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August Maria Knoll#


Von

Univ. Prof. Dr. Anton Pelinka


Der österreichische Katholizismus hat im 20. Jahrhundert nur wenige Gesellschaftstheoretiker hervorgebracht, die sich sowohl durch ständigen Praxis-bezug, als auch durch einen Nonkonformismus ausgezeichnet haben; durch einen Nonkonformismus, der die Grenzen der traditionellen, politisch-weltanschaulichen Lager ebenso in Frage stellt wie die herrschenden Strömungen innerhalb der Kirche. August Maria Knoll war ein theoretischer Soziologe, der mit der politischen Praxis vielfältig verbunden war – als Privatsekretär Ignaz Seipels, als Funktionsträger im „autoritären Ständestaat", als engagierter Gegner des Nationalsozialismus, als Vertreter eines sozialreformatorisch orientierten Flügels der österreichischen Volkspartei. Und August Maria Knoll war Nonkonformist, der freilich erst in seinen letzten Lebensjahren seine Positionen so ausformuliert hatte, dass er in Konflikt mit der Amtskirche wie auch mit dem politischen Lager kam, aus dem er hervorgegangen war.

Knoll war einer der wenigen Katholiken, die man zu Recht als „Linkskatholiken" bezeichnen kann. Dieses vielfach missdeutete und oft schillernde Etikett umreißt Knolls Position mehrfach: die Weiterführung der Sozialreform Vogelsangs; die Präferenz zugunsten eines Bündnisses mit sozialistischen Kräften gegenüber einem Bündnis mit Kräften der äußersten Rechten; die kritische Distanz zur offiziellen politischen Ausrichtung der von den Bischöfen repräsentierten Kirche. Knoll war allerdings ein verspäteter Linkskatholik: Seine Entwicklung, obwohl schon immer in diese Richtung weisend, kam erst sehr spät zu einem Abschluss. Das spezifisch Linkskatholische an Knoll – die ideologiekritische Beschäftigung mit der katholischen Gesellschaftslehre, der starke Affekt gegen den traditionellen Vorrang der Amtskirche gegenüber den „Laien", die eindeutige Sympathie mit sozialistischen Zielvorstellungen – findet sich erst in seinen letzten Werken. Knolls Bedeutung sowohl für den österreichischen Katholizismus, als auch für die österreichischen Sozialwissenschaften liegt in den Arbeiten der Spätphase.

Knoll, am 5. September 1900 in Wien geboren, promovierte 1924 an der Universität Wien zum Dr. rer. pol. Unter schwierigen materiellen Bedingungen arbeitete er in den folgenden Jahren als Hauslehrer und als freier Journalist. Erst im Jahre 1934 konnte er sich eine gewisse stabile Basis sichern: Er habilitierte sich an der Universität Wien und wurde kommissarischer Verwalter des „Vorwärts"-Verlages nach der gewaltsamen Unterdrückung der Sozialdemokratie durch die Regierung Dollfuß. Im selben Jahr heiratete er. Der Ehe mit seiner Frau Gertrud entstammten die Söhne Norbert, Wolfgang und Reinhold.[1]

1938 wurde Knoll arbeitslos, die Nationalsozialisten untersagten ihm auch jede Lehrtätigkeit. Durch private Bibliothekarsarbeiten und durch verschiedene Unterstützungen (so auch von Kardinal Innitzer) konnte er das notwendige finanzielle Minimum für seine Familie besorgen. 1940 wurde er zur deutschen Wehrmacht einberufen, ohne allerdings an die Front zu müssen. 1944 wurde er, durch falsche Gutachten „krank" erklärt, aus der Wehrmacht entlassen.

Kurz nach Gründung der österreichischen Volkspartei trat Knoll der ÖVP, bzw. dem ÖAAB bei. In den ersten zehn Jahren nach Gründung der Partei beeinflusste Knoll, vor allem im Rahmen des von ihm gegründeten Instituts für Sozialpolitik und Sozialreform, das geistige Profil der Partei. Allmählich setzte jedoch eine Entfremdung zwischen Knoll, der 1946 außerordentlicher und 1950 ordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Wien geworden war, und seiner Partei ein. In den letzten Lebensjahren kam die Entfremdung zwischen Knoll und Repräsentanten der Amtskirche hinzu. Als die Auseinandersetzung um seine letzten Werke auf dem Höhepunkt war, erkrankte Knoll schwer und starb am 24. Dezember 1963.

Knolls politische und sozialwissenschaftliche Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit Ernst Karl Winter. Winter hat Knoll persönlich und sachlich außerordentlich stark beeinflusst, und auch in den langen Jahren, in denen zwischen Knoll und Winter persönliche Spannungen herrschten – erst nach der Rückkehr Winters aus der amerikanischen Emigration, 1956 erfolgte die Aussöhnung –, lässt sich ein indirekt geübter Einfluss Winters auf Knoll nicht übersehen.[2] Bei Winter wie bei Knoll war der Beginn der politischen Entwicklung von einem legitimistischen Österreichbewusstsein geprägt, war der dominierende ideologiekritische und soziologische Zugang der Methodendualismus. Österreich, in bewusster Antithese zur herrschenden Anschlussideologie sowohl habsburgisch, als auch katholisch verstanden – und ein Dualismus, der Kirche und Politik, christliche Heilsbotschaft und Gesellschaftsordnung streng auseinanderzuhalten versuchte und so im Gegensatz zu Scholastik und Integralismus stand.

Diese inhaltlich-politische und diese wissenschaftlich-methodische Grund-einstellung blieb bei beiden, bei Winter und bei Knoll, ein Fixpunkt der weiteren Entwicklung, auch wenn verschiedene Attribute sich veränderten oder wegfielen, wie etwa der Legitimismus. Doch die Entwicklung beider – Winters und Knolls – erfolgte phasenverschoben: Knoll war in den frühen 60er Jahre in vielem dort angelangt, wo Winter bereits in den frühen 30er Jahren gestanden war. Die scharfe Kritik am politischen Katholizismus (ausformuliert am Beispiel Ignaz Seipels) und die prinzipielle Bündnisbereitschaft mit dem demokratischen Sozialismus: Das findet sich bei Winter bereits 30 Jahre vor Knoll; bei letzterem freilich in der Sprache der modernen Sozialwissenschaften und vor einem anderen, reiferen politischen Hintergrund; und deshalb auch von einer anderen Wirksamkeit.

Knolls Entwicklung ging vom Sozialkatholizismus, von der katholischen Sozialreform aus. Karl Vogelsangs Vorstellung von einer den Kapitalismus überwindenden Reform der Gesellschaft hatte im österreichischen Katholizismus tiefe Spuren hinterlassen. Knoll stand ursprünglich der Richtung Anton Orels nahe, der die antikapitalistische Komponente im Denken Vogelsangs am stärksten betonte.[3]

Die „Österreichische Aktion“#

Winter, wie Knoll Mitglied der katholischen Studentenverbindung „Nibelungia" im ÖCV, gründete 1927 gemeinsam mit Knoll, Alfred Missong, H. K. Zeßner-Spitzenberg und Wilhelm Schmid die „österreichische Aktion"[4]. Deren Programm hob sich von Orel durch deutlichere österreichische Akzente ab: Die Kapitalismuskritik wurde ergänzt und nahezu überlagert von einem anfangs stark legitimistisch getönten, österreichischen Patriotismus. Der massive Antisemitismus, bei Orel untrennbarer Bestandteil des Antikapitalismus[5], trat zurück. In den Jahren um 1930 waren die Repräsentanten der „österreichischen Aktion" jedenfalls bereits frei von Antisemitismus, der gerade den „linken" Flügel des christlich sozial-konservativen Lagers noch lange Jahre prägen sollte[6]. Die „österreichische Aktion" blieb mit der Orel-Gruppe jedoch noch durch die 1929 gegründete „Studienrunde katholischer Soziologen" in Verbindung, in der allerdings Knoll (wie auch Winter) nur in den ersten Jahren eine prägende Rolle hatten.

Die „österreichische Aktion" war ursprünglich restaurativ und antirepublikanisch: Der Name wurde von den Gründern in bewusster Anlehnung an die „Action française" gewählt. Die darin verborgenen, antidemokratischen Affekte verflüchtigten sich jedoch ebenso wie die Restbestände des konfessionell motivierten Antisemitismus: Die Frontstellung gegen den bald als Hauptfeind erkannten Nationalsozialismus legte den Gedanken an eine Verständigung mit den demokratischen Kräften Österreichs, vor allem mit der Linken, nahe.

Auch hier spielt bei Knoll offenkundig ein Seipel-Erlebnis mit. Im Juni 1932, zwei Monate vor Seipels Tod, wurde er Privatsekretär des bereits vom Tod Gezeichneten. Knoll vermerkte in seinen privaten Aufzeichnungen auch antisemitische Äußerungen Seipels, die ihn – Knoll – verwunderten, da Seipel in der Öffentlichkeit als frei von Antisemitismus galt; und dies durchaus im Gegensatz zu anderen christlich-sozialen Parteiführern[7].

Doch während Winter kurz nach Seipels Tod eine umfangreiche und überaus kritische Auseinandersetzung mit Ignaz Seipel veröffentlichte[8], muss Knolls 1956 publizierte Arbeit über Seipel als vergleichsweise unkritisch, ja apologetisch eingestuft werden[9].

Diese unterschiedliche Beurteilung Seipels, der zentralen Figur des österreichischen politischen Katholizismus, war nur ein Ausdruck für die persönliche und sachliche Entfremdung zwischen Knoll und Winter, für die Polarisierung innerhalb der „österreichischen Aktion". Während Winter, trotz seiner kurzen Tätigkeit als Wiener Vizebürgermeister unter Dollfuß und Schuschnigg, zu den prinzipiellen Kritikern des „autoritären Ständestaates" zählte[10], identifizierte sich Knoll weitgehend mit dem „linken" Flügel des ständestaatlichen Systems. Während Winter sich zunehmend marxistischen Positionen gegenüber aufgeschlossen zeigte, schied Knoll aus der „Österreichischen Aktion" aus und stand in den 30er Jahren dem Solidarismus nahe, einer Richtung innerhalb der katholischen Soziallehre, die eine immanente Reform des Kapitalismus vertrat und die direkt in die programmatischen Ansätze der ÖVP nach 1945 mündete[11].

Knoll warb noch nach 1945 um Verständnis für den „autoritären Ständestaat[12]. Er verteidigte ausdrücklich die rechtsstaatliche Legitimation der Verfassung vom 1. Mai 1934[13]. Seine Beziehungen zum christlich-sozial-konservativen Lager waren noch in den 50er Jahren ungebrochen. Die Ära des Nationalsozialismus förderte zusätzlich die Einbindung Knolls in dieses Lager. Es waren Mitglieder des CV, die für Knolls vorzeitige Entlassung aus der deutschen Wehrmacht sorgten, und mit denen Knoll ähnliche Aktionen durchführte. Knoll erlebte den Widerstand gegen den Nationalsozialismus als voll integrierter Teil seines politisch-weltanschaulichen Milieus, seines Lagers.

Das Institut für Sozialpolitik und Sozialreform#

Es war daher nur selbstverständlich und konsequent, dass kurz nach Gründung der Österreichischen Volkspartei Knoll sich dem ÖAAB (und damit der ÖVP) anschloss. Im ÖAAB trafen sich die Repräsentanten der verschiedenen, von Vogelsang herkommenden Traditionen. Der ÖAAB war nach 1945 die politische Heimat aller, die schon im „autoritären Ständestaat" ein grundsätzliches Ja zu dessen Grundlagen mit einer Betonung christlich motivierter Gesellschaftsreform verbunden hatten[14]. 1953 gründete Karl Kummer, sozialpolitischer Experte des ÖAAB im Nationalrat und in der Arbeiterkammer, gemeinsam mit Knoll das „Institut für Sozialpolitik und Sozialreform". Es wurde zu einer Verbindungsstelle zwischen Sozialkatholizismus (repräsentiert durch Knoll) und politischer Praxis (repräsentiert durch Kummer).

Diese Verbindung hielt nicht lange. 1959 schied Knoll aus dem Institut aus[15], das nach dem 1967 erfolgten Tod Kummers offiziell den Namen Dr. Karl Kummer-Institut für Sozialpolitik und Sozialrefor erhielt, eine Bezeichnung, die wohl nicht zufällig die entscheidende Rolle Knolls bei der Institutsgründung demonstrativ vernachlässigt. Denn hinter dem Rückzug Knolls aus dem Institut stand eine wachsende Distanz zwischen Knoll und seiner Partei, seinem Lager; und diese Distanz war wiederum bedingt durch Knolls letzte Entwicklungsphase, die ihn zwangsläufig in Gegensatz zu Interessen und Positionen sowohl des christlich-sozial-konservativen Lagers, als auch der Amtskirche bringen musste.

Diese Entwicklungsphase lässt sich vereinfacht auf zwei Ebenen ausdrücken: Eine sich empirisch und sozialwissenschaftlich verstehende Kritik an der Scholastik und an den integralistischen Tendenzen der herrschenden Richtung der katholischen Soziallehre – und eine sich normativ, letztlich theologisch verstehende Kritik an der Rechtlosigkeit des „Laien" in der Kirche[16]. Beides ist nur als konsequente Weiterführung des Methodendualismus zu verstehen: Die antiintegralistische, „liberale" Auffassung[17], dass von der Botschaft Christi kein direkter Schluss auf eine „christliche" Gesellschaftsordnung gezogen werden kann, wird zur mit historischen Belegen untermauerten Beliebigkeit christlich etikettierter Sozialpostulate fortgeführt; und die Auffassung von den zwei „Ständen" in der Kirche wird zur vehementen Klage über die kirchenrechtlich verfestigte Dominanz des einen über den anderen Stand.

Knoll hatte seine Auffassungen schon im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an der Universität Wien vorgetragen. Dennoch wurde erst mit dem 1962 veröffentlichten Buch „Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht" und mit der 1963 gemeinsam mit Wilfried Daim und Friedrich Heer verfassten Schrift „Kirche und Zukunft" eine breite Öffentlichkeit mit dem neuen, dem späten Knoll bekannt. Die Reaktion auf diese Veröffentlichungen war außerordentlich – Ernst Topitsch schreibt in diesem Zusammenhang von einem „Sturm der Entrüstung"[18]. Es war ein Sturm im katholischen Aktivsegment.

Die Heftigkeit traf Knoll unvorbereitet. Dass auch offiziöse und offizielle kirchliche Stimmen sich nicht differenziert mit seinen Arbeiten auseinandersetzten, sondern sie pauschal aburteilen, war für Knoll, der sich immer als treuer Sohn der Kirche fühlte, dessen Frömmigkeit durch seine Tagebücher bezeugt ist, ein schwerer Schlag. Das kirchenamtliche „Wiener Diözesanblatt" schrieb, es wäre dringend zu wünschen, „das Buch (nämlich „Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht“ – Anm. der Verf.) wäre nie geschrieben worden"[19]. Vertreter der herrschenden katholischen Naturrechtsauffassung, wie Alfred Verdroß[20] und Franz Martin Schmölz[21], schlossen Knoll von wissenschaftlichen Auseinandersetzungen aus. Und der Erzbischof von Wien, Kardinal Franz König, beschuldigte in einer Massenveranstaltung Knoll gar, dessen Liebe zur Kirche sei in Hass umgeschlagen[22].

Knoll kommentierte diesen Angriff in seinem Tagebuch: „Was ich heute und immer hasse, das ist der Kirchenaktenstaub, das über der Liebe stehende Kirchenrecht, das Hand- und Fuß-Schlecken, aber nicht die Kirche, die Kirche der Heiligen, die Kirche meiner Ahnen, die Kirche meiner Freunde. Für diese Kirche bete ich tagtäglich, für diese Kirche Christi, in der ich bewusst lebe und sterben möchte[23]."

Zu den Reaktionen aus dem Bereich der Amtskirche kamen die Reaktionen aus dem Bereich der politischen Parteien. Die ÖVP, der Knoll nach wie vor als Mitglied angehörte, überließ die scharfen Attacken den kirchlichen Organen. Viele Sozialisten, für die Knoll bis dahin immer noch der kommissarische Verwalter des „Vorwärts"-Verlages war, der verlängerte Arm der austrofaschistischen Diktatur, nahmen jedoch Knolls letzte Entwicklung aufmerksam zur Kenntnis[24]. Die Zeichen der Anerkennung, die Knoll aus dem sozialistischen Lager erreichten, erfüllten ihn mit einer gewissen Befriedigung: Er wertete sie als Signale einer österreichischen Aussöhnung, als Indiz für einen breiten österreichischen Konsens.

Knoll war durch die innerkirchlichen Polemiken, die sich nicht mit seinen Thesen, sondern mit seiner Person befassten, zutiefst getroffen. Er fühlte sich jedoch durch das Zweite Vatikanische Konzil nur bestärkt. Als er am 7. Oktober 1963 mit seinem neuen Buch – „Zur Soziologie der christlichen Existenz" – beginnen wollte[25], das seinen in den letzten Jahren eingeschlagenen Weg fortsetzen sollte, war er bereits von seiner Todeskrankheit gezeichnet. Er starb am Vorabend des Weihnachtsfestes 1963. Die Einsegnung auf dem Friedhof in Wien-Mauer nahm der Weihbischof von Wien, Jakob Weinbacher, vor.

Der links-liberale Katholik#

Knoll war ein liberaler Linkskatholik[26]. Im Spektrum der Linkskatholiken nahm er eine liberale Position ein – liberal in dem Sinn, dass er der Kirche die Funktion absprach, neue soziale Systeme qua Kirche zu schaffen und zu legitimieren; dass er vielmehr der Kirche die Aufgabe zuwies, sich auf das pastorale Wirken, losgelöst vom politisch-gesellschaftlichen Hintergrund, zu konzentrieren. Knoll wandte sich vor allem gegen jede Form des Integralismus, der zwar traditionell „rechts" (im Sinne von konservativ) ist, der aber sehr wohl auch „links" (im Sinne von innovativ und sozialistisch) instrumentiert werden kann[27].

Mit seiner linksliberalen Aussage ist Knoll tatsächlich im Wesentlichen von der Entwicklung der kirchlichen Lehrmeinung, vor allem durch das Zweite Vatikanum, bestätigt worden[28]. Seine Absage an das traditionelle Naturrecht klang bereits wenige Jahre nach seinem Tod fast selbstverständlich, die scharfe Polemik dagegen, die große innerkirchliche Aufregung darüber, wurde bald unverständlich. Anders seine Aussage zur „ständischen" Problematik: Seine Betonung der Funktionstrennung von Priestern und „Laien" lag und liegt nicht im allgemeinen Entwicklungstrend der Theologie. Nicht die von Knoll geforderte, als „Spartakus" und als „Konstantin" formulierte Selbständigkeit des „Laien" gegenüber der Amtskirche, sondern die allmähliche Funktionsverwischung entspricht diesem Trend[29].

Knolls Entwicklung demonstriert auch, dass der Widerstand gegen den Anschlussgedanken und der daraus resultierende Antifaschismus für den österreichischen Linkskatholizismus konstitutiv war. ‚‘Österreichischer Patriotismus und Sozialkatholizismus waren personell verflochten‘‘. Diese Verbindung gehört zu den Grundlagen des neuen Österreichverständnisses und des neuen demokratischen Konsenses und damit auch zu den Grundlagen der Zweiten Republik.

Anmerkungen #

[1] Informationen zur Person August Maria Knolls gehen auf persönliche Mitteilungen Reinhold Knolls zurück.

[2] Informationen zur überaus komplizierten Beziehung zwischen Winter und Knoll gehen auf persönliche Mitteilungen Norbert Lesers zurück, der Winter, vor allem aber auch Knoll in dessen letzten Lebensjahren sehr nahegestanden ist.

[3] Gerhard Silberbauer, Österreichs Katholiken und die Arbeiterfrage. Graz 1966, S. 189 ff.

[4] Alfred 'Missong, Einleitung zu: Ernst Karl Winter. Bahnbrecher des Dialogs. Wien 1969, S. 17 f.

[5] Dorit Weinberger, Die christliche Sozialreform Anton Orels. Phil. Diss., Univ. Wien 1966.

[6] Anton Pelinka, Stand oder Klasse? Die Christliche Arbeiterbewegung Österreichs 1933–1938. Wien 1972, S. 213 ff.

[7] Klemens von Klemperer, Ignaz Seipel. Christian Statesman in a Time of Crisis. Princeton 1972, S. 404 f.

[8] Diese Arbeit Winters wurde erst Jahrzehnte später in Buchform veröffentlicht. Ernst Karl Winter: Ignaz Seipel als dialektisches Problem. Ein Beitrag zur Scholastikforschung. Wien 1966.

[9] August M. Knoll, Ignaz Seipel. Band IX der Neuen österreichischen Biographie ab 1815.Wien 1956.

[10] Pelinka, a.a.O., S. 129 ff. » Silberbauer, a.a.O., S. 254 ff.

[11] Knoll, Ignaz Seipel, a.a.O., S. 19, über den „Terror" der Sozialdemokratie: „Diese Terrorakte hatten am Ende auch die Verfassung der Ersten Republik, ehe sie Dollfuß aufhob, am ersten Tag der Republik schon aufgehoben!"

[12] Friedrich Funder, Als Österreich den Sturm bestand. Aus der Ersten in die Zweite Republik. Wien 1957. S. 197.
[14] Pelinka, a.a.O., S. 180 ff.
[15] Silberbauer, a.a.O., S. 366 f.

[16] Die erste Kritik ist am schärfsten formuliert in August M. Knoll: Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht. Zur Frage der Freiheit. Wien 1962. Die zweite Kritik findet sich vor allem in August M. Knoll: Katholische Aktion und Aktion der Katholiken. In: Daim, Heer, Knoll: Kirche und Zukunft. Wien 1963.

[17] Knoll hat für diese Position selbst immer wieder den Begriff „liberal" verwendet. So etwa in der nachgelassenen Schrift August M. Knoll: Katholische Gesellschaftslehre. Zwischen Glaube und Wissenschaft. Wien 1966. S. 55 ff.

[18] Ernst Topitsch, Einleitung zur Zweitausgabe von August M. Knoll: Katholische Kirche und scholastisches Narurrecht. Neuwied 1968, S. 12.

[19] zit. nachTopitsch,.a.a.O., S. 13

[20] Topitsch, a.a.O., S.11 f.

[21] Persönliche Mitteilung von Norbert Leser, Ernst Topitsch bezieht sich ebenfalls darauf, wenn er davon schreibt, Knoll „wurde in kränkender Form von einer Diskussion über das Naturrechtsproblem ferngehalten, die im Anschluss an einen Vortrag seines Lehrers Hans Kelsen in Salzburg stattfand." Topitsch, a.a.O., S. 13.

[22]Zit. nach August M. Knoll: Letzte Seiten aus dem Tagebuch. In: Forum, Heft 123. März 1964,S. 134.

[23] ebenda.

[24] So etwa die Rezension von Jacques Hannak in der Arbeiter-Zeitung vom 1. Juli 1962, Beilage, S. VI.

[25] Knoll, Letzte Seiten, a.a.O., S. 134.

[28] Diese Einordnung folgt auch der Begriffssbildung bei Wilfried Daim: Linkskatholizismus. Eine katholische Initiative in Moskau. Wien 1965. Daim geht hier auch ausdrücklich auf die „liberale" Position Knolls ein, so etwa auf S. 87.

[27] Deutliche Ansätze eines „links" instrumentierten Integralismus finden sich etwa bei Wilfried. Daim: Progressiver Katholizismus. 2 Bände, München 1967.

[28] Manche Formulierungen des Zweiten Vatikanums scheinen direkt an Knoll anzuknüpfen, so etwa: „Da sie weiterhin kraft ihrer Sendung und Natur an keine besondere Form menschlicher Kultur und an kein besonderes System gebunden ist, kann die Kirche kraft dieser ihrer Universalität ein ganz enges Band zwischen den verschiedenen Gemeinschaften und Nationen bilden." Vaticanum secundum, Konstitution „Gaudium et spcs", Art. 42, zit. nach Rahner, Vorgrimmler: Kleines Konzilskompendium. Freiburg 1968, S. 490.

[29] Zu „Spartakus": Knoll, Katholische Kirche, a.a.O., S. 84 ff. Zu „Konstantin": Knoll, Katholische Aktion, a.a.O., S. 90 ff. Zur Funktionsverwischung von Priestern und Laien vgl. etwa die Diskussion über eine »mögliche gemeinsame Trägerschaft von Priestern und Laien beim kirchlichen Selbstvollzug". Kirche im Übergang. Versuch einer Situationsanalyse für die Kirche von. Wien. Herausgegeben von Jochen Schmauch im Auftrag des Präsidiums der Wiener Diözesansynode. Wien 1969. S. 91.

Quelle#

  • Neue Österreichische Biographie ab 1815. Große Österreicher Band XIX, Wien 1977