der Schrammeln das zentrale Repertoire), die Dynastien Fahrbach oder Strauss und Adepten. Die Musikfamilie: Johann, geboren 1850, und Josef, geboren 1852, studierten am Wiener Konservatorium unter anderem bei Hellmesberger (eine Spitzenausbildung für Geiger); 1878 ging es mit Anton Strohmayer (1848 bis 1937, Kontragitarre) ins Terzett, mit Georg Dänzer (1848 bis 1893, Klarinette, picksüßes Hölzl) ins Quartett, 1891 noch durch die Knopfharmonika im Klang wesentlich erweitert; rasanter Aufstieg sukzessive mit Eigenkompositionen (vor allem von Johann, Josef war der Primgeiger); Parallelensembles; künstlerisches Hochlizitieren mit Volkssängern, Dudlern, Fiakersängern et cetera; bald Akzeptanz in politischen (Kronprinz Rudolf, Bismarck), philharmonischen oder Komponistenkreisen (Brahms, Strauss, Schönberg); ab 1888 Tourneen (Deutschland, Monarchieländer), die Nachfolgeensembles bald in die USA.

Die Geschichte der beiden Schrammeln ist erst zum Teil geschrieben. Es wäre ein Tatsachenroman, der vieles in den Schatten stellte. Er handelte neben oft überraschendem Biografischen (Johann, Pessimist, Zweifler, witziger Schriftsteller, Schrammelmusiker im körperlichen Raubbau, beide Brüder starben 43-jährig), Zeitbezogenem (Ringstraßenära, Gastspiele, Josef nahm zum Beispiel als 17-Jähriger an einer Mittelosttournee mit Wiener Musik teil, in skurrilen Erinnerungen an Serails oder Ägypten) und über den Aufbau einer Wiener Musikszene zwischen Vorstadtetablissements und hohen Adelskreisen; vor allem von der Musik mit drogenhafter Wirkung.

Wienmusik ab 1880 wurde – auch durch das Komponieren und Auftreten derSchrammeln mit virtuosen Nachfolgeensembles – weltweit vergleichslos als: Tradition aus Klassik/Vorklassik, besonderer Tanzmusik seit 1810, mit Operetten/Wiener Liedern als befruchtenden Bereichen und Neuem, vergleichbar den Spitzenwerken der Kammermusik. Es wuchsen Biotope, heute kaum mehr bekannt, Tausende Lieder, Ensembles, Chansons, Dudler; Leute wie Wiesberg, Lorens, Pick, später Katscher, Gruber, Sieczynski waren melodiöser als halbe andere Kontinente; von den Parallelgestirnen zu goldenen und silbernen Wiener Ären nicht zu reden, nämlich von Fall oder Eysler, Komzák oder Jurek oder den Militärmusikkapellmeistern. Den Schrammel-Originalen ging es wie Wiener Liedern oder Wiener Operetten zwischen Bühne und frühem Musikfilm, wie der breiten U-Musik an sich. Man reduzierte das Repertoire radikal. Der immer enger, oft schäbiger werdende Publikumsgeschmack behauptete sich. So geschah es beinahe das ganze 20. Jahrhundert hindurch, dass ein Bruchteil in den Programmen blieb, egal ob in Medien, Etablissements.

Man beklagt, dass die Musikpraxis auf kaum 100 Titel zusammenschmolz. Bibliotheken und Sammlungen verwahren noch immer Tausende an Arrangements und Kompositionen, die zeitbezogen, aber musikalisch/textlich solitär der Wiederentdeckung harren. Es sind virtuose Gesangssoli mit vielen Möglichkeiten an Accompagnements, Schrammel-Kammermusik, hervorragend gestylte Bühnenhits und oft höchste Spielkunst voraussetzende Arrangements aus Opernoder Symphonischem (reichend von den Zugoperetten bis zu „Parsifal“, „Tristan“, „Rosenkavalier“).

Zweit- und Drittgenerationen nach den Original-Schrammeln und deren Umkreis haben viel zur Verwässerung desStils beigetragen (wie das in jedem neuen Genre passiert). Aber es reihten sich auch Gleichwertige hinzu. Zum Exempel der Einschub: die Brüder Mikulas.

Auch hier sei – in voller Ansehung der Größe dieser Leute – im Telegrammstil erzählt. Josef Friedrich (1886 bis 1976) und Karl (gestorben 1948), Instrumentalisten aus Wien, in Militärmusikverbänden, auf Europatourneen, vor allem der Ältere ein fabulöser Komponist, in Schrammel-Quartetten und -Trios, Stars der Zwischenkriegszeit (geschätzt von Richard Strauss, Backhaus, Kubelik), auch in den Jazz sich erweiternd, im Film, im Rundfunk. Dichte Leben waren das in vielen Verbindungen. Allein, Ähnliches gab/gibt es in Österreich/Wien im überreichen Ausmaß. Doch vor allem Josef war mehr. Als Komponist von mehr als 100 Werken ist jemand noch immer zu entdecken; es geschieht erst sukzessive; eine Musik, die zum Teil nur mehr mit den Kammermusik-Spitzen nach Brahms verglichen werden kann.

Vielseitig, verblüffend, Astronom,Stempelschneider, Kräutersammler, Astrologe, Katzenheim-Einrichter. Aber mehr – man lese in seiner Musik nach! Er komponierte Akkorde mit acht Tönen – wie in Mahlers Zehnter; man nannte ihn den „Beethoven der Volksmusik“. Kein sonst kluges Lexikon nennt ihn heute. Wann kommt die Mikulas-Renaissance? Von denmehr als 200 Werken der Schrammeln existiert kein Katalog (ein Schrammel-Köchel) oder eine gute Noten-Ausgaben. Um 1980 wurde das zwar als Privatinitiative in Angriff genommen, nach ersten Publikationen scheiterte alles. Ohne öffentliche Subventionen war es trotz Engagements nicht leistbar. Kulturabteilungen und zuständige Ministerien reagierten schon auf Minimalansuchen indigniert.

Man stelle sich vor, andere (Stadt/Land) hätten Schrammeln und Nachfolger als kaum gehobenen Kulturschatz. Doch die Schrammeln sind in ausgezeichneter Gesellschaft. Österreich/Wien ermöglicht auch keine Gesamtausgabe für Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Berg, Webern und andere mehr. Die Edition der Noten/Verzeichnisse Lanners und der Sträusse geschieht nur nach geschäftsbefördernden Richtlinien.

Wien/Österreich suhlt sich im größten Musikschatz der Welt. 

(Es entwickelte sich aber eine erfreulich neue Szene. Sie reicht von Live-Musik bis zu Neukompositionen, von – nur um einige Ausgewählte zu nennen – den „Neuen Wiener Concert Schrammeln“ über „Mischwerk“ bis zu „Trio Lepschi“.)

Dass man etwa in den Mahler-Jahren 2010/2011 selbst die geringen Zuschüsse für einen Notendruck seitens des sogenannten Ministeriums für Unterricht/Kultur/Kunst/et cetera gestrichen, dass man zugleich die Teilsubventionierung für die Herausgabe der Schriften Schönbergs eingestellt hat, das macht es noch pikanter, absurder, aber tatsächliche Musikmenschen Österreichs irgendwie verzweifelt-stolz. 

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[Die Presse|http://diepresse.com] (29. Juni 2012)
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