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Erwin Chargaff: Zauberlehrling der Doppelhelix#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: Der Standard (Mittwoch, 11. Februar 2015)

Von

Johannes Lau


Wien - "Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los": So wehklagt der Zauberlehrling in Goethes gleichnamigem Gedicht. Und auch für Wissenschafter kann diese Figur ein warnendes Beispiel sein: Die Geheimnisse, die Forscher dem Universum entringen, können eine böse Wirkung entfalten, weshalb immer wieder die ethische Verantwortung der Wissenschafter zur Diskussion steht.

Ein unnachgiebiger Mahner in dieser Hinsicht war Erwin Chargaff. Der österreichische Biochemiker - ein Pionier auf dem Feld der Genforschung - polemisierte im Alter als Essayist gegen die aus seiner Sicht fehlerhaften Entwicklungen im Bereich der Naturwissenschaft. Ein aktuelles Forschungsprojekt ist seinem Spätwerk gewidmet: In ihrer Dissertation erforscht die Innsbrucker Germanistin Magdalena Bachmann (siehe Geistesblitz) am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz Chargaffs essayistisches Schaffen.

Nachdem er sich von der Chemie abgewendet hatte, schrieb er: "Zwei verhängnisvolle und in ihrer endgültigen Wirkung noch nicht abzuschätzende wissenschaftliche Entdeckungen haben mein Leben gezeichnet: 1.) die Spaltung des Atoms, 2.) die Aufklärung der Chemie der Vererbung und der darauf folgenden Manipulation. In beiden Fällen handelt es sich um die Misshandlung eines Kerns: des Atomkerns, des Zellkerns. In beiden Fällen habe ich das Gefühl, dass die Wissenschaft eine Schranke überschritten hat, die sie hätte scheuen sollen." Diese Schwelle hat er einst selbst mit übertreten. 1905 in Czernowitz geboren, studierte Chargaff in Wien Chemie. Der Promotion 1928 folgten zwei Jahre in Yale, ehe er 1930 nach Europa zurückkehrte und in Berlin forschte.

Dieser Aufenthalt währte aber nicht lange. Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 floh Chargaff, aus einer jüdischen Familie stammend, nach Paris und übersiedelte 1935 wieder in die Vereinigten Staaten. Seine Mutter wurde im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Chargaff blieb bis an sein Lebensende im Jahr 2002 in New York, wo er eine Wohnung am Central Park bewohnte und bis zu seiner Emeritierung an der Columbia Unversity wirkte.

Dort lieferte der Biochemiker wesentliche Beiträge zur Erforschung der DNA. Seine Vorarbeiten ermöglichten etwa Francis Watson und James Crick ihre Entdeckung der Doppelhelix-förmigen Anordnung des Erbguts. Dass die beiden dafür den Nobelpreis bekamen, Chargaffs Beiträge von ihnen aber nicht einmal erwähnt wurden, traf ihn sehr und trug zu seiner zunehmenden Ablehnung der Wissenschaft bei. So schrieb er etwa: "Crick und Watson haben mir die Basenpaare gestohlen. Das ist die freie Marktwirtschaft."

Die Erforschung des menschlichen Genmaterials betrachtete Chargaff rückblickend besonders argwöhnisch: "Wer könnte das wissenschaftliche Interesse an der Produktion von Chimären leugnen, an der Untersuchung des Wachstums menschlicher Embryonen in einem tierischen Uterus? Ich denke, dass die Gesellschaft dies und noch viel mehr verhindern könnte, aber ich fürchte, sie wird es nicht. Was ich sehe, ist ein gigantisches Schlachthaus, ein molekulares Auschwitz, in dem hochwertige Enzyme, Hormone und dergleichen anstatt von Goldzähnen extrahiert werden."

Eingang in die Popkultur#

Mit derartigen Auslassungen startet Chargaff nach seiner Emeritierung in den 1970er-Jahren eine zweite Karriere als Schriftsteller. Der pensionierte Professor stößt an verschiedenen Stellen auf Gehör: Neben konservativen Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Presse oder der von Ernst Jüngers Bruder Friedrich Georg herausgegeben Scheidewege stößt er auch in renommierten naturwissenschaftlichen Fachmagazinen wie Nature und Science auf Interesse.

Katholische Theologen rezipieren seine Texte, die ihren Eingang genauso in die Populärkultur finden - auf den essayistisch emsigen Genforscher bezogen sich auch Autoren wie Johannes Mario Simmel in seinem Roman Doch mit den Clowns kamen die Tränen und Michael Crichton im Science-Fiction-Klassiker Jurassic Park.

Beim ersten Blick auf diese Essays mag es so aussehen, als ob sich Chargaff im Ruhestand in einen wissenschaftsfeindlichen "angry old man" verwandelt hätte. Schließlich verführen Chargaffs literarisch ausgefeilte Ereiferungen dazu, ihn für einen Reaktionär zu halten, der die neusten Innovationen der Naturwissenschaft verdammt, weil ihnen aus seiner Sicht die geschätzte altbekannte Kultur zum Opfer fällt. Das könne man jedoch nicht auf diese Art vereinfachen, sagt Bachmann. Sie betont, man dürfe nicht den Fehler machen, den Naturwissenschafter mit dem Essayisten gleichzusetzen. Dieses Alterswerk sei bewusst als literarisches Werk konzipiert und weniger als wissenschaftlich saubere Argumentation.

Polemiker mit Vorbild Kraus#

Chargaff eifere in diesen Texten in erster Linie seinem lebenslang größten Vorbild Karl Kraus nach. Als Chemiestudent war er dessen treuer Hörer in Wien. "In seinen literarischen Texten agiert Chargaff nicht als stringenter Argumentator, sondern als Polemiker, bei dem die Lust an rhetorischer Zuspitzung hinter die Stichhaltigkeit der Beweisführung zurücktritt", sagt Bachmann. "Chargaffs Essays als Belege für wissenschaftliche Thesen heranzuziehen ist weder mit deren grundsätzlicher Haltung noch mit deren Funktion vereinbar."

So ist dieses essayistische Werk weniger ein Kreuzzug gegen den Fortschritt und viel mehr ein Aufruf zum kritischen Denken und zu verantwortungsvoller Reflexion im Wissenschaftsbetrieb. Sein Wissenschaftsbegriff ist eher "vormodern", meint Bachmann: Die Erforschung und Erklärung soll in seinen Augen dazu dienen, "die Größe und Schönheit der Natur deutlich zu machen, anstatt sie zu unterwerfen." Bachmann sieht den späten Chargaff nicht als generellen Wissenschaftsfeind: "Er war lebenslang der Naturwissenschaft sehr zugetan, jedoch beunruhigten ihn bestimmte Entwicklungen." In einem Interview 1997 mit dem Standard erklärte - und relativierte - Chargaff seine Sicht: "Es ist die Perspektive eines alten Mannes, für den naturgemäß alles immer mieser wird, von jungen Menschen sollte das nicht allzu ernst genommen werden."

Der Standard, Mittwoch, 11. Februar 2015


Wahrscheinlich den Nobelpreis nicht bekommen, weil er Raucher war, siehe Bild, alt geworden ist er dennoch...

-- Glaubauf Karl, Mittwoch, 18. Februar 2015, 13:11