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Immerwährend aktiv – die Neutralität #

Die Österreichische Neutralität feiert am 26. Oktober ihren 60. Geburtstag. Der Friedensforscher Thomas Roithner gratuliert, erneuert seine Freundschaft und hat Tipps für die neue Lebensphase. Eine sehr persönlich gehaltene Würdigung. #


Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von DIE FURCHE (Donnerstag, 22. Oktober 2015)

Von

Thomas Roithner


Stunde der Neutralität. 26. 10. 1955: Die letzten Besatzungssoldaten verlassen Österreich – Geburtsstunde des neutralen Staates
Stunde der Neutralität. 26. 10. 1955: Die letzten Besatzungssoldaten verlassen Österreich – Geburtsstunde des neutralen Staates.
Foto: © IMAGNO/Votava

Intensiv kennengelernt haben wir uns in den frühen 1990ern. Es war im Zuge des Beitritts zur damaligen EG und heutigen EU. Ich war gerade mal 20, die Neutralität bereits 40 Jahre alt. Wir kennen uns mein halbes Leben. Heute, gut 20 Jahre später, ist es an der Zeit, die Freundschaft kritisch-solidarisch zu würdigen. Dein 60. Geburtstag – ich hoffe Du verzeihst die persönliche Ansprache – ist eine gute Gelegenheit dazu.

Deinem Entstehen im Jahre 1955 gingen lange Verhandlungen um die Unabhängigkeit Österreich voran. Politische Väter hast Du mehrere: Julius Raab, Adolf Schärf, Leopold Figl oder Bruno Kreisky. Deine Geburtsurkunde ist das Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität vom 26. Oktober 1955. Darin wird erklärt, in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beizutreten und keine militärischen Stützpunkte zuzulassen. Du bist jedenfalls – so der Völkerrechtler Manfred Rotter – „im Kern Ausdruck einer Haltung der Kriegsverweigerung“.

Man sollte Dich allen Anfangs nach dem Vorbild der Schweiz erziehen. Noch im Dezember 1955 trat Österreich der UNO bei und vorbei war es mit dem Schweizer Muster. Erst später unter Bruno Kreisky sollten aktive Friedenspolitik und Neutralität in einem Atemzug genannt werden. Dabei war ein Teil der Neutralitätspolitik auch die Begegnung zwischen Ost und West, ein Instrument für Engagement im Nahen Osten oder die Nord-Süd-Dialoge. In Gestalt eines aktiven Multilateralismus war die Neutralität ein wichtiger Hintergrund für den UNO-Standort oder dass Wien Sitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wurde. Dass Österreich keine Kolonien hatte, wirkte sich zudem positiv auf die Glaubwürdigkeit außenpolitischer Initiativen aus.

NATO-Streit #

Nur Wenige versuchten Ende der 1990er, Dich und einen NATOBeitritt als vereinbar zu erklären. Ein Bundeskanzler hat Dich später mit den durchwegs erfolgreichen Lipizzanern und Mozartkugeln verglichen. Ich mag Mozartkugeln und auch an der Hofreitschule spaziere ich gerne vorbei.

ÖVP und SPÖ stritten wegen Dir. Die einen wollten in die NATO, die anderen waren sich über ihre gemeinsamen Ziele wohl nicht sicher genug. Der Kompromiss war, auf EU-Ebene alle militärischen Möglichkeiten wahrzunehmen, die die EU bot. Und das waren viele und wurden auch stetig mehr. Ein Fachkollege scherzte damals über Dich: „Wir sind bereits in der NATO. Aber keiner hat’s gemerkt.“ Man hat demonstriert für Dich, gerungen um Dich. Man hat Dich nicht nur gegen die NATO, sondern auch gegen den Militärpakt WEU verteidigt.

Im Zuge des EU-Vertrages von Amsterdam wurde der Artikel 23 f der Verfassung von Sozialdemokratie, Volkspartei und Liberalen beschlossen. Dieselbe Verfassung, die auch Deine Geburt bezeugt. 23 f erläutert, dass auch Kampfeinsätze ohne UNO-Mandat – also völkerrechtswidrig – möglich sind. Das Verhältnis von völkerrechtswidrigen Kriegen und Neutralität ist ein Elchtest, an dessen Kippen die Sozialdemokratie beim Kosovo- Krieg oder der Debatte um die EU-„battle groups“ später noch erinnert wird. So wunderbar viele Menschen nützten Dich, um gegen den Krieg im Irak aufzustehen.

Teile der militärischen Auslandseinsatzpolitik der EU umweht dank einiger EU-Staaten ein neokolonialer Geruch. Interventionen im Kongo oder Tschad stehen dafür als Beleg. Schlecht ist man hierzulande beraten, Solidarität mit einem militärischen und ökonomischen Kerneuropa einer globalen Solidarität für Abrüstung, Armutsbekämpfung und gerechte Wirtschaftsbeziehungen vorzuziehen. Das Um auf Auf für eine glaubwürdige Neutralität ist, sich nicht für wirtschaftliche und geopolitische Interessen anderer EUStaaten vor den Karren spannen zu lassen.

Stunde der Neutralität. 26. 10. 1955: Die letzten Besatzungssoldaten verlassen Österreich – Geburtsstunde des neutralen Staates
Stunde der Neutralität. 26. 10. 1955: Die letzten Besatzungssoldaten verlassen Österreich – Geburtsstunde des neutralen Staates
Foto: © IMAGNO/Barbara Pflaum

Die Friedensnobelpreisträgerin 2012 – die EU – bietet aktiv-gewaltfreien Neutralen viele falsche Abzweigungen wie die möglichen völkerrechtswidrigen Einsätze der EU-„battle groups“ in Wüsten, Hochgebirgen, Dschungel und Städten. Der Vertrag von Lissabon sieht eine Aufrüstungsverpflichtung, militärischen Beistand im Angriffsfall und bei Terrorismus, ein militärisches Kerneuropa und ein immer schlampigeres Verhältnis zum völkerrechtlich geregelten Gewaltverbot vor. Im EUKontext ist Verteidigung zu einem Orwell’schen Begriff geworden, der vielmehr militärischen Interventionismus beschreibt. Wie neutral ist die Neutralität noch? Das Außenministerium formulierte 2001 unmissverständlich: „Seitdem ist für Österreich die Neutralität im EU-Kontext (GASP) nicht mehr relevant“.

Außenminister Kurz hat vorgeschlagen, sich Deine Geschichte anzuschauen, um an Dir für die Ukraine zu lernen. Auch in der Atomwaffenpolitik erweist Du Dich als überaus nützlicher Hintergrund. Österreich ist mit dem „Humanitarian Pledge“ hervorgetreten und sensibilisiert für eine vollständige Abrüstung aller Atomwaffen. Abrüstung ist die beste Prävention. Die Zivilgesellschaft applaudiert und unterstützt. 119 Staaten stärken Sebastian Kurz dabei den Rücken. Doch leider erweist sich die eigene Wertegemeinschaft als besonders zögerlich. Von den 28 EU-Staaten wird Österreich gerade mal von Zypern, Malta und Irland unterstützt. Alle vier sind neutral oder allianzfrei.

Neue Lebensphase #

Nach Udo Jürgens fängt das Leben mit 66 an. Es ist also wichtig, Dich für die neue Lebensphase sportlich fit und aktiv zu halten. „Neutralität“, so Bruno Kreisky, „bedeutet weder Passivität noch Abstinenz“. Genau, aber wähle den richtigen Sport. Nicht mehr Spieler im großen Zweikampf – Ost gegen West – bis 1989, sondern entscheide für einen Mannschaftssport. Such Dir ein gutes Team, welches Deine Stärken hervorhebt und denk dabei auch an Bündnisse mit der Zivilgesellschaft. Das aktuelle Regierungsprogramm legt dar, dass Österreich gefordert ist, „auf Grundlage der Neutralität und in enger Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Partnern für europäische Solidarität und globalen Frieden einzutreten“. Nicht die Partner bestimmen die Aufgaben, sondern die Aufgaben bestimmen die Partner.

Nach 1989 haben Friedensstifter ihre Aufgabe nicht verloren. Im Gegenteil. Diplomatische Lösungskompetenz gewinnt seither an Bedeutung. Es geht nicht nur um die Verhinderung von Gewalt und Krieg, sondern auch um die Auflösung von Gewaltstrukturen. Armut, Waffenhandel und ungerechte Wirtschaftsbeziehungen waren noch nie Komponenten für einen stabilen Frieden. Auch die OSZE und die UNO hoffen auf Deinen Erfolg bei Vermittlung, Dialogstiftung, Abrüstung und der Stärkung des Gewaltverbots. Dazu braucht es ehrliche Makler, neutrale Brückenbauer ohne doppelte Standards. Militär und Waffen hat die Welt schon genug. Du bist Motor für eine kluge und zivile Macht. Glaubwürdig bist Du dann, wenn Du nicht erst dann aktiv wirst, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Nur so bleibst Du aktiv und immerwährend. Alles Gute zum 60er

DIE FURCHE, Donnerstag, 22. Oktober 2015