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Zibulivka#

Brigitte Landesmann#

Zibulivka
Lage von Zibulivka

Die Stadt Czernowitz hat ihre eigene Geschichte wiederentdeckt. Schön herausgeputzt empfängt sie ihre Gäste, die mittlerweile zahlreich auf der Suche nach der legendären Vergangenheit kommen. Abends in der märchenhaft beleuchteten Innenstadt zwischen den, in den letzten Jahren für die Feiern zum 600 jährigen Stadtjubiläum renovierten Häusern, wähnt man sich tatsächlich zurückversetzt in die Zeit der Monarchie, als Czernowitz der fernen Hauptstadt Wien nicht nur nacheifern, sondern auch mit ihr in kulturellen Belangen konkurrieren wollte. Nach den Jahren des Krieges, der rumänischen, deutschen und sowjetischen Besatzung existiert das alte Czernowitz nur mehr in der Erinnerung der aus jener Zeit überlebenden, nun weltweit zerstreuten Menschen und als Mythos, der auch in immer zahlreicher werdenden Publikationen gehegt und gepflegt wird. Die heutigen Bewohner der Stadt allerdings haben keine Beziehung zur Geschichte ihrer Stadt, ja wissen zum Teil gar nichts davon, wollen vielleicht auch gar nichts davon wissen.

Ich möchte wissen, wie es um das Geschichtsbewusstsein an weniger ruhmreichen Orten in der Umgebung steht und mache mich auf den Weg in das ehemalige Gebiet Transnistrien. Transnistrien ist ein künstlicher geographischer (und heute nicht mehr verwendeter) Begriff für das Gebiet zwischen den Flüssen Bug und Dnjestr in der heutigen Ukraine, das 1941 – 1944 von den rumänischen und deutschen Truppen besetzt wurde. In diesem Gebiet wurden zahlreiche Konzentrationslager errichtet, in die Juden (und Roma) aus Bessarabien, der Bukowina und dem Süden Rumäniens deportiert wurden; diese wurden zum Massengrab für an die 400.000 Menschen. Die Lager wurden im März 1944 von der Roten Armee befreit.

Nach 7-stündiger Fahrt auf teilweise sehr schlechten Straßen erreiche ich das ca. 300 km östlich von Czernowitz gelegene Dorf Zibulivka, in dessen unmittelbarer Umgebung sich einige größere Lager befanden. Die sanft hügelige Landschaft mit weiten Feldern und zahlreichen Teichen kann man durchaus als lieblich bezeichnen. Im Dorf selbst scheint die Zeit im 19. Jahrhundert stehen geblieben zu sein. Es ist ein langgezogenes Straßendorf mit bunten Holzhäusern, die etwas zurückgesetzt entlang der Straße hinter ordentlichen Vorgärten stehen; jedes Haus mit einem Ziehbrunnen. Auf der Straße sieht man Pferdefuhrwerke, Kühe, die von ihren BesitzerInnen an der Leine geführt werden, sowie freilaufende Gänse und Enten. Wie in fast jedem ukrainischen Ort gibt es auch hier eine neue Kirche.

Ich erkundige mich in dem ebenfalls neu errichteten Gemeindeamt nach Spuren der ehemaligen Lager und werde an Frau Halina verwiesen. Halina ist eine quirlige ältere Frau, die sich hocherfreut über meinen unangemeldeten Besuch zeigt und auch sofort zu erzählen beginnt. Als erstes zeigt sie mir stolz eine Urkunde, die ihrer inzwischen verstorbenen Mutter 1994 von Yad Vashem in Jerusalem zuerkannt wurde und sie als „Gerechte unter den Völkern“ ausweist. Anschließend schlägt sie vor, die Stätten der Lager aufzusuchen. So folge ich ihr auf kleinen Wegen abseits der Straße entlang der Felder und hinauf in die Hügel. Am Ziel angekommen, finde ich zu meiner Überraschung mitten in einem Feld ein, von einer Kette abgegrenztes und nicht bebautes Areal, in dessen Mitte ein Grabstein steht. 2004 wurden auf Initiative eines ehemaligen Lagerhäftlings in Kooperation mit der Gemeinde überall dort, wo man sich an Massengräber erinnert, Gedenksteine errichtet. Nach einer kurzen Gedenkpause gehen wir weiter zum nächsten Stein; insgesamt sechs solcher Steine stehen in der näheren Umgebung an verschiedenen Orten. Sehr wahrscheinlich gibt es noch andere Gräberfelder, deren Ort man allerdings nicht genau kennt. Einsam stehen diese Grabsteine da, schon von weitem erkennbar inmitten der Getreidefelder; gelegentlich finden sich ein abgebranntes Grablicht, ein zurückgelassener Stein oder Reste eines Glitzerkranzes. Aber doch sind sie ein Zeichen, dass diese Lager, diese abertausenden Toten nicht ganz vergessen sind.

Nach unserer Rückkehr ins Dorf suchen wir noch andere Einwohner auf und in größerer Runde lausche ich ihren Erzählungen. Zu meinem großen Erstaunen wissen alle um die Geschehnisse der Vergangenheit, sie kennen die Geschichte und leben mit ihr. Sie erzählen, was ihre Eltern und Großeltern, teilweise auch sie selbst noch als Kinder miterlebt haben. So anders als wir es in Österreich gewohnt sind, wo keiner etwas gewusst oder bemerkt haben will, verleugnen diese Menschen die Ereignisse nicht; möglicherweise ist der Unterschied, dass sie nicht das Gefühl haben, sich schuldig gemacht zu haben und daher auch nicht glauben, sich verteidigen zu müssen. Tatsächlich haben die Bauern unter der Besatzung gelitten und nicht mit dieser kooperiert. Im Gegenteil haben sie eher versucht den Häftlingen zu helfen, bzw. diesen zumindest nicht aktiv zu schaden. So berichten auch überlebende Lagerhäftlinge, dass sie nur mit Hilfe der Bauern, die ihnen im Tausch gegen noch verbliebene Habseligkeiten Nahrungsmittel überließen, überleben konnten.

Ich erfahre, dass nicht allzu viele, aber doch einige der ehemaligen Lagerinsassen aus allen Teilen der Welt zurückgekommen sind, um die Stätten des Grauens nochmals zu sehen und der Toten zu gedenken. Einer von diesen war auch jener Initiator der Gedenksteine, der als Kind in das Lager deportiert worden war. Anlässlich seines Besuches spendete er der Dorfschule einige Computer. Diese Menschen haben mich tief beeindruckt und ich beschließe auch ein kleines Zeichen des Dankes zu setzen und wiederzukommen. Bis dahin sollte es allerdings sechs Jahre dauern.

Zibulivka
Pruth - Dnister
2010 mache ich mich wieder auf den Weg nach Zibulivka, diesmal über Moldawien, da von hier die Anreise einfacher ist. Halina ist inzwischen eine alte, gebrechliche Frau geworden und kann sich daher auch nicht mehr um die Pflege der Grabsteine kümmern.

Diesmal muss ich die Gedenksteine ohne sie aufsuchen; was mich dort wohl erwarten wird? Etwas bange begebe ich mich also zu den Orten, in Erwartung der totalen Verwahrlosung, wie sie etwa am jüdischen Friedhof in Czernowitz anzutreffen ist. Aber zu meiner Überraschung stehen die Steine unverändert da, keineswegs verwahrlost, sondern umsorgt und gepflegt von den Einwohnern Zibulivkas – das Gedenken lebt weiterhin und die Menschen fühlen sich offensichtlich dafür verantwortlich. Der Ort selbst allerdings scheint mir nicht mehr so schmuck zu sein wie sechs Jahre zuvor. Hat sich der Ort wirklich verändert oder nur mein Blick darauf?

Nun, es hat sich einiges verändert. Die wirtschaftliche Lage des Landes zeigt sich auch in diesem kleinen Dorf. Die Hauptstadt Kiew ist weit weg und die Ressourcen reichen nicht für die entlegeneren Landesteile. Es gibt kaum Arbeit und die jungen Menschen ziehen weg in die größeren Städte; daher sind die Bewohner hauptsächlich alte Leute. Mit im Gepäck habe ich diesmal einige medizinische Geräte für die kleine Ambulanz des Ortes, die ich nach Rücksprache mit der hiesigen Ärztin besorgt habe.

Die Ambulanz befindet sich in einer alten Villa und ist liebevoll hergerichtet und ausgestattet. Auch hier fehlt staatliche Unterstützung und alles beruht auf lokaler Eigeninitiative. Neben der Ärztin und Krankenschwestern arbeiten eine Physiotherapeutin, eine Laborantin und zeitweise ein Zahnarzt für circa 1600 Menschen. Die Behandlung ist gratis, Medikamente und jegliches Material müssen allerdings bezahlt werden. Impfungen gibt es schon seit Jahren keine mehr, da sie nur von staatlicher Seite erhältlich sind, von dieser aber nicht geliefert werden. Jefrusinia, die Ärztin, freut sich über die neuen Geräte – die einzigen, die sie je bekam. Eigentlich wäre sie auch schon im Pensionsalter, aber sie kann ihre Patienten nicht im Stich lassen, denn – so ist sie überzeugt – nach ihr werde sich wohl niemand finden, der bereit ist in diesem entlegenen Dorf zu arbeiten. So verlasse ich Zibulovka diesmal mit einem etwas bitteren Nachgeschmack, aber immer noch voll der Hochachtung für diese Menschen.

Veröffentlicht von Otto Brusatti in der „Presse“ am 29. April 2011

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Halina
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