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Land der Berge, Land der hohen Ansprüche#

Absiedelung verhindern - koste es, was es wolle. Zu Besuch in der Oststeiermark.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Samstag/Sonntag, 3./4. August 2013)

Von

Simon Rosner


Straßentafeln
Schulen schließen, Pflegeheime sperren auf. Das ist Realität in den von Abwanderung betroffenen Gemeinden.RosnerSchulen schließen, Pflegeheime sperren auf. Das ist Realität in den von Abwanderung betroffenen Gemeinden.
© Rosner

Thörl. "Gott sei Dank haben wir die B20", sagt Kurt Reiter. Er führt das Gasthaus "Zum Hochschwab", das an eben dieser Straße liegt, der B20, schon in vierter Generation. Es war Reiters Urgroßvater, der einst die Idee hatte, in Thörl in der Obersteiermark ein Wirtshaus zu gründen. Damals trabten die Postkutschen über die Mariazeller Straße hinunter Richtung Kapfenberg, heute sind es vor allem Ausflügler, die hier halten. "Gott sei Dank", sagt Reiter, und wie zum Beweis betreten zwei in dickes Leder gehüllte Besucher den Gastgarten, zwei Motorradfahrer, die gerade diese Asphaltschlange bezwungen haben. "Grüß Gott".

Diese B20 ist eine Art Sehenswürdigkeit in dieser Region, ihre Kurven locken jedes Wochenende Hunderte Biker an, dabei wären Kutschen das geeignetere Verkehrsmittel. Denn der Ausblick: zum Niederknien. Oder vielleicht sogar zum Ansiedeln? "35 Euro pro Quadratmeter. In bester Lage", sagt Thörls Bürgermeister Günther Wagner. Das klingt nach Mezzie. Oder auch nach ein bisschen Verzweiflung. Ausgaben sind gestiegen

Thörl hat wie viele Gemeinden in dieser Region das Problem einer schrumpfenden Einwohnerzahl. Vor etwa 30 Jahren wohnten hier noch 2500 Menschen, jetzt sind es um 900 weniger. "Jedes Jahr sterben zwanzig bis dreißig", erzählt Wagner. Geburten heuer: zwei. "Die Abwanderung selbst haben wir aber gut im Griff", sagt der Bürgermeister. Es ist eben wirklich schön in dieser Gegend, und auch Thörl selbst sieht alles andere als verödet aus. Die Kirche wird gerade renoviert, die Häuser sind gepflegt, selbst eine ungenützte Wiese neben der Straße ist gemäht, und vor ein paar Jahren hat der örtliche Fußballverein eine neue Tribüne bekommen.

Schönheit hat aber eben auch ihren Preis. Allein der Erhalt der bestehenden Infrastruktur ist für Gemeinden wie Thörl eine Herausforderung, doch das reicht ja nicht. Es müssen neue Anreize geschaffen werden, und das bei tendenziell sinkenden Einnahmen und höheren Ausgaben. "Die Auflagen von Bund und Land steigen permanent, die Gemeinden müssen immer mehr machen, das deckt sich in keiner Weise mehr", sagt Wagner.

Dazu kommt, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung ebenfalls gestiegen sind. Die Einfachheit, die ruralen Gegenden von (urban geprägten) Landromantikern angedichtet wird, ist eher die Ausnahme denn die Regel. Die Ära des Plumpsklos ist selbst bei entlegenen Häusern vorbei, so gut wie alle kommunalen Dienste, von der Abfallentsorgung bis zum Breitband-Internet, werden als naturgegeben empfunden. "Die Leute rufen schon um sechs Uhr Früh beim Bürgermeister an, wenn der Schneepflug die Einfahrt nicht geräumt hat", sagt Reiter. Er kommt, genauso wie Bürgermeister Wagner, zum Schluss: "Die Menschen sind verwöhnt."

Günther Wagner
Thörls Bürgermeister Günther Wagner: "Es kann nicht jede Gemeinde alles haben."
© Rosner

Verwöhnte Region#

Die Mur-Mürz-Region war auch jahrzehntelang gegenüber dem landwirtschaftlich geprägten Süden der Steiermark privilegiert. Der Rohstoffreichtum ließ große Industrie-Unternehmen wachsen, so wurde auch Thörl von der Firma Pengg geprägt, die sich auf die Produktion von Drähten spezialisiert hat. In der Blüte bot Pengg nicht nur viele Arbeitsplätze, bis zu 800, sondern vor allem gut bezahlte. Für die Arbeiter gab es zudem Koks zum Heizen, Schichtverkehr sowie günstige Wohnungen. Und am Wochenende sogar Fußball auf hohem Niveau. 1985 spielte der natürlich von Pengg gesponserte Verein in der zweiten Division und wurde sogar Sechster. Wegen einer Ligareform stiegen damals aber gleich 10 der 16 Klubs ab und damit auch Thörl.

Mit der Firma Pengg ging es in den folgenden Jahren in dieselbe Richtung, also bergab, bis es in den 90er-Jahren kritisch wurde. Doch Pengg überlebte einen Ausgleich und ist heute ein gesundes Unternehmen und in einigen Sparten sogar Weltmarktführer. Nur arbeiten im Thörler Werk heute eben nur noch 220 Angestellte, nicht mehr 800 wie einst.

Und die Altersstruktur in der Gemeinde, eigentlich in der gesamten Region, bedroht so ziemlich alle Betriebe mittelfristig. Schon in zwei, drei Jahren wird es größere Pensionierungswellen geben, "und diese Schlüsselkräfte können wir nicht mit Lehrlingen ersetzen", erzählt Wagner, der im Zivilberuf das AMS in Bruck/Mur leitet. "Wenn ich als Betrieb keine Fachkräfte bekomme, muss ich weg", sagt er.

Große Fusion gescheitert#

Der Mangel an Jugend macht sich vorerst noch anderswo bemerkbar: bei den Vereinen. Es gibt noch einen Musikverein, früher gab es mehrere. "Und beim Fußballklub bringst ja heute keine Mannschaft mehr zusammen", sagt Wagner. Nun ja, eine Mannschaft schon, doch die Nachwuchsabteilung hat der SV Thörl mit der Nachbargemeinde Turnau fusioniert. Gastwirt Reiter ist auch Obmann des Fußballvereins, der nun sechstklassig ist.

Eine Fusion mit Turnau wäre auch abseits des Sports möglich gewesen. Die Landesregierung hat vorgegeben, dass die Anzahl der steirischen Gemeinden von 542 auf etwa 300 bis zum Jahr 2015 reduziert werden muss. Wagner versuchte dies für die gesamte Region Hochschwab-Süd durchzubringen, dann wären sechs Gemeinden zu einer verschmolzen mit insgesamt 6500 Einwohnern. "Das wäre die Antwort auf die Abwanderung gewesen", sagt Wagner.

Turnau aber wollte nicht, und auch mit Aflenz gab es Differenzen. Mag sein, dass es auch eine Rolle gespielt hat, dass Thörl Rot, Aflenz Schwarz und Turnau Schwarz-Blau ist. "Dabei hätten wir 13 Millionen Euro mehr bekommen", sagt Wagner. Das hätte allein die Fusion eingebracht.

Auch Gastwirt Reiter hätte sich eine große Lösung gewünscht, gemeinsam mit anderen Wirtschaftstreibenden hatte er sich zu einer Plattform zusammengeschlossen, um die Fusion zu unterstützen. Genützt es nichts. "Das wäre eine Riesenchance gewesen", sagt er.

Stattdessen herrscht nun eher ein Klima der Konkurrenz statt der Kooperation. Fährt man die B20 entlang, wirkt es ein wenig , als gebe es ein Wettbieten der Ortschaften. Im Kurort Aflenz glänzen die pastellfarbenen Villen in der Sonne, und auch in Gußwerk, kurz vor Mariazell lässt sich nicht erahnen, dass die Gemeinde fast die Hälfte ihrer Einwohner verloren hat. Alles wirkt proper, als wären die Orte für Postkartenfotos hergerichtet worden; gut für die Besucher, jedoch schlecht für die Gemeindebudgets. "Es kann nicht jede Gemeinde alles haben, das geht nicht in die Köpfe hinein", sagt Wagner.

Schulen nicht zu erhalten#

Thörl hat noch eine Volks- und eine Hauptschule, einen Friseur, ein Wirtshaus, einige Cafés, zwei Supermärkte, eine Apotheke, seit fünf Jahren ein Pflegeheim und eine Sparkasse. Dafür hat die Bank in Aflenz vor einigen Wochen ihre Filiale geschlossen, wogegen Bürgermeister wie Bevölkerung heftigst protestiert haben.

Wenn Betriebe absiedeln, reduzieren sich nicht nur die Angebote, sondern auch die Einnahmen der Gemeinde. Kommunalsteuer gibt’s nur, wenn es in einem Ort auch Arbeitsplätze gibt. Und wenn sich dann eine Schule nicht mehr erhalten kann, weil es zu wenige Anmeldungen gibt, bekommt die Abwandung eine neue Dynamik. In Gußwerk, ebenfalls an der B20 gelegen, hat es Ende der 60er-Jahre noch fünf Volksschulen gegeben, jetzt gibt es nur noch eine. Und wie Gußwerks Bürgermeister Michael Wallmann bestätigt, ist auch diese akut bedroht. "Für dieses Jahr ist sie noch gesichert", sagt Wallmann.

Und überall die gleichen Probleme: sinkende Einnahmen, höhere Ausgaben. Auch Kurt Reiter hat sein Gasthaus renoviert und neu gestrichen. Steigende Auflagen? Die kennt auch er, so hat er alle Türen austauschen müssen, da die alten in die falsche Richtung aufgegangen sind. 300.000 Euro hat er in den vergangenen zehn Jahren hineingesteckt. Um zu überleben, bietet er nun auch "Essen auf Rädern" an, angesichts der alternden Dorfgemeinde wohl keine schlechte Idee. "Aber dennoch leben wir teilweise am Existenzminimum. Mein Stundenlohn beträgt vielleicht vier bis fünf Euro", sagt Reiter. Woanders leben, wegziehen, will er nicht. Mit 50 schuldenfrei sein, mit 60 in Pension gehen, das ist sein Ziel.

Reiter hat zwei Kinder, doch eine fünfte Generation beim Gasthaus "Zum Hochschwab" wird es nicht geben. "Das kann ich mir nicht vorstellen. Familienbetriebe werden heute nicht mehr übernommen", sagt Reiter. Oder verkaufen? Für Reiter eine offenbar bizarre Vorstellung, er schüttelt den Kopf "Neuanfangen tut hier niemand mehr."

Wiener Zeitung, Samstag/Sonntag, 3./4. August 2013