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Wir erwarten eine Märchenwelt#

Lebenswelten: Das Bild der Familie hat sich im Laufe der Zeit verändert - die Ideale sind geblieben#


Von der Wiener Zeitung (Sa/So 6./7. August 2011) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Eva Stanzl und Ina Weber


  • Wenn reale Lebenssituationen und Ideale aufeinanderprallen.
  • Die liebende Familie entsprang der Romantik des 18. Jahrhunderts.
  • Neue Lebensformen oft schwer umsetzbar.

Romantisches „Familienbild” von Friedrich Tischbein (1795)
Romantisches „Familienbild” von Friedrich Tischbein (1795).
Foto: © bpk/Museum der bildenden Künste Leipzig

Mama, Papa, Kind - die Familie als kleinste Einheit des Staates, als Erfüllungsgehilfin der jeweiligen Vorstellung von Kirche, Politik und Wissenschaft, als Ausdruck von Liebe. Sie ist im Laufe der Jahrhunderte vielfältiger geworden, ihre Form unterliegt mittlerweile weitgehend der Entscheidung des Einzelnen. Das Leben im 21. Jahrhundert ermöglicht mehr Lebenskonzepte als noch vor ein paar Jahrzehnten, und doch wird vor allem in den Medien nach wie vor ein Bild der idealen Kleinfamilie suggeriert, das eigentlich aus dem 18. Jahrhundert stammt: die fürsorgliche Mutter, der liebende Vater und die wohlbehüteten Kinder. Alle glücklich. Alle glücklich?

An sich stammt der Begriff "Familie" vom lateinischen Wort "familia" ab und wurde hierzulande erst ab dem 16. Jahrhundert verwendet. Er bedeutete nicht Eltern und Kinder, sondern die Hausgemeinschaft. Damit war der Besitz des Mannes als "pater familias" gemeint, zu dem der gesamte Hausstand mit Ehefrau, Kindern, Sklaven und Vieh gehörte.

Die Ehe hat ihren Ursprung in der Bibel. Dort gilt sie als Zufluchtsort, wo Sexualität und Erotik gelebt werden konnten; allerdings ausschließlich zum Zwecke der Fortpflanzung. Nachkommen garantierten nicht nur die Erhaltung der Art, sondern auch das ewige Leben durch die Weitergabe der eigenen Gene. Weitere Ziele der Ehe waren die physische Versorgung, die Aufzucht und Sozialisation der Nachkommen und die Bildung einer wirtschaftlichen Produktionseinheit. "Zu den Pflichten des Hausvaters zählte die Aufrechterhaltung der Ordnung im Haus und der materielle und spirituelle Erhalt der Hausgemeinschaft. Zu jenen der Hausmutter gehörten Arbeiten zur Sicherung der Existenz der Familie sowie die Herrschaftsausübung über Kinder und Gesinde", erklärt Elisabeth Vavra, Direktorin des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Somit war die Ehe auch eine Arbeitsgemeinschaft: Die Frau kümmerte sich um die Aufzucht der Mädchen, der Mann sich um jene der Buben, sobald diese das Kindesalter erreicht hatten.

Erst die Aufklärung im 18. Jahrhundert verknüpfte die Ehe mit romantischen Vorstellungen. Gehörten zuvor noch alle in einem Haus tätigen Menschen dazu, von der Amme über die Mägde bis zu den Großeltern, so schrumpfte die Familie nun zum Vater-Mutter-Kind-Verband.

Die ideale Familie#

"Das Bild der idealen Familie entsprang der deutschen Romantik", sagt Vavra und verweist auf das "Lied von der Glocke" von Friedrich Schiller aus 1799: "Die züchtige Hausfrau / Die Mutter der Kinder, / Und herrschet weise / Im häuslichen Kreise (...) Und der Vater mit frohem Blick / Von des Hauses weitschauendem Giebel / Überzählt sein blühendes Glück." Wohl legten die männlichen Schöpfer der Aufklärung theoretisch den Wert größerer Individualität in der Liebe fest. Doch sie verbannten auch die Gleichberechtigung aus der Liebe.

"Das Problem war, dass die Aufklärer und Romantiker zwar nur noch Ehen aus Liebe sehen wollten, doch gleichzeitig musste der Mann seine Macht sichern", sagt Vavra. Und so wurden der Frau eindeutige Charaktereigenschaften zugewiesen. Sie war sensibel, introvertiert, fürsorglich und seiner Hilfe bedürftig. Er war nach außen orientiert, weitsichtig, stark und führte die Familie. Friedrich Tischbeins Gemälde "Familienbild" zeigt die ideale bürgerliche Familie der klassischen Romantik aus 1788. Die Mutter stillend und fürsorglich, glücklich. Der Vater, zugetan, stolz, glücklich. Beiden liegt die Natur (die Welt) zu Füßen.

Mutter von heute
Eine Mutter von heute.
Foto: © Klaus Tiedge/Corbis

Damals wie heute war das Ideal der Familie allerdings nur mit den notwendigen ökonomischen Ressourcen zu verwirklichen. In Arbeiter- und Bauernfamilien mussten nach wie vor alle arbeiten, für sie wurde das bürgerliche Ideal erst in den Industriesiedlungen Ende des 19. Jahrhunderts Realität, deren Betreiber die nötige Infrastruktur zur Verfügung stellten.

Ökonomische Zwänge geben bis heute den Takt des Lebens vor - jedoch ist die Auswahl größer. Denn während noch im 19. Jahrhundert die Unterschichten als Mittel der Armutsbekämpfung in den Städten eine behördliche Genehmigung brauchten, um zu heiraten, sind heute die unterschiedlichsten Lebensmodelle möglich.

Frauen sind berufstätig, die Anti-Baby-Pille erlaubt sexuelle Freiheit. Die Ehe muss in kein wirtschaftliches Modell mehr passen. Und auch nach der Kirche richtet sich die Familie nicht mehr, außer als selbst gewählte Instanz mit Vorbildwirkung. Im Allgemeinen ist die Unabhängigkeit für Mann und Frau das Gebot der Stunde.

Die heile Welt#

Doch welche Ideale hat die Familie heute? "An die Stelle der Kirche sind die Medien getreten, die den Ton angeben", betont Vavra. Früher porträtierten Künstler ihre Auftraggeber in idealen Posen, heute tun dies die Klatschspalten mit ihren Filmstars, welche für die Masse Vorbildwirkung haben: Tom Cruise, Katie Holmes und die kleine Suri als perfekte Familie. Auch Film, Fernsehen und Werbung für Waschmittel bis hin zu Versicherungen haben diese Funktion übernommen: "Es ist eine Propaganda der heilen Welt. Der Inhalt der Propaganda ist aber seit dem 18. Jahrhundert in den Grundzügen gleich geblieben." In diesem Sinn bedienen die Medien die Erwartungen der Rezipienten. Die Menschen wollen Bilder von ihren Wunschvorstellungen - sie wollen sie mit eigenen Augen sehen wie als Beweis, dass es diese Märchenwelt tatsächlich gibt. "Und, wenn sie sie gesehen haben, sind sie umso frustrierter, weil sie sie in der Realität nicht umsetzen können", so Vavra.

Möglicherweise ist die Tatsache, dass das Bild der idealen Familie noch immer gilt, tief verwurzelten anthropologischen Vorgängen geschuldet. Dazu könnte der Wunsch nach Unsterblichkeit zählen. Früher hatten die Menschen Angst, ohne Nachkommen in Vergessenheit zu geraten. Heute ist der Wunsch nach Familie auch Teil der eigenen Selbstverwirklichung, die einem mitunter die Angst vor der eigenen Sterblichkeit nimmt.

Familie im Wandel#

Der Wandel der Familie ist ständig im Gang. Jedoch verläuft er in relativ großen zeitlichen Etappen. Idee, Theorien und Ideale sind schnell zur Hand, doch es dauert oft Jahrhunderte, bis eine Veränderung greift. Dem Bild der idealen bürgerlichen Kernfamilie mit Vater, Mutter, Kind konnte die breite Masse erst im 20. Jahrhundert entsprechen. Seine Umsetzung erlangte ihren Höhepunkt in den 1950er Jahren, als die Bevölkerung auf der Suche nach Leichtigkeit war und - vermutlich unbewusst - psychische Krisenbewältigung nach dem Trauma der Weltkriege betrieb. Man gründete eine Familie, kaufte Staubsauger, Waschmaschinen und ging ins Kino. Die Frau blieb daheim, der Mann ging arbeiten.

Heute sieht die Realität anders aus. Ein Lebenslauf beinhaltet eine Vielzahl von Lebensabschnitten. Die steigende Lebenserwartung ermöglicht mit 40 Jahren einen Neuanfang. Vor 200 Jahren als die Menschen kürzer lebten, wäre dies undenkbar gewesen. Heute steht 30-Jährigen alles offen. Doch die Wahl fällt schwer: Entscheidet man sich für eine Familie, könnte die Karriere leiden, entscheidet man sich für ein Single-Leben, könnte der Kinderwunsch zu kurz kommen. Wählt man Beruf und Familie, steht man vor komplexen organisatorischen Herausforderungen, und eine Patchwork-Familie erfordert ein hohes Maß an psychologischer Feinfühligkeit.

Ob sich ein Wandel im Familienbild jenseits der alten Ideale vollziehen kann, hängt aber nicht zuletzt davon ab, "inwieweit die ökonomische Situation der Gesellschaft diesen auch zulässt", so Vavra. Denn in schlechten Zeiten beginnt der Rückzug - in das Märchen der heilen Familie.

Wiener Zeitung, Sa/So 6./7. August 2011