Wo die Gletscher Trauer tragen #
In tiefer Trauer geben wir bekannt, dass nach Jahrhunderten stolzer Mächtigkeit die Gletscher dem abschmelzenden Siechtum zum Opfer gefallen und von uns gegangen sind. Sie werden uns fehlen. #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von DIE FURCHE (Donnerstag, 26. November 2015)
Von
Wolfgang Machreich
In schwarze Schleier gehüllt, um nicht schneeblind zu werden, und verbunden durch Alpenstangen, um nicht in Spalten zu fallen, stapften sie wie ein Trauermarsch den noch bis ins Tal von Chamonix reichenden Bossons-Gletscher hinauf. „Man sieht hier kein lebendes Wesen, keine Spur von Gewächsen; hier ist die Wohnung des Erstarrens und der Stille“, wird Horace Bénédict de Saussure diese Eiswelt beschreiben, nachdem der Naturforscher am 3. August 1787 den Mont Blanc bestiegen und damit den Alpinismus erfunden hat. Für einen Nachruf auf die Gletscher sind Saussure und dieses Datum insofern wichtig, da er mit seinem forschenden Blick auf die Bergwelt am Anfang eines Beziehungswandels zwischen Mensch und Gletschern steht.
Das erste Bild eines Gletschers war erst Mitte des 17. Jahrhunderts veröffentlicht worden. Es zeigte den Grindelwald-Gletscher im Berner Oberland: wild aufgetürmte Eiszacken, mehr Ungeheuer als Naturschauspiel. Kein Wunder, gilt doch bis weit ins 18. Jahrhundert das Urteil des römischen Geschichtsschreibers Livius von der „foeditas alpium“, der Hässlichkeit der Alpen. „Wo aber noch kein Interesse ist, gibt es auch keine Wahrnehmung, gibt es noch keine Bilder des Gletschers“, heißt es in einem Aufsatz des Marburger Kulturwissenschafters Martin Scharfe. Solange Gletscher nur Ratlosigkeit erzeugten, „was mag die Natur, was mag Gott im Schilde geführt haben mit diesen nutzlosen und hässlichen Eis-Wüsten? – malt ihn kein Maler“. Erst die „Physikotheologie“, dass alles was ist, von Gott mit Weisheit geschaffen wurde, bringt laut Scharfe den Meinungsumschwung. Noch pilgern zwar „Gletscherprozessionen“ bis ans Ende der Eismeere um mit Gottes Segen das weitere Vorstoßen des Eises oder Ausbrüche der Gletscherseen zu bannen; noch werden Gletscherkreuze zum Schutz vor einer „Verheerung des Thales“ aufgestellt. Gleichzeitig setzte sich aber auch das Wissen um die Zusammenhänge zwischen den eisigen Höhen und den fruchtbaren Ebenen durch. Scharfe: „Es bedurfte erst nicht nur der äußeren (das heißt: der technischen), sondern auch der inneren (also: der mentalen) Aneignung der wilden Alpennatur, damit sich Gemüt und Auge beruhigen und Bilder des Gletschers gemalt werden konnten, wie unser Auge sie sieht.“
Malerische Eiswelten #
Einer dieser technischen und mentalen Aneigner der Gletscherwelt, von den Alpen bis in die Polarregionen, war der altösterreichische Bergpionier, Polarfahrer und Historienmaler Julius Payer. Anlässlich seines heurigen 100. Todestags hat der Frankfurter Historiker Frank Berger die umfangreiche Biografie „Julius Payer – Die unerforschte Welt der Berge und des Eises“ (Tyrolia, 2015) verfasst, in der Payer auch die Intention seines Forschens beschreibt: „Allen Hindernissen trotzend treibt der Forschungs- und Wissenschaftsdrang den Menschen in immer neue unbekannte Gebiete unseres Erdballs; … Unbefriedigt, nur etwas und nicht alles zu wissen, durchschifft der kühne Seefahrer die Polar-Meere, durchzieht der Reisende die brennenden Wüsten Afrikas wie die endlosen Urwälder Amerikas, besteigt die höchsten Gebirge, um entweder durch die Krater in die Eingeweide der Erde zu blicken oder auf Gletscher-Wanderungen der Natur ihre Geheimnisse abzulauschen und aus dem Baue und der Beschaffenheit der kolossalen Erdgerüste die Art ihrer Entstehung und Bildung, überhaupt das ‚Werden‘ zu errathen.“ Diese Selbstdefinition stammt aus Payers Artikel über seine Großglockner-Besteigung 1863. In der Biografie finden sich auch Payers Bilder von der Südansicht des Glockners und seines Aufstiegwegs. Dem heutigen Betrachter ins Auge stößt das viele Gletscherweiß, das Payer rund um den Glocknergipfel gemalt hat, wo heute nur mehr schwarzer Felsen dominiert.
Die Gletscher und das Heimatgefühl #
Nach Payers Bergtour ist auch die Temperatur in der Glocknergruppe und den ganzen Alpen kontinuierlich gestiegen, seit 1880 um zwei Grad – heißt, dass die beim Pariser Klimagipfel als Mindestziel angestrebte Begrenzung der globalen Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius in den Alpen erreicht oder jetzt schon überschritten ist. Dementsprechend schwarz schauen die Prognosen der Glaziologen-Zunft für ihren eisigen Forschungsgegenstand aus. Viele Gletscher sind bereits verschwunden, alle jene, deren Nährgebiet unter 3000 Meter liegt, werden in den nächsten Jahrzehnten ausapern, nur in noch höher liegenden Regionen ist eine Stabilisierung möglich, nur ein Viertel der heutigen Gletscherflächen dürfte übrig bleiben. Für den Züricher Glaziologen Wilfried Haeberli geht mit dem Gletscherschwund nicht zu Unrecht auch ein Verlust an Heimatgefühl einher: „Die Leute lieben die Gletscher und trauern, wenn sie nicht mehr da sind“, hat er der FURCHE schon vor Jahren vorausgesagt, „sie fangen an zu realisieren, dass wir vielleicht nicht unschuldig an dieser Entwicklung sind. Die entgletscherten Alpen werden für die kommenden Generationen Beweis dafür sein, was unsere Generation verursacht hat.“
Wobei sich die Beziehung zwischen Mensch und Gletscher schon in den uralten Sagen findet, die das Vordringen der Gletscher als Reaktion auf in Saus und Braus lebendes, selbstsüchtiges und arme Bittsteller abweisendes Alm- und Bauernvolk erklärt. Gletschermesser Werner Slupetzky zieht in seinen im AV-Magazin Bergauf publizierten „Heißzeitgedanken“ erneut eine Parallele zwischen menschlichem Verhalten und Gletscher-Reaktion: „Man könnte auf den Gedanken kommen, die Überhitzung der Gemüter, die Hektik, Stress, der seelische Druck und Überdruck der Menschen führt zu einer Überhitzung der Erde. Die Außenweltüberhitzung ist abhängig von unserer Innenweltüberhitzung.“ Martin Scharfe kommt zum gleichen Resümee, wenn er die Alpen den empfindlichsten Seismograf für die Wirkungen der menschlichen Zivilisation nennt: „Es grinst uns also heute aus den Alpen die Fratze unserer eigenen kulturellen Bedürfnisse und Lüste entgegen.“ Die Gletscher werden damit zum Demonstrationsobjekt für den Klimawandel. Bleibt zu hoffen, dass die Pariser-Klimagipfler im Sommer eine Gletschertour oder zumindest einen Blick hinauf zum nicht mehr ewigen Eis gewagt und daraus ihre Lehren gezogen haben.