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VI, Biographisches. 455
Ein Erlebnis.
1-^2, 5, Mai, Gestern begegnete mir einer
der sonderbarsten Vorfälle in meinem Leben,
Frau v, P,, deren Tochter, die ich gelaunt, vor
einiger Zeit gestorben ist, läßt mich bitten sie zu
bauchen. Beinahe ein volles Jahr vor dem Tode
ibrcr Tochter war ich aus ihrem Hanse wegge-
blieben, teils weil ich in dem dort herrschenden
Tone etwas Gesuchtes zu bemerken glaubte, teils
weil ich fürchtete, es könne durch Zeit, Gewohn-
heit und Gerede der Leute ein näheres Verhält-
nis zwischen mir und der Tochter vom Hause,
einem übrigens höchst geistreichen, gebildeten,
gntcn Mädchen entstellen, das, wenn auch nicht
allen Ausdruck schonen Wuchs, auch äußerliche
Vorzüge gcuug besaß, um eine solche Furcht uicht
ungegründet zu machen. Zu all dem gesellte
'iftösiln'U, und kurz, ich blieb weg, Nach
^'lxuen Versuchen, mich wieder in ihren Kreis
,i,i ii^hcn, stellte sich auch die P,sche Familie
wenig mehr an mich dächten, als ich an sie.
Verflossenen Winter höre ich plötzlich, Marie P,
sei schwer trank, Sie war mit ihrem Bruder
l^i üi^nr,,, )I,,K'l ^, auf dem Balle gewesen,
batte stark getanzt, während ihr Bruder, der
sich unwohl befand, unmäßig Tee trank, um
zu befreien, dadurch aber nur das Übel stärker
machte und vor Schluß des Balles mit seiucr
Schivester nach ,^ a>ise fahren mußte. Zu Haufe
cheu in ihrer Gutmütigkeit will niemand wecken,
läuft selbst, noch vom Tanzen erhitzt, in die
!lml,e, macht Tee, wärmt Tücher, besorgt den
in heftigem Fieber, sie hat sich erkältet und ist
nun selbst sehr lrank. Die Krankheit nimmt zn,
gleist besonders auf die Neruen, weicht aber doch
rndlich der vereinten Bemühung geschickter
"'li',ie, nud das Mädchen naht der Genesung,
Beinahe erst in diesem letzten Zeiträume er-
fahre ich etwas von der ganzen Sache, In
', ob ich hiiilU'ln'n soll, oder nicht, ent-
, iich meine Trägheit, wie gewöhnlich, für
da^ letztere, und ich ging nicht. Kurz darauf
Iwre ich, das Mädchen fei von neuem in die
.'lllin!l,eit zurückgefallen, die nun ganz einen
urlvoseu Charakter angenommen habe, und als
diese, wie um etwas ganz Bekanntes: Dn weißt
ja doch, daß Marie P, gestorben ist? Ich war
-splittert, obgleich mehr über das Un-
enuartete, als über die Cache selbst, obschon
ich das Mädchen wahrhaft geschätzt hatte und
ilnen Umgang ae^>/i gesucht haben wurde, weuu nehmcs Licht auf sie selbst geworfen hätte.
In ein paar Tagen darauf war das
kirche vorüber, als man eben die Anstalten
dazu machte und ward innerlich ergrimmt über
mich, daß mich der traurige Fall so gleichgültig
lasse. Ich nahm es als einen neuen Beweis
fundenen allmählichen Verhärtung des Herzens,
das mich zuletzt noch zu einem Ideenegoisten
machen wird, wie es Egoisten des Vorteils gibt.
Nie gesagt, ich ärgerte mich über meine Ge»
auf die Probe zu stellen, wie weit das ginge,
Ner Leichenzug tam, die Bahre, mit dem Iung-
fraucnkranz geziert, hinterher der alte, gräm»
liche Bediente, der mir oft, wenn ich ueben dcm
Mädchen saß, die Teller gewechselt, sonst barsch,
wankend bei all seiner derben Beleibtheit, Alle
Anwesenden weinten „über das brave, schöne
Fräulein, das so wohl ausgesehen, und so früh
schlechtes gehende; nur wenn ich mir in der
Phantasie das Mädchen, im Sarge liegend, mit
geschlossenen Augen, mit gefalteten Händen, aus-
mit ein, das aber bald wieder verschwand.
Ich habe diese Verstocktheit, diese Gefühl«
lofigkeit znr Zeit, wenn mich fremdartige Ideen
beschäftigen, oft mit innerliche!,! Grauen an mir
ich lehnte während der Grabgesnnge, in Tumpf'
heit versunken, an der Wand und ging ebenso
wieder nach Hause, Am vorhergehenden Tage
Verstorbenen bei einem Spazicrgange begegnet,
ich wollte sie nicht ansprechen und grüßte nur
im Vorübergehen, Ner Bruder sah zur lHrde,
Ner Vater aber warf mir einen halb trostlosen,
Tie Sache war für mich abgetan, ich dachte
so lächerlich es klingen mag. Von Jugend auf
war ich nicht frei von Gespenstcrfurcht, die aber
von Zeit zu Zeit bei einzelnen Anläfsen bis
als ich die Ahnfrau schrieb,' dann nicht bei
meines Vaters, wohl aber sehr bei meiner
nis kehrte sie auf einmal sehr heftig wieder.
Alle Abende glaubte ich, Marie P, müsse mir
! Vorwürfe machen, daß ich mit Ursache an ihrem
Grillparzers sämtliche Werke
Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern, Band II
- Titel
- Grillparzers sämtliche Werke
- Untertitel
- Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern
- Band
- II
- Herausgeber
- Rudolf von Gottschall
- Verlag
- Hansa-Verlag
- Ort
- Hamburg
- Datum
- 1906
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.2 x 15.9 cm
- Seiten
- 552
- Schlagwörter
- Dramatik, Literatur, Gedichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik