!!!"Wir kennen uns aus Alpbach"

!!Am Anfang stand Europa, das "europäische Experiment". Doch was eigentlich ist das: der "Geist von Alpbach"? (Und erst der Alpbacher Loden?) Erinnerungen an das Europäische Forum, Erinnerungen einer Insiderin.

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''Von der [Presse|https://www.diepresse.com] (17. August 2012) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.''

Von 

__Koschka Hetzer-Molden  __


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In einem grünen Porsche kam ich erstmals zum Europäischen Forum Alpbach. Ein Freund hatte mich hingefahren. Auf der schmalen Dorfstraße kam uns ein roter Porsche entgegen. Darin – halb stehend – ein Mann mit nacktem Oberkörper, Hosenträgern und Lederhose. Wie ich später erfuhr, war es Karl Schwarzenberg, heute Außenminister der Tschechischen Republik. "Geist und Loden" würde ich antreffen, hieß es drunten im Tal, üppige Dirndln und Prominente in älplerischem Outfit jede Menge. Kühe würde ich kaum sehen, da die um diese Zeit noch auf der Alm seien. Neuigkeiten für mich als "Flachländerin" aus Hamburg. Im Fernsehenhatte ich die Eröffnung des EFA gesehen: Berge, Fahnen, Trachten, Blasmusik und Politikerreden, dazu die Bundeshymne und das Andreas-Hofer-Lied. Den eigentlichen "Geist von Alpbach" habe ich erst an Ort und Stelle erfahren.


Es war herrliches Wetter Anfang September 1973 in diesem, wie es immer wieder heißt, „schönsten Dorf Österreichs“. Und tatsächlich erwartete mich ein bäuerlich-ländliches Schmuckstück mit seinen alten, unverfälschten Häusern. Der damalige Bürgermeister, Alfons Moser, soll streng darüber gewacht haben, dass die alte Bauweise erhalten blieb. In der Mitte des Ortes die barocke Kirche, deren Innenausstattung der britische Kunsthistoriker österreichischer Herkunft Ernst Gombrich in einem Interview mit mir als sein "schönstes Kunstwerk" bezeichnet hat. Neben der Kirche der Friedhof mit den eisernen Kreuzen und den Kerzen, die abends angezündet werden. Hier liegt auch Nobelpreisträger Erwin Schrödinger begraben. Eine kleine Welt, in der gut 14 Tage im Jahr die "große Welt" Einzug hält.


Die "große Welt" interessierte mich weniger. Als Kulturjournalistin war ich auf der Suche nach dem besonderen "Geist" in diesem außerordentlichen "europäischen Experiment", das am 25. August 1945 begann. Welche Sehnsucht nach Gesprächen über Grenzen hinweg müssen die damals anreisenden Österreicher, Franzosen, Schweizer und Amerikaner gehabt haben! Es war ein erster Tag der Freiheit! Zum ersten Mal nach vielen Jahren konnten die Teilnehmer das lange aufgezwungene Schweigen beenden und offen diskutieren. Ähnlich müssen sich viele Menschen nach dem Fallen des Eisernen Vorhangs gefühlt habe. Otto Molden, der zusammen mit dem Philosophiedozenten Simon Moser das Forum begründete, hatte schon als 16-Jähriger die Vision von der Einigung Europas. Das Europäische Forum, am Anfang "Hochschulwochen" genannt, war sein Beitrag zu einem geistigen Neuanfang in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.


Karl Popper kam nach seiner Emigration erstmals 1948 nach Österreich zurück – zunächst nach Alpbach. Hier hielt er Vorträge und leitete philosophische Arbeitsgemeinschaften. Legendär sein Seminar unter dem „Baum der Erkenntnis“ auf einem Hügel mit Blick aufs Dorf. Der Baum ist inzwischen verschwunden. Doch viele junge Teilnehmer suchen sich heute wieder Diskussionsplätze unter einem "Denker"-Baum.

!1988 mit Stacheldraht umzäunt

Mit dem Europäischen Forum wollte Otto Molden vor allem eine Gemeinschaft intellektuell interessierter Menschen schaffen, die weit über Österreich, ja über Europa hinauswächst. Ich denke, das ist ihm gelungen, damals, als die Welt noch überschaubarer war. 1981 hatte ich ein Stipendium in den USA. In Washington rief ich im Weißen Haus an, verlangte den Kulturverantwortlichen, sagte "Wir kennen uns aus Alpbach...", und schon wurde ich zum Kaffee eingeladen. Der Satz "Wir kennen uns aus Alpbach..." hat Türen geöffnet.


Enge Freundschaften und Kontakte über Grenzen hinweg sind entstanden, unter anderem auch mit Dialog-Kongressen in Alpbach außerhalb des Forums. Plötzlich tauchten in Alpbach Inder, Südamerikaner und Schwarzafrikaner auf. Der Historiker Molden war in erster Linie an Geschichte,Kultur und kulturellem Austausch mit anderen Völkern interessiert. Besondere Erregung bei einigen österreichischen Politikern und Anti-Apartheid-Aktivisten löste 1988 die Einladung des südafrikanischen Politikers und Zulu-Führers Mangosuthu Buthelezi aus. Das Medieninteresse war groß. Da Demonstrationen angesagt waren, verständigte Otto Molden die Polizeisondertruppe Cobra. Das Kongresshaus wurde mit Stacheldraht umzäunt. Rund 20 junge Aktivistinnen belagerten dieses Alpbacher "Fort Appache", sangen Lieder und zogen wegen des strömenden Regens bald wieder ab.


Ein kleiner Teppich aus dem Zulu-Land erinnert in unserer Wohnung noch an Buthelezis Besuch. Ebenso wie eine von Moshe Dayan selbst zusammengeklebte Tonschale (800 v. Chr.), die er Otto Molden und mir bei seinem Alpbacher Besuch mitgebracht hat. Groß war der Jubel der Bustouristen, die auf der Alm den Nationalhelden der Israelis erblickten. Und eher unerwartet war auch der Anblick der indischen Ministerpräsidentin Indira Gandhi, die in einer Alpbacher Boutique Dirndlkleidchen für kleine Verwandte einkaufte. Das Thema ihrer Rede bei diesem Dialog-Kongress 1983 war die Entwicklung der indischen Kultur seit Alexander dem Großen. Indira Gandhi war mit einem Gefolge indischer Industrieller gekommen, die als Gastgeschenke große Mengen von stark orientalisch duftenden Parfums mitbrachten. Erinnerungswerte.


Um das frühe Alpbach ranken sich Legenden und Gschichterln. Etwa die des amerikanischen Dichters Thomas Wolfe, der 1936etwas Erholung in den Tiroler Bergen suchte, aber nur in dem damals noch kleinen Gasthof Böglerhof ein entsprechend großes Bett fand. Der Amerikaner maß über zwei Meter. Gerne hat er mit den Bauern des Dorfes den Alpbacher "Geist", den Geist aus der Flasche, zu sich genommen. Gerne wird in Alpbach auch an eine Kuh erinnert. Sie soll ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass die "Alt-Alpbacher" ihre erste Zusammenkunft in Alpbach abgehalten haben. Damalsgab es kaum etwas zu essen, und der Alpbacher Bürgermeister Moser hatte sich bereit erklärt, das Tier zu schlachten.


Zu den alten Legenden kamen neue Ereignisse dazu, die heute wiederum Legende sind. Nehmen wir zum Beispiel die Kunst und die Künstler. 1979 schufen Gustav Peichlund André Heller beim EFA den Künstler-Freistaat "Artopia". Videoexperte und Aktionist Horst Gerhard Haberl kreierte den Titel aus "Art" und "Utopie". Ein Gegengewicht zu dem vornehmlich wissenschafts-, politik- und wirtschaftsorientierten Forum sollte mit diesem aufwendigen Projekt geschaffen werden – zugunsten von Kunst, Fantasie und "dem Umsetzen von Sehnsüchten". Eine weiße Fahne wurde gehisst, die Zeitung "Artopia Press" erschien täglich, und ein Kabelfernsehen mit einer Reichweite von zwei Kilometern wurde eingerichtet. Ein Igel (nach einer Zeichnung des Gugginger Künstlers Johann Hauser) erschien auf dem Bildschirm, und es erklang die Signation "Artopia Kuckuck – Gloria!".


Das alles wirkte kreativ, fröhlich, fantasievoll. Otto Molden setzte dem Künstler-Freistaat dennoch ein frühzeitiges Ende, nachdem die Artopianer eine Alpbacher Erntekrone durch das Dorf getragen hatten. Und "unbekannte Täter" hatten längst den Artopia-Wegweiser in den Bach geschmissen... Otto Molden hatte eine natürliche Autorität, verstärkt durch seine sonore Stimme. Sein Bruder Fritz Molden, damals Vizepräsident des EFA, sagte einmal: "Mein Bruder macht in Alpbach die Geräusche." Ein kleines künstlerisches Problem tat sich auf, als der Regisseur Bernd Palma in seiner Inszenierung einer Oper in der Alpbacher Kirche einen Sänger nackt auftreten lassen wollte. Nackt als Sinnbild für einen hilflosen, verlassenen Menschen auf dem Weg zu Gott. In aller Freundschaft konnte der Präsident den Regisseur überzeugen, dass das weder in einer Kirche noch hier in Alpbach sein dürfe. Bei der Aufführung blieben nur die Füße des Sängers nackt.


!Frauen haben hier kaum Einfluss

Kreative Ideen rein gruppendynamischer Artwurden auch im "Kreis für innere Formung" entwickelt. Der von vielen belächelte K.I.F. ("Was macht ihr denn da eigentlich?") wurde während des Forums zweimal wöchentlich im Büro des Präsidenten einberufen. Einige Auserwählte, darunter ich, durften Verbesserungsvorschläge einbringen. Was ist falsch gelaufen, wer kümmert sich um die Künstler, ist die Hotelküche noch offen, wenndie polnischen Pantomimen nachts anreisen, wer stellt sie bei der Veranstaltung vor? Blumen für die Witwe Wotruba müssen bestellt werden. Und wen sollen wir "eingemeinden"? Eingemeinden, das war das Zauberwort! Es galt, Personen zu finden, die an diesem „"europäischen Experiment" weiterhin mitwirken wollten. „"Otto, du bist ein Menschenfischer", hatte Paula von Preradović einst zu ihrem Sohn Otto gesagt.


Mein Einfluss als Kulturredakteurin auf das künstlerische Programm von Alpbach war nur indirekt wirksam. Wohl konnte ich immer wieder mir bekannte Schriftsteller, bildende Künstler, Schauspieler vorschlagen. Etwa Jan Hoet, den späteren Leiter der "Documenta". Theaterleute wie Augusto Boal und Heiner Müller. Die Schauspieler Anne Bennent, Ortrud Beginnen und Heribert Sasse. Die Autoren Martin Walser und Barbara Frischmuth. Ja, ich konnte sogar ein eigenes "Nachtprogramm" durchsetzen, das vor allem von jüngeren Menschen gut angenommen wurde: Kabarett, Jazz und Lesungen. Aber eben nur indirekt, über Umwege. Etwa so: Bei einem Abendessen sagte ich dem Präsidenten, er solle doch Friedrich Dürrenmatt zu einer Lesung einladen. Die Antwort: "Nein, das kommt gar nicht in Frage. Dürrenmatt war ja schon einmal in Alpbach. Außerdem ist der Mann viel zu teuer für uns." Dürrenmatt war zwar das letzte Mal 1951 beim Forum, und Vortragende haben alle immer das gleiche Honorar bekommen, aber mein Widerspruch nützte gar nichts. Dann jedoch, drei Tage später, fragte mich der Präsident, was ich davon hielte, wenn er Friedrich Dürrenmatt einlüde. Ich sagte ihm, dass ich seine Idee großartig fände.


Frauen haben beim Forum nie einen großen Einfluss gehabt. Bis auf wenige Ausnahmen – und dann eben indirekt. Das ist bis heute so geblieben. Männer haben dieses Treffen für Politik, [Wirtschaft|Thema/Wirtschaft], [Wissenschaft|Thema/Wissenschaft] (und Kunst) gegründet. Männer leiten es auch heute noch. Um das nur mal so zu sagen...

Ansonsten hat sich vieles verändert in diesem "Denker"-Dorf, das nicht zuletzt dazu beigetragen hat, dem Land Tirol ein "Denker"-Image zu geben. Ein neues, modernes Kongresszentrum wurde gebaut, die Seminare finden nicht mehr in den alten Bauernhäusern statt, sondern in der Hauptschule unten im Dorf. Deutlich sichtbar (und hörbar) auchdie Werbung einiger großer Sponsoren. Politiker sagen das, was sie schon immer zu sagen hatten (und am liebsten dem Fernsehen), und die Kontaktbörse für Menschen aus der Wirtschaft funktioniert besser denn je. Über künstlerische Projekte regt sich niemand mehr auf – sie kommen zu selten vor.


Es gibt wesentlich mehr Veranstaltungen, die sich vielfach überschneiden und oft "Cocktailpartys" (früher "Alpbacher Speckjause" genannt) und Empfänge nach sich ziehen. Die Gesamtteilnehmerzahl hat sich mehr als verdreifacht, wobei viele Gäste nur ein, zwei Tage bleiben. Das Europäische Forum Alpbach ist eine Massenveranstaltung geworden.


Der gruppendynamische Prozess, Gemeinschaft und Kommunikation, die OttoMolden als wesentliche Bestandteile des Alpbacher Phänomens ansah, stehen nicht mehr im Vordergrund. Jährlich nehmen beim Forum rund 700 junge Stipendiaten teil. Von einigen werde ich gelegentlich gefragt: "Was ist der 'Geist von Alpbach'?" Ich bin sicher, dass gerade diese jungen Leute, die danach suchen, ihn auch finden werden. Vielleicht wieder unter "Denker"-Bäumen?


Nachtrag: Es gibt viele Alpbach-Ehepaare, Menschen die sich in Alpbach begegnet sind und später geheiratet haben. Ich gehöre auch dazu. Otto Molden und ich haben am 29. Juni 1984 geheiratet. 1993, nach seinem Rücktritt als Präsident ein Jahr zuvor, hat mein Mann noch einmal eine große private Veranstaltung obenam Rossmoos gemacht. Freunde und langjährige Weggefährten waren dabei. Auf der Einladung stand "Fackeln über Europa". – Vor zehn Jahren, am 15. Juni 2002, ist mein Mann in einem Schwimmbad auf Zypern ertrunken. Auf seinem Grabstein am Wiener Zentralfriedhof steht "Erster Rufer nach einem vereinten Europa nach dem Zweiten Weltkrieg". So hatte er es sich gewünscht.


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[Die Presse|https://www.diepresse.com], 18. August 2012
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