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Privatsphäre im Jahr 2048#

Birgit Vera Schmidt

Montag, 16. März 2048, 09:17 Uhr. "Entschuldigung" ächzte ich beim Betreten vom Büro des Chefs, von der Stiege noch ganz außer Atem, "ich bin mit meinem Mobil eine halbe Stunde im Stau gestanden." Mein Chef Stradinger dankt es mir mit einer kritisch hochgezogenen Augenbraue.

"Soso," fragte er süffisant, "und wo hat dieser sagenhafte Stau stattgefunden? Bei Ihnen im Wohnzimmer?" Natürlich war ich nicht im Stau gestanden, sondern hatte verschlafen. Aber woher er das schon wieder wusste?

"Während der Arbeitszeit habe ich schließlich Zugriff auf Ihre GPS-Daten," beantwortete er meine unausgesprochene Frage. Ahja, natürlich. Dieser vermaledeite Chip, den ich wie jedes Kind zwei Tage nach meiner Geburt implantiert bekommen hatte, und der alle paar Sekunden meinen aktuellen Standort an das zentrale Rechenzentrum übermittelte.

"Worum ist es bei dem Streit mit Ihrer Frau gestern Abend gegangen?", fragte er mich weiter aus. "Der ... Was für ein... Ich meine, woher wissen Sie...?" stammelte ich. "Naja, den GPS-Daten nach haben Sie im Wohnzimmer übernachtet, Ihre werte Frau Gemahlin aber nicht."

Aha. Obwohl, Moment... "Das war aber nicht während der Arbeitszeit!" protestierte ich. "Oh doch," grinste er mich an, "in Ihrem Vertrag steht nämlich, dass die Arbeitszeiten 'individuell angepasst werden können um den Arbeitsprozess zu unterstützen'. Falls ich also, sagen wir, die heutige Nacht als Arbeitszeit eingetragen hätte, ..." "... wäre das nicht ganz rechtmäßig," setzte ich seinen Satz fort. "Und wie sind Sie an die Daten meiner Frau gekommen?"

"Verdammt, jetzt haben Sie mich erwischt," gab er verschmitzt zu. Wusste ich doch, dass er einfach den Testzugang benutzt hatte. Unsere Firma entwickelte unter anderem nämlich diese Sicherheitssysteme für den Staat mit, und entsprechend hatten wir zu Testzwecken Zugriff auf alle Daten.

"Wie auch immer, ich glaube, worum es bei dem Streit gegangen ist hat nichts mit meiner Arbeit zu tun." wagte ich einzuwenden. "Nein, natürlich nicht. Und keine Sorge, ich weiß ohnehin schon, dass es wahrscheinlich um die Erziehung Ihrer Tochter ging."

Ich sagte gar nichts. Er brannte ohnehin darauf, mir zu erzählen, mit welchem cleveren Trick er das schon wieder herausgefunden hatte. Den Gefallen, jetzt auch noch neugierig nachzufragen, wollte ich ihm nicht tun. Leicht enttäuscht darüber fuhr er fort: "Sie und Ihre Frau haben gemeinsam die Spätnachrichten auf NoviSAT angeschaut, als Ihre Tochter betrunken nach Hause gekommen ist. Fünf Minuten nachdem Sie sie ins Bett gebracht haben, ist der Streit dann losgegangen. Nicht schwer zu erraten, worum es gegangen ist, oder?"

"Das nicht... Aber woher wussten Sie das Programm, und dass meine Tochter betrunken war, und wann der Streit losgegangen ist?" Was man heutzutage alles bequem vom Bürostuhl aus herausfinden konnte, verblüffte mich immer wieder. "Das Fernsehprogramm aus der minutengenauen Abrechnung Ihres Rundfunkanbieters. Und den Rest aus den staatlichen MediSensoren. Katja hatte ziemlich hohe Leberwerte, als sie nach Hause gekommen ist, und der Blutdruck und Adrenalinpegel von Ihnen und Ihrer Frau ist während dem Streit ganz schön nach oben gegangen."

Die MediSensoren. Ich seufzte innerlich. Sieben von den Dingern hatte ich mittlerweile in meinem Körper, zwei davon inaktiv. Mit jeder neuen Technologie kam sofort wieder der nächste MediSensor auf den Markt, den man sich verpflanzen lassen musste. Die nächste Generation, die im Juni erscheinen sollte, würde angeblich mit dem persönlichen Finanzsystem verbunden sein, und bei zu hohem Cholesterinspiegel den Kauf zu fetthaltiger Lebensmittel verbieten.

"Ich finde halt, es ist nichts dabei, wenn Katja einmal länger aus ist. Mit 17 ist das doch ganz normal, oder?" philosophierte ich. Dass sie nicht mehr Alkohol kaufen konnte, als sie vertrug, beruhigte mich irgendwie. Die MediSensoren hatten wohl auch ihre guten Seiten. "Wirklich, ich will ihr da ihre Freiheit lassen und sie nicht bei jedem Schritt überwachen. Meine Frau würde sie ja am liebsten Tag und Nacht im Auge behalten vor lauter Angst, sie könnte Unsinn machen..."

"Das verstehe ich," antwortete Stradinger, "und mit 17 ist es ja auch ganz normal, schon einen fixen Freund zu haben..."

"Freund?!" Hätte ich in dem Moment schon meinen heißersehnten Frühstückskaffee gehabt, hätte ich mich jetzt verschluckt. Das Funkeln in Stradingers Augen war jetzt nicht mehr zu übersehen. Natürlich hatte mich die Neugier gepackt, und er hatte mich an der Angel. "Was für ein Freund?", fragte ich gehorsam weiter.

"Jonas Antheberg." verkündete er triumphierend. "Und woher... ?" hakte ich nach. "Facebook. Es gibt wohl Gründe, warum Ihre Tochter Ihnen keine Freigabe für ihr Profil gibt.", plauderte er aus dem Nähkästchen. "Wogegen mein Sohn ja bis vorletztes Jahr in der gleichen Schule war und die Profile noch immer verbunden sind. Und Ihre Tochter hat Jonas dort schon offiziell als Freund eingetragen." Aha. So machte man sowas heutzutage also "offiziell".

"Und wer ist dieser Jonas Antenheimer?", hakte ich nach. "Antheberg. Es interessiert Sie also doch?", grinste er. Er ließ den Satz unvollendet und drehte sich zu seinem Computer um. "Kommen Sie her," winkte er sich zu mich. Er öffnete die Google-Personensuche und tippte den Namen ein. "Jonas Antheberg", stand da, geboren 24.2.2029, Grafner-Volksschule in Graz, dann BG&BRG Altenbergstraße, ebenfalls Graz, Matura mit gutem Erfolg in den Fächern Mathematik, Englisch und Geographie, jetzt Studium der Genetischen Algorithmik an der TU Graz im 2. Semester, Matrikelnummer 4730837. Der Typ war 2 Jahre älter als mein Mädchen und schon an der Uni!

Weiters hatte die Suche noch einen Link auf seine Maturaarbeit zu Tage gefördert, seine Telefonnummer, homepage, zwei blogs, und nicht zuletzt einige Fotos. Jonas, der mit ein paar Gleichaltrigen an einem Biertisch sitzt und lacht. Jonas in Kletterausrüstung an einer Trainingswand. Jonas, der kotzend über einer Klobrille hängt. Jonas mit dem neuen Führerschein in der Hand im ersten eigenen Auto. Und: Jonas und Katja! Händchenhaltend auf einer Picknickdecke im Stadtpark.

"Moment," fügte Stradinger hinzu, "eigentlich müsste er doch im CareerNet auch eingetragen sein." Mit einigen Handbewegungen öffnete er das entsprechende System und rief die Prüfungsstatistiken ab. Als Arbeitgeber konnte man die Leistungskurve jeder Person vom Kindergarten bis zum aktuellen Tag abrufen, wobei Schwankungen durch unterschiedliche Lehrer schon herausgerechnet waren. Die Kurve von Jonas war recht konstant bei etwa 84%, bis auf einen ziemlichen Einbruch während der fünften Klasse. Ein Blick auf das vorige Suchergebnis verriet, dass in diesem Jahr seine Mutter gestorben war. Der Sprung zurück auf das normale Leistungsniveau fiel zusammen mit einem vierwöchigen Aufenthalt in einer stationären Drogenentzugsklinik, wie Stradinger über die für Arbeitgeber ebenfalls frei zugängliche Gesundheitsdatenbank herausfand.

"Und wo haben die beiden sich kennengelernt?", überlegte ich laut. Schließlich waren sie ja nicht auf der selben Schule... "Na, dann schauen wir mal, was unsere Systeme so alles können," antwortete Stradinger, und begann eifrig zu tippen. Offensichtlich suchte er in der GPS-Datenbank nach Momenten, zu denen die aufgezeichneten GPS-Positionen der beiden weniger als 20 Meter voneinander entfernt waren. "Zum ersten Mal getroffen haben sie sich ... vor drei Jahren bei einer Bildungsmesse. Obwohl..." Ich beobachtete gemeinsam mit ihm am Wanddisplay zwei rote Punkte, die sich in einem Gebäudegrundriss hin- und herbewegten. "Offensichtlich haben sie sich an dem Tag gar nicht gesehen, sondern waren nur zufällig im gleichen Gebäude."

Nach einigen weiteren solcher "Treffen", bei denen sie erfolgreich aneinander vorbeigelaufen waren, fanden wir dann in der GPS-Datenbank den entscheidenden Tag. "Das Chinarestaurant neben der Schule. Da war wohl... " Er öffnete ein zweites System, und ich erkannte die Oberfläche der geschäftsstatistischen Auswertung. "Ja," setzte er fort, "da war das Restaurant recht voll an dem Tag und..." Er beobachtete wieder die roten Punkte, die sich diesmal auf dem Grundriss des Chinarestaurants tummelten. Der mit "Katja" beschriftete Punkt verharrte neben einem Tisch auf einem Stuhl -- die Sensordaten des Restaurants meldeten, dass auf dem Stuhl ein Gewicht von 68.7 kg lastete und das Menü auf dem Tisch 732 kcal hatte und 6.43 Euro kostete --, der zweite Punkt mit Beschriftung "Jonas" näherte sich langsam. Stradinger setzte seinen Satz fort: "... und da fragt er sie wahrscheinlich, ob er sich dazusetzen darf."

Stradinger erhöhte die Geschwindigkeit, und wir beobachteten die beiden Punkte, wie sie gegenüber am Tisch saßen und schließlich das Gasthaus gleichzeitig, aber in verschiedene Richtungen verließen.

"Bezahlen Sie noch die Telefonrechnungen Ihrer Tochter?", fragte Stradinger mich. Ich nickte. Er öffnete das Servicesystem meiner Telefongesellschaft und ich logte mich mit meinem Daumenabdruck und dem dazugehörigen Sicherheitschip unter meinem Daumennagel ein. Ein paar geschickte Abfragen, und Stradinger hatte das entsprechende Datum herausgefunden. "Hier," zeigte er auf einen Eintrag in der Tabelle, "kurz vorm Verlassen des Restaurants ruft sie seine Nummer an, und er hebt nicht ab. Da haben sie also Telefonnummern ausgetauscht." Er ließ die Suche nach Zusammentreffen der roten GPS-Punkte weiterlaufen, und wir entdeckten die beiden nebeneinander im Kino wieder, im Film "Alles oder mehr", 9.Reihe, zum Schülertarif. Langsam begann ich mich unwohl zu fühlen, bei dem, was wir da taten. Eigentlich ging mich das ja wirklich nichts an...

"... und da nach dem Kino gehen sie noch essen... und dann gemeinsam in den Supermarkt.", kommentierte er das Geschehen. "Wollen Sie wissen, was sie gekauft haben?" Wollte ich es wissen?