Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Erwin Chargaff (1905−2002)#

Biochemiker und Wissenschaftskritiker#

von Isabella Ackerl

Chargaff: „Science is wonderfully equipped
to answer the question ‛How?‛
but it gets terribly confused
when you ask the question ‛Why?‛.”

Erwin Chargaff entdeckte einen der grundlegenden Bausteine der menschlichen Erbsubstanz. Ohne seine Entdeckung, dass der genetische Code aus einer Folge komplementärer Nukleinsäuren besteht, wäre die heutige genetische Forschung nicht möglich. Und doch wurde er zu einem der heftigsten Kritiker der Grenzenlosigkeit wissenschaftlichen Forschens. Obwohl er die grundsätzlichen Erkenntnisse zur Aufstellung der Doppelhelix für die Genforschung lieferte, erhielt er nie den Nobelpreis − was ihn zeitlebens schmerzte. Er wurde so alt wie sein Jahrhundert und widmete seine zweite Lebenshälfte der Kritik an einer Wissenschaft, die meint, ohne ethische Grenzen auskommen zu können.

Erwin Chargaff wurde am 11. August 1905 in Czernowitz (damals noch Österr.- Ungarische Monarchie, heute Ukraine) als Sohn des jüdischen Bankiersehepaares Hermann (1870-1934) und Rosa Chargaff (1878-nach 1943), geborene Silberstein, geboren. Der Vater war ein überzeugter Anhänger des Habsburgerstaates. In Chargaffs Elternhaus galt der klassische Bildungskanon als verbindlich. Der Vater las viel, seinen Bücherschrank zierten 24 Bände von Meyers Konversationslexikon und Prachtausgaben der Klassiker der Literatur. Der Musikgeschmack wurde von der Wiener Klassik dominiert. Chargaffs musikalische Idole waren daher Franz Schubert und Wolfgang Amadeus Mozart. Schon im Alter von zehn Jahren besuchte er Nachmittagvorstellungen in der Wiener Volksoper. Seine Eltern gewährten ihm ein kleines Taschengeld, das er komplett in den Ankauf von Büchern investierte. So kaufte er sich sämtliche Werke des heute fast völlig vergessenen Autors Theodor Körner. Neben Johann Wolfgang Goethe waren Knut Hamsun und Søren Kierkegaard seine bevorzugten Autoren.

Den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte Erwin mit seinen Eltern im Ostseebad Zopot, wo sich auch die jüngeren Söhne Kaiser Wilhelms beim Tennisspielen vergnügten: Plötzlich warfen alle auf eine Nachricht hin ihre Rackets weg und liefen davon. Der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand war in Sarajewo ermordet worden! Chargaffs Eltern konnten nach Ausbruch des Krieges nicht mehr in die Bukowina zurückkehren, da Czernowitz von der russischen Armee besetzt wurde. So ließ sich die Familie mit Hilfe eines Onkels in Wien nieder. In der Reichs-Haupt- und Residenzstadt besuchte Erwin das Gymnasium im neunten Bezirk und studierte nach einem kurzen Versuch, an der philosophischen Fakultät auch Literatur zu belegen, an der Wiener Universität Biochemie. Für ihn war es die sympathischeste Wissenschaft, da sie es ihm ermöglichte, möglichst bald auf eigenen Füssen zu stehen. Denn das Vermögen der Eltern, das in Kriegsanleihen investiert worden war, war verloren. 1921 wurden die Kriegsanleihen der Familie zurückgekauft, damals hatten sie den Wert einer Straßenbahnfahrkarte. Die Familie war also verarmt. 1928 schloss er sein Studium mit dem Dr. phil. ab. Zuvor hatte er eine Dissertation über Silberkomplexe vorgelegt.

Politik interessierte den Studenten Chargaff eigentlich nicht, sie war ihm zu „dumm“. Er verfolgte wohl in der Zeitung „Neue Freie Presse“ die Ereignisse der Russischen Revolution. Die Demonstrationen des 15. Juli 1927, die mehr als 90 Menschen das Leben kosteten, begleitete er als kritischer Augenzeuge. Emotional stand er auf der Seite der Demonstranten, doch sein Urteil über die österreichische Sozialdemokratie war nicht gerade schmeichelhaft. Er widmete ihr einen Aphorismus: „Sozialdemokratie: im Fall von Regen findet die Revolution im Saale statt.“

Karl Kraus hatte Chargaff bereits etwa 1916 im Hause seines Onkels kennen gelernt, wo er eine zensurierte Nummer der Zeitschrift „Die Fackel“ entdeckte. Daher waren seine bevorzugten Vorlesungen die Lesungen von Karl Kraus, dessen Zeitschrift „Die Fackel“ der Student Chargaff mit Begeisterung las. Später bezeichnete er den Sprachmagier als seinen „einzigen Lehrer“. Kraus verdankte er auch die Kenntnis und Wertschätzung der Werke Johann Nestroys. In den Schriften seines Meisters entdeckte er auch die Figur des „Nörglers“, die er für sich in Anspruch nahm, um seine Zweifel und Bedenken gegen den Wissenschaftsbetrieb zu äußern. 1963 widmete er den Band „Essays on Nucleic Acids“ dem Andenken von Karl Kraus.

Seit seinen Studententagen war er mit dem späteren geistvollen Kulturwissenschaftler Albert Fuchs befreundet. Er genoss während seiner Studienzeit die Tatsache, dass es „lebhafte und abenteuerlustige Leute“ gab. Doch nährte er auch ein gewisses Misstrauen gegen „geistige Wolkenkratzer“, wie etwa Otto Weininger, eines der Idole seiner Generation.

Zwischen 1928 und 1930 lernte er als Stipendiat in Yale den amerikanischen Wissenschaftsbetrieb kennen. Er hatte sich erfolgreich um ein „Milton Campbell Research Fellowship in Organic Chemistry“ beworben. Während seines Aufenthaltes in Yale erhielt er 2.000 Dollar im Jahr. Das Reisegeld von 200 Dollar für die Überfahrt streckte eine Wiener Tante vor. Bei seiner Einreise nach Amerika musste er wie viele Reisende auch Ellis Island (zwischen 1892 und 1943 die deprimierende Zwischenstation für alle Amerika-Immigranten) kennen lernen, wurde aber durch eine Intervention der Universität schnell wieder auf freien Fuß gesetzt. Er meinte dazu, dass man damals mit dem Phänomen der „post-docs“, d.h. der graduierten Forschungsstipendiaten noch nicht so recht vertraut war. In Yale betrieb er Forschungen über die Lipide des Tuberkulosebakteriums. Insgesamt veröffentlichte er bis 1930 sieben Forschungsarbeiten, u.a. zu Fettsäuren und Tuberkelbazillen. Noch vor Ablauf seines Stipendiums bemühte er sich um eine Anstellung in Zürich oder Moskau, erhielt aber keine Antwort.
1930 wurde ihm in Berlin bei Otto Hahn am Kaiser-Wilhelm-Institut eine Assistentenstelle angeboten, wo er auch habilitierte. In Berlin fühlte er sich wohler als in Amerika, die Stadt erschien ihm weltoffener, das Kulturleben war glanzvoll. Es war für ihn ein „Paradies der Naturwissenschaften“. Gemeinsam mit Otto Hahn arbeitete am Gutachten für den so genannten „Lübeck-Prozess“. Dabei ging es um den Tod von Säuglingen, denen anstelle von BCG-Vakzin angeblich aktive Tuberkelbazillen verabreicht worden seien. Chargaff und Hahn konnten den Vorwurf entkräften. Die schwierige politische Situation in Deutschland interessierte ihn eigentlich nicht: „Ich war kein politischer Kopf“, sagte er später über diese Jahre. Er dachte auch, dass der „Spuk“ der Nationalsozialisten bald vorbei sein würde.

Als 1933 in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen, emigrierte Chargaff, der zuvor nie jüdisches Bewusstsein − er formulierte dies später mit den Worten „Hitler machte mich zum Juden“ − entwickelte hatte, nach Paris an das Institut Pasteur, zwei Jahre später nach New York, wo man ihm nach einem kurzen Zwischenspiel (1934/1935) am Mount-Sinai-Hospital eine Stelle an der Columbia University offerierte. Von Amerika aus versuchte er seine 1938 von den Nationalsozialisten verhaftete Mutter zu retten, es war ihm unmöglich. Ihre Spur verlor sich in Treblinka oder Auschwitz. Nur seine Schwester um fünf Jahre jüngere erhielt rechtzeitig ein Visum nach Amerika.

1936 entdeckte er in Amerika eine bis in die achtziger Jahre verwendete Methode zur Behandlung der Blutgerinnung. 1952 erhielt er eine Professorenstelle, von 1970 bis 1974 leitete er das Department for Biochemistry. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bemühte sich Chargaff um eine Stellung in der Schweiz, weil er aus Entsetzen über den Bombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki, wegen des „Nexus zwischen Wissenschaft und Mord“ die Vereinigten Staaten verlassen wollte. Doch vergeblich.

Während seiner Jahre an der Columbia University, der er zeitlebens die Treue hielt, veröffentlichte er etwa 300 Arbeiten zur Biochemie. Als er das in Amerika übliche Pensionsalter erreichte, hatte ihn die Columbia Universität mehr oder minder hinausgeschmissen, von einem Tag auf den anderen wurden die Schlösser ausgetauscht. Zahlreiche Seperata und Präparate wurden einfach weggeschmissen. Ja, man beging sogar die Gedankenlosigkeit, ihm ein halbes Jahr später das Ehrendoktorat zu verleihen. So bleibt er auch in seiner persönlichen Verletzlichkeit, in seinem Festhalten an Gepflogenheiten und gutem Benehmen ein in Amerika heimatloser Europäer.

An der Columbia University erforschte er auch Lipoproteine; ab 1944 widmete er sich der Zusammensetzung von Nukleinsäuremolekülen. Dabei entdeckte er die nach ihm benannte Regel, dass die vier Bausteine (Nukleotide) Adenin und Thymin, sowie Cytosin und Guanin jeweils als Paar und in gleicher Menge innerhalb derselben Art auftreten. Jeweils zwei der Bausteine kommen im exakt gleichen Verhältnis zu einander vor. Damit schuf er die Voraussetzung zur Aufstellung des Doppelhelix-Modells durch die beiden Wissenschaftler James D. Watson und Francis H. C. Crick. Er berichtet dazu, dass anlässlich seines Besuches in Cambridge die beiden jungen Wissenschaftler ihn zu allen Details seiner Arbeit befragt hätten. Auf ihn hätten sie keinen besonderen Eindruck gemacht, er meinte sogar, dass er von deren fehlendem Grundlagenwissen peinlich berührt gewesen wäre. Watson und Crick ihrerseits erwähnten nie das entscheidende Gespräch mit Chargaff, voll beißender Ironie nannte er dies „Marktwirtschaft“. Jedenfalls erhielten die beiden 1962 den Nobelpreis für Chemie, Chargaff ging leer aus.

Chargaff hielt auch zahlreiche Gastvorlesungen in Stockholm (Schweden), in Japan und in Rio de Janeiro, Sao Paulo und in Paris am Collège de France.

Als Fachkollegen sich daran machten, die DNA in neuen Kombinationen zu generieren, stieg Chargaff aus der Biochemie aus. Die „Schrecken erregende Unwiderruflichkeit“ ließ ihn vor dem Fach zurückschrecken, nun erhob er seine warnende Stimme gegen die „genetische Bastelsucht“. Geschrieben hatte er schon als Student, allerdings vorwiegend Lyrik. Als Emeritus publizierte er in den folgenden Jahren zahlreiche Bücher, Artikel und vor allem Essays, die sich höchst kritisch mit seiner Wissenschaft, der Biochemie, aber auch mit der Atomwissenschaft auseinandersetzten. Für ihn fand der Sündenfall der Wissenschaft in den sechziger Jahren statt. Exakt 1960 fand ein Ciba-Kongress unter dem Titel „Man and ist future“ statt, bei dem manche Wissenschaftler Träume bzw. Horrorvisionen äußerten, die ihm Angst machten. Man könnte Menschen züchten, die stress-resistent sind, die mit einem speziellen Finger, um damit auf einen Knopf zu drücken, ausgestattet sind oder Menschen, die sich wie Schimpansen bewegen. All das nannte er einen „Musterkatalog der Hölle“. Er lehnte prinzipiell die Forschung an menschlichen Embryonen ab, damit würde der Wissenschaft die Seele abhanden kommen.
Er war ein brillanter Stilist, dessen Wortgewalt und Wortdeutlichkeit, d.h. er nahm sich kein Blatt vor den Mund, die Schule eines Karl Kraus nie verleugnete. Er bezeichnete Naturwissenschaftler als „gaunerische Marktschreier“, in der Wissenschaft herrsche „das laute Geschrei des amerikanischen Reklamebetriebs“, „der kategorische Superlativ“. Immer wieder beklagt er, dass die Wissenschaft den Respekt verloren habe. „Kein Wissenschaftler weiß, was das Leben ist, und niemand wird es je erklären können. Es ist ein ewiges Mysterium. … sie hauen der Natur auf den Kopf und spüren nicht, dass sie sich selbst auf den Kopf hauen. … sie wollen den Tod besiegen, das ist teuflisch …“ (Erwin Chargaff in einem Interview in der Zeitschrift stern im November 2001).

Das Verhältnis von Wissenschaft und Tod hat Chargaff viele Jahre beschäftigt, er meint, dass uns die „Kunst des Sterbens … abhanden gekommen“ sei. Die Menschen wollten ewig leben oder doch zumindest den Tod exakt prognostiziert haben. „Der Mensch soll aber nicht wissen, was die Zukunft bringt. Sie kommt sowieso − und schnell genug. Das Nichtwissen ist eine Gnade, Ungewissheit ist das Salz des Lebens.“

Einer der für ihn typischen Essays aus dem Jahre 1997 trägt den Titel „Bioethik und andere Missetaten“, in diesem Artikel zieht er grundsätzlich ein quasi als Mode neu kreiertes Fach wie Bioethik in Zweifel. Schon die Tatsache, dass es einer speziellen Ethik, also einer Ethik mit Präfix bedürfe, veranlasste ihn zu spitzen Bemerkungen. Es argumentiert weiter: „Die Welt war immer weit offen für Scharlatane, aber in der heutigen Medizin und Genetik haben sie ihr wahres Klondike gefunden, besonders wenn man die tiefen Taschen der Pharmaindustrie und die noch immer viel zu spendefreudigen Regierungsinstitutionen in Betracht zieht.“ Sein Ceterum censeo lautet: „Wie lange noch, bis wir den ersten patentierten Menschen begrüßen und beklagen können?“ Und er meint weiter: „Diese Welt ist uns nur geliehen. Wir kommen und wir gehen; und nach einiger Zeit hinterlassen wir Erde und Luft und Wasser anderen, die nach uns kommen. Meine Generation und vielleicht die der meinen vorhergehende hat als erste, unter der Führung der exakten Naturwissenschaften, einen vernichtenden Kolonialkrieg gegen die Natur unternommen. Die Zukunft wird uns deshalb verfluchen.“ Um nicht dem Grundsatz „Fiat scientia et pereat mundus“ (Es soll geforscht werden, auch wenn darüber die Welt zugrunde geht.) Tür und Tor zu öffnen, erhebt er sechs Forderungen, an die sich ein ethisch handelnder Biochemiker zu halten hätte, gleichsam eine Magna Charta seiner Wissenschaft:
„ 1. Es dürfen keine Versuche ausgeführt werden, bei denen auch nur der entfernteste Verdacht besteht, dass sie zu irreversiblen Schädigungen der Natur führen können.
2. Die Einführung fremder Gene in Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen und insbesondere in als Genußmittel dienende Pflanzen ist nicht gestattet. Bereits vorliegendes Material dieser Art wird sofort vernichtet. Der Einwand, daß auf diese Weise viele Forscher ihre Arbeitsgebiete würden aufgeben müssen, wird nicht akzeptiert.
3. Lebewesen dürfen nicht patentiert werden. Bereits erteilte Patente dieser Art müssen gesetzlich außer Kraft gesetzt werden.
4. Aus Organen von Lebewesen hergestellte Substanzen sind nicht patentfähig. Dies gilt auch für deren Abbauprodukte, z.B. die aus Nukleinsäuren stammenden, oft als Gene bezeichneten Oligonukleotide. Alte bereits erteilte Patente dieser Art werden aufgehoben.
5. Kein Forscher darf aus der Patentierung naturgegebener Vorgänge Gewinn ziehen. Eine weitere, besonders in den Vereinigten Staaten wichtige Maßnahme gehört in den gegenwärtigen Zusammenhang. Manche von uns haben viel dagegen einzuwenden, daß ein Teil der von uns beigetragenen und an die Forschung vergebenen Steuergelder für von uns verabscheute Zwecke verwendet wird. Ich denke nicht, daß die folgende indirekt bremsende Maßnahme auf viel Widerstand stoßen würde.
6. Resultate der durch öffentliche Mittel unterstützten Forschungen dürfen nicht patentiert werden. Da die Hoffnung auf ein lukratives Patent viele reprobierwürdige Forschungen befeuert, wäre diese Regel ein wirksamer Hemmschuh.“

Letztlich war er davon überzeugt, dass die Natur stärker sein werde. Geradezu beklemmend ist seine Zukunftsvision: „Schauen Sie, wie viele Spezies, Rassen oder Tierarten ausgestorben sind. Und die Natur wird sich auch des Menschen entledigen. Die Natur ist größer als der Mensch, sie braucht keine Kenntnis von ihm zu nehmen. Die Natur geht einfach weiter.“

Sehr kritisch stand er auch dem amerikanischen System gegenüber, das die Wissenschaft leicht durch Kapital korrumpiere. Er behauptete, dass viele Wissenschaftler öfter mit Patentanwälten Gespräche führten als mit ihren Studenten. Er hielt sowohl die Spaltung des Atomkernes für eine Grenzverletzung mit katastrophalen Folgen, als auch den Eingriff des Menschen in den Zellkern für eine ethische Missetat. Für ihn waren die wichtigen Parameter für den Zivilisationsstand einer Gesellschaft, wie sie mit ihren Kindern, mit den Alten und mit den Bäumen umgeht. Seiner Ansicht nach hätten die Amerikaner Angst vor dem Alter. „ … als ich als junger Mann nach Amerika kam. Es war ein Land krampfhafter Jugendlichkeit, in dem das Altern als eine ansteckende Krankheit gefürchtet wurde.“
Chargaff lebte seit seiner Emigration aus Europa immer in New York, 64 Jahre in derselben Straße, 37 Jahre sogar in derselben Wohnung. Er war also hochgradig sesshaft. Überaus wichtig war ihm seine Bibliothek, die Weltliteratur in mehreren Sprachen enthielt. Er sprach neben Deutsch auch Englisch, Französisch und Italienisch. Er las Literatur in den Originalsprachen, noch im hohen Alter begann er mit seiner Frau gemeinsam Russisch zu lernen, um Tolstoi im Original lesen zu können. Seine Bibliothek hat Chargaff übrigens der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien vermacht.

Chargaff war seit 1929 – er hatte in Amerika geheiratet – mit Vera Broido vermählt, die er im chemischen Labor an der Wiener Universität kennen gelernt hatte. Nach ihrem Tod 1995 nach 66 Ehejahren stellte er die schriftstellerische Arbeit ein: „Mit ihr habe ich das Leben verlassen.“ Seine Frau war seine „Gegenstimme“ gewesen. Als die verstummte, entschied auch er sich für das Schweigen. Aus seiner Ehe stammt der 1938 geborene Sohn Thomas, der bis zu seiner Pensionierung 1991 bei der Mordkommission in Los Angeles tätig war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg besuchte er mehrmals Österreich und Wien, verbrachte Urlaube in Altaussee, aber seine ursprüngliche Heimat war ihm fremd geworden. Nie verstand er, wie ein Mensch wie Adolf Hitler, der auf ihn wirkte, „… wie ein geistesgestörter Provinzfriseur, der ein paar Abendkurse besucht hatte“, seine Zeitgenossen von einem nicht vorhandenen Charisma überzeugen konnte.
Chargaff wurde international vielfach geehrt, die Universitäten Basel und Columbia verliehen ihm Ehrendoktorate, 1963 wurde ihm der Charles Leopold Mayer-Preis verliehen, 1964 der Dr. H. P. Heineken Preis der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften in Amsterdam. 1975 wurde er mit der National Medal of Science ausgezeichnet, 1984 wurde ihm der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt überreicht, 1994 erhielt er das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst und den Würdigungspreis der Stadt Wien.
Chargaffs Leben umfasst einen großen Spannungsbogen, vom Top-Forscher der Biochemie zum vehementesten Kritiker seines Faches, vom agnostischen Naturwissenschaftler zum Soziologen, der ein wichtiges Dilemma des Menschen im 20. Jahrhundert erkannt hatte: „Der Mensch war vielleicht glücklicher, als er von Geheimnissen umgeben war, als Geburt und Tod, Leben und Nachleben, als all das Geheimnisse waren, sie waren Nebel, sie waren Wolken. Heute liest man das alles in der Zeitung.“ (Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung)

Chargaffs verklärende retrospektive Sicht wurde von seinen Wissenschaftskollegen vielfach kritisiert. Paul Berg, selbst Nobelpreisträger, und andere meinten: „Wir sind tief bestürzt über die Verzerrungen, den Hohn und den Pessimismus, die Chargaffs Kommentare zur Gentechnik prägen.“ Ende der siebziger Jahre konstatierten führende Fachkollegen, dass es unmöglich sein werde, dass Laborstämme durch gentechnische Experimente in gefährliche Krankheitserreger umgewandelt werden können. Bis jetzt haben sie Recht behalten. Es ist noch nicht gelungen „ … Gott zu spielen …“ Und doch war Chargaffs kritische Stimme, wenn auch manchmal überzogen in ihrer beißenden Ironie und in seinem spöttischen Kommentar, ein unersetzlicher Beitrag, ja tatsächlich ein Anstoß darüber nachzudenken, dass Wissenschaft Grenzen in ethischer Verantwortung ziehen muss. Chargaff selbst empfand sich zwischen den Zeiten lebend. „Die erste Hälfte meines Lebens war die altmodische Naturwissenschaft, das Ende meines Lebens sieht eine ganz andere Naturwissenschaft, eine explorative, ausbeuterische, störende, vernichtende.“ Sein Rezept für die Forschung lautet: „Weniger Geld! Zuviel Geld wird für die Anschaffung von Instrumenten, für die Entwicklung immer neuer, immer teurerer Instrumente verbraucht.“
Ende der neunziger Jahre dokumentierte die Welser Filmemacherin Ebba Sinzinger Erwin Chargaffs Leben in New York. Dabei erörterte sie beispielhaft an seinem Werdegang die Grundfragen dieses 20. Jahrhunderts − Chargaff nannte es eines „… der abscheulichsten Jahrhunderte … „: Verlust der Heimat und damit einer gewohnten, internalisierten Umwelt und Gesellschaft, die Dominierung unseres Lebens durch den Primat der Naturwissenschaften samt ihren segensreichen wie fluchwürdigen Erkenntnissen und schließlich die fundamentale Kritik an eben diesen Naturwissenschaften.
Als ihn Journalisten der Wiener Zeitschrift „Die Furche“ im Jahr 2001 interviewten, stellten sie ihm wieder die Frage nach der Heimat und wollten wissen, ob es für ihn eine Heimat gäbe. Seine Antwort lautete: „Nein, ich habe so viele Heimaten, dass ich keine habe; wenn ich eine Heimat nennen würde, wäre es die Sprache, die Muttersprache, und das ist Deutsch.“ Der Sprache zollte er Verehrung, sie war sein bevorzugtes Instrument des Ausdrucks. Mit der Sprachdisziplin und –qualität in Amerika war er nicht gerade zufrieden, denn er meinte, „ … lebe ich in einem Lande, das sich einer Abart des Englischen bedient, ...“ Oder: „Wer in New York lebt, hört eine Sprache, in der Elemente des Irischen, Jiddischen, Sizilianischen, Kreolischen usw. eine obszöne Orgie feiern. In solchem Schauderwelsch denken zu müssen, ist eine vorsorglich verhängte Höllenstrafe.“ Er selbst schrieb aphoristisch, philosophierend, im besten Sinn des Wortes betrachtend und nachdenklich. Jedenfalls skeptisch und pessimistisch.
Dass er durch die historischen Ereignisse des Jahrhunderts aus Europa vertrieben wurde, ins Exil gezwungen wurde, war ihm kein Problem. Für ihn ist der Mensch im allgemeinen im Exil geboren, „ … und daher unterscheidet sich mein Leben nicht vom Leben von allen andern.“ Das Geheimnis des Lebens will Chargafff gewahrt wissen, denn der Mensch muss nicht alles wissen. „ … was das Leben ist, ist, glaube ich, nicht in Worten ausdrückbar.“ Er verwendet für diesen Abgrund zwischen Mensch und Schöpfer ein einprägsames Beispiel aus der Kunstgeschichte. Michelangelos Bild von Gott und dem Menschen Adam in der Sixtina, der Abstand zwischen dem Finger Gottes und dem Finger Adams, das sei jene Ewigkeit, in die der Mensch geboren werde. „Ich glaube“, sagt er, „Michelangelo drückt damit aus, dass man nicht versuchen darf, Gott zu berühren.“ Die Frage nach seinem Glauben beantwortet er mit einem Aphorismus: „Wer von seinem Glauben reden kann, hat keinen.“

Die Stadt Wien stiftete 2005 den Erwin-Chargaff-Preis, der vom Institut für Ethik und Wissenschaft im Dialog verliehen wird. Erste Preisträgerin war die deutsche Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich.

Chargaff warnte in einem Dutzend Bücher vor den Auswirkungen der Genforschung, u.a. in „Aussicht vom 13. Stock“ (der Titel bezieht sich auf sein Apparment am Central Park in New York), „Das Feuer des Heraklit“, eine Autobiographie, die Bände „Ernste Fragen“, „Alphabetische Anschläge“, „Armes Amerika – arme Welt“, „Erforschung der Natur und Denaturierung des Menschen“, „Brevier der Ahnungen“ und „Ein zweites Leben“ enthalten zahlreiche Essays, in denen er mit der Wissenschaft der Biochemie und der Gentechnologie abrechnet und sich seinen ganzen Frust und Kummer von der Seele schreibt. 1985 veröffentlichte er auch einen Band Gedichte.

Erwin Chargaff starb hochbetagt am 20. Juni 2002 in New York City. In der angloamerikanischen “World of Science” ist sein Beitrag zur Biochemie vergessen oder wird verschwiegen, denn die in Chicago erscheinende sehr renommierte Encyclopedia Britannica erwähnt Chargaff nicht einmal in einer Fußnote.