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Die Rede zur Nation#

"Ihr Kanzler in der Reapraturwerkstatt - Was Bundeskanzler Werner Faymann bei seiner Rede zur Lage der Nation auch hätte sagen könnnen"#

Die Rede zur Lage der Nation ist eine amerikanische Tradition. Seit 1970 hält der US-Präsident jährlich eine "State of the Union address".
Nach Österreich übertrug dies zuerst VP-Chef-Mock, dann Bundeskanzler Schüssel, und 2009 war sein Nachfolger Werner Faymann an der Reihe.


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (3. Dezember 2009).


Von

Wolfgang Machreich

Faymann
Foto: APA/Fecht
Liebe Österreicherinnen und Österreicher! Liebe Zuwanderer, die Sie – ob Sie nun aus freiem Entschluss gekommen oder aus Ihrer Heimat vertrieben worden sind – hier ein Zuhause gefunden haben! Liebe Freunde! Geschätzte politische Gegner!

Als vor kurzem ein ehemaliger Caritas-Funktionär in die Politik gewechselt ist, hat er gemeint, er gehe von der sozialen Reparaturwerkstatt in die politische Entwicklungsabteilung. Ich muss widersprechen: Nach einem Jahr als Bundeskanzler weiß ich, dass er von einer zivilgesellschaftlichen in eine staatliche Reparaturwerkstätte kommt. Nach einem Jahr Bundeskanzler bin ich überzeugt, dass unser politisches System insgesamt zur „Reparaturdemokratie“ degradiert worden ist.

Die Politik gibt nicht mehr vor, so ehrlich müssen wir sein. Die Politik hinkt vielmehr den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen hinterher. Wir reparieren, was andere zerstören. Wir stopfen soziale Löcher, die andere aufreißen. Wir reagieren, statt zu agieren. Wir löffeln die Suppe aus, die uns diese Art der Globalisierung und ihr neoliberales Wirtschaftssystem einbrocken.

Prinzip Verantwortungslosigkeit

Meine sehr verehrten Damen und Herren: Verantwortungslosigkeit ist das bestimmende Prinzip dieses neoliberalen Systems. Das können wir zu Beginn von Jahr zwei nach dem finanzwirtschaftlichen Super-Gau mit Fug und Recht behaupten. Noch gar nicht lange her, da wollten die ökonomischen Eliten den Staat, also uns, zum Hilfskellner im Casino-Kapitalismus degradieren. Nach dem Crash des Finanzsystems riefen sie dann kleinlaut nach der helfenden staatlichen Hand – damit diese ihre Zeche zahlt. Und so muss ich heute, wenn ich zu Ihnen als Bundeskanzler über die Lage der Nation spreche, mit einem Seufzer eingestehen: Wir reparieren nur!

Und weil mir und der Politik generell die Milliardenhilfe für die Banken ständig zum Vorwurf gemacht wird, frage ich zurück: Was hätten wir denn tun sollen? Zuschauen, bis uns das ganze kapitalistische Werkl um die Ohren fliegt? Verehrte Landsleute, soweit kennen Sie mich mittlerweile: Ich bin zwar nicht der Kuschelkanzler und der Grinse-Faymann, als den mich meine Gegner hinstellen – aber ein Hasardeur, Barrikadenstürmer, Revolutionär bin ich noch weniger. Und will und darf es auch gar nicht sein. Umbauen statt niederreißen, reformieren statt explodieren lassen – das ist mein Weg!

Seien Sie versichert, auch mir fällt es nicht leicht, diese Politik des konstruktiven Umbaus des destruktiven Systems, in das wir hineingetrieben wurden und uns selbst hineinmanövriert haben, beizubehalten. Seien Sie versichert, mein Herz schlägt links, und mir steigt die Galle hoch, wenn ich höre, dass die Hausse an den Börsen wieder losgeht, während uns die Arbeitslosenzahlen aus den Händen gleiten. Mein Herz schlägt links, und ich balle meine Faust, wenn ich Zahlen lese, wie die Kapitalerträge ständig steigen, während die Nettolöhne sinken. Aber seien Sie gewiss, mein Herz schlägt links, und deswegen glaube ich an die Lernfähigkeit des Menschen, an die Möglichkeit der Umkehrung der Verhältnisse und an den Sieg der Solidarität über die Rivalität.

Liebe Österreicherinnen und Österreicher: Wie oft mussten wir unser Beharren auf Gerechtigkeit als veraltet, als die Wirtschaft und das Wachstum lähmend verunglimpfen lassen? Und wie oft haben wir nachgegeben und zugestimmt zur Kultur des Gegeneinanders? Zu oft! Das gilt leider auch für meine Partei, für mich. Doch was ist die heute zutage getretene Konsequenz unserer vergessenen Suche nach Gerechtigkeit? Die soziale Bruchlinie ist tiefer geworden, die „Armut im Überfluss“ größer. Die Angst wächst und der Frust. Und was mich sehr besorgt: Der Politik- und Demokratieverdruss nehmen zu, weil immer weniger daran glauben, dass die Demokratie und ihre Repräsentanten in der Lage sind, die Probleme zu lösen.

Geschätzte Damen und Herren: Bis vor Kurzem hätte ich nicht gedacht, dass mir ausgerechnet die Gebrüder Grimm ein Lehrbeispiel für meine Kanzlerschaft geben können. Mittlerweile sehe ich aber ihr Märchen von Hänsel und Gretel als punktgenaue Analyse unserer Situation: Wie viele Hänseln und Greteln schicken wir nicht ständig in den Wald? Und wie viele finden nicht zurück? Können nicht zurück in unsere Gesellschaft finden, weil wir ihnen keine Spur mehr legen, keine Hilfe anbieten.

Unsere heutigen Hänseln und Greteln sind die Langzeitarbeitslosen, die Sozialhilfeempfänger, die armutsgefährdeten Alleinerzieherinnen, die Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz, die modernen Sklaven in prekären Dienstverhältnissen, die Dauerpraktikanten, das akademische Prekariat … Schauen wir uns doch um und seien wir ehrlich: Der tolle Schein hat doch mit dem Sein nicht viel zu tun. Die Statistiken zu verschuldeten Haushalten und Privatkonkursen sprechen Bände: Jeden und jede kann es treffen. Die Schere zwischen denen, die „drinnen“, und denen, die „draußen“ sind, geht beständig immer weiter auseinander.

In der Lehre bei Gebrüdern Grimm

„Unfinanzierbar für einen schlanken Staat!“ lautet unsere Rechtfertigung. „Wir können nicht mehr für alle sorgen!“ unsere Entschuldigung. Außerdem, tragen die Betroffenen nicht selbst die Schuld? Sind sie nicht zu faul, zu träge, zu wenig flexibel …? Aus dem finsteren Märchenwald der Grimms ist jedenfalls der neoliberale Wirtschaftsdschungel geworden. Gefährlich, unerbittlich und zerstörerisch sind beide.

Liebe Österreicherinnen und Österreicher, ich weiß, Opposition und Koalitionspartner werden mich einen „Märchenonkel“ nennen – aber auch diesen Onkel halt’ ich aus! Die Grimm’sche Weisheit ist dadurch um nichts weniger aktuell. Denn so wie die Rettung im Märchen in der Hilfe der einen für den anderen passiert, so werden auch wir ohne ein neues Miteinander und eine neue Solidarität nicht aus unserem zerstörerischen Wirtschaftsdschungel hinausfinden.

Soziale Gerechtigkeit, Geschlech-tergerechtigkeit und Generatio-nengerechtigkeit müssen dabei die Markierungen sein, die uns den Weg weisen. Und noch eine vierte Leitplanke füge ich in guter sozialdemokratischer Tradition dazu: die internationale Gerechtigkeit. Beim Weltklimagipfel in Kopenhagen können und werden wir einen Schritt in Richtung internationaler Gerechtigkeit gehen. Weitere Schritte in jedem anderen genannten Gerechtigkeitsbereich werde ich setzen. Und den von der Caritas in die Politik gewechselten Kollegen und alle anderen lade ich ein, diesen Weg mitzugehen. Damit die Politik wieder aus der Reperaturwerkstatt in die Entwicklungsabteilung übersiedeln kann.

Vielen Dank!

(Es gilt das gesprochene Wort.)

DIE FURCHE, 3. Dezember 2009