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Philippe JORDAN: Der Klang der Stille#

Philippe JORDAN: Der Klang der Stille / aufgezeichnet von Haide Tenner, Residenz, 2020 / Rezension von Guenther Johann

Philippe JORDAN: Der Klang der Stille
Philippe JORDAN: Der Klang der Stille

JORDAN, Philippe: „Der Klang der Stille“, aufgezeichnet von Haide Tenner, Salzburg Wien 2020 Für alle Liebhaber klassischer Musik ein schöner und wichtiger Beitrag. Der junge Dirigent Jordan zeigt aus seiner Sicht sein Engagement und seine Arbeit auf, wobei es sich nicht um eine Biografie, sondern um eine Beschreibung der Arbeit und des Denkens in Bezug auf Musik des Dirigenten Jordan geht. Begonnen wurde das Buch in einer sehr intensiven Periode, als Jordan noch die Doppelfunktion eines musikalischen Leiters einer Oper und eines Symphonieorchesters hatte. Die Corona-Krise und viele Veranstaltungsabsagen brachten aber Zeit dieses Buch fertig zu stellen. Für Philippe Jordan ist Musik ein Blick in eine andere Dimension. „Musik erinnert uns daran, dass es etwas gibt, das man mit dem Verstand nicht begreifen kann und auch nicht erklären kann.“ (Seite 11) Sein Vater war Dirigent und so erlebte er diesen Beruf von Kindheitstagen an. Er lernte früh Klavierspielen und trat schon als Sängerknabe auf. Zu Hause in Zürich wurde neben deutsch auch englisch gesprochen. Die Mutter kam als Flüchtling nach Wien und wuchs in Irland auf. Seine Lehrjahre verbrachte er mit Barenboim und bereits mit 27 Jahren wurde er Chefdirigent der Oper in Graz. Hier lernte er den Umgang mit der Oper, die für ihn „die größte Form der Kunst“ ist. „Wenn in der Oper alles stimmt – Sänger, Dirigent, Orchester, Chor, Regie, Bühnenbild und manchmal auch noch Tanz -, dann ist es für mich die größte Kunstform überhaupt.“ (Seite 61) 2004 dirigierte er erstmals an der Opéra National in Paris und wurde später deren Intendant. Sehr interessant dann der Abschnitt im Buch, in dem er seinen persönlichen Zugang zu den einzelnen Komponisten beschreibt. • „Mozart hat mich von Beginn meiner Laufbahn an begleitet, und ich kann mir ein Leben ohne seine größten Meisterwerke nicht vorstellen. Mozart schrieb für mich die himmlischste, die vollkommenste Musik, die je ein Mensch geschaffen hat.“ (Seite 76) • Puccini: Als junger Dirigent dirigierte er viele italienische Opern. Seine erste war Puccinis Tosca in Ulm. „Ich halte Giacomo Puccini für einen der besten Musikdramatiker und La Boheme für eine der besten Opern, die je geschrieben wurden; eine perfekte Mischung von großartigem Theater, guter Dramaturgie, Melodien voller Schmelz und einer Orchestration, die in ihrer Qualität Wagner und Strauss jederzeit vergleichbar ist.“ (Seite 79/80) • „Richard Strauss ist für mich eine Herzensangelegenheit.“ (Seite 92) Außer der Frau ohne Schatten hatte er alle Werke dirigiert. Die größte Emotionalität entwickelt Jordan beim Rosenkavalier. • Wagner: In seinen ersten zwei Jahren in Paris setzte er den gesamten Ring-Zyklus um. Für die Entwicklung eines Orchesters sei Wagner sehr wichtig. Der Ring behandelt für Jordan die großen Menschheitsthemen. „Es geht um Politik, um Wirtschaft, um Religion und Erlösung, um Verrat und Treue und um das Weltende. Sogar um Ökologie, um die Frage, wie man die Welt einmal hinterlassen wird, und natürlich um Macht und Liebe.“ (Seite 107) Für einen Dirigenten sei der Ring so etwas wie ein Ritterschlag. Im Zusammenhang mit Wagner meint er „Musik macht uns bewusst, dass es etwas Größeres, etwas Göttliches gibt, etwas Universelles, etwas, das in uns ist.“ (Seite 111) Im Abschnitt über Schubert und dessen Musik gesteht Jordan, dass er früher an eine andere Dimension nach dem Tod glaubte, das aber abgelegt habe. „Es fällt einem schwer zu glauben, dass der Tod eines Menschen so ist wie bei einem Baum, der abgehackt wird und bei dem damit alles zu Ende sein scheint. Je länger ich lebe, desto weniger Grund sehe ich jedoch, daran zu glauben, dass es nach dem Tod noch etwas anderes gibt. Wir können fast bis ans Ende des Universums schauen, betreiben Quantenphysik, Astronomie und Medizin, aber wir wissen immer noch nicht, was nach dem Tod passiert.“ (Seite 149) Aus der Sicht des Dirigenten spricht er auch über Dinge wie Akustik. Dass etwa in Bayreuth die Musik aus dem abgedeckten Orchestergraben über eine Klangschale kommt. Es gibt also für das Publikum keinen direkten Klang. Alles kommt als Reflexion. Das wieder erzeugt eine Verzögerung, die eine Zusammenarbeit zwischen Dirigenten und Sänger extrem schwierig gestaltet. Wagner wird auch das längste Kapitel im Buch gewidmet. Als Jordan in Paris Musikdirektor wurde fand er ein Orchester vor, das primär für die Oper arbeitete. Er führte Konzerte ein und gab damit dem Orchester mehr Selbstbewusstsein. Selbstkritisch sieht er auch seine Entwicklung, wenn er sagt: „Ich glaube, dass viele Dirigenten ihren Beruf in den ersten Jahren vorrangig für sich selbst ausüben, weil man mit Musik einen Teil von sich ausleben kann – ich gehöre jedenfalls dazu. Im Laufe der Zeit ändern sich die Motive – ich gehe schon lange nicht mehr für mich ans Pult, sondern mit dem Gefühl, eine Aufgabe zu haben und anderen etwas zu geben. Das ist eine neue Qualität in meinem Leben.“ (Seite 145) • Schubert: In seiner ersten Saison in Wien führte er einen Schubert Zyklus ein. Schubert sei für ihn am besten mit anderen Komponisten in einem Konzert kombinierbar. „Schubert muss liebevoll musiziert, liebevoll gearbeitet werden, braucht große Qualität im Zusammenspiel der Streicher, in der Homogenität des Klanges, in der Intonation der Holzbläser und in der Phrasierung.“ (Seite 147) • Bach wird heute fast ausschließlich von Barock-Ensembles gespielt. Jordan ist aber der Meinung, dass auch ein Symphonieorchester Bach „schlanker und entschlackter spielen kann“. Eine Freundin sagte ihm „Wenn man Bach hört, hat man das Gefühl, in dieser verrückten Welt wird doch wieder alles gut.“ Er meint, dass speziell in der heutigen Welt von Corona, einem amerikanischen Präsidenten Trump, der Klimaveränderung und vielen Tagesproblemen mit Bachs Musik wieder Zuversicht einkehren kann. „Bach ist und bleibt für uns Musiker unser tägliches Brot.“ (Seite 154) • Beethoven war Jordans zentrales Projekt, als er nach Wien übersiedelte. Er hört bei Beethoven heraus, dass der Komponist selbst Pianist war. Gerade bei Beethoven ist es ihm auch wichtig, den Musikern Bilder zu geben, was ausgedrückt werden soll. So wie Beethoven findet Jordan in der Stille der Natur seine Energie. • Bruckner: Die Annäherung an diesen Komponisten war ein steiniger Weg und auch in diesem Kapitel des Buches hagelt es schon noch Kritik, neben aller Wertschätzung. Bruckners symphonische Musik sei aus dem Orgelspiel heraus entwickelt. Sie sei auch nicht so katholisch und religiös, wie allgemein angenommen wird. Er findet sie eher mystisch und spirituell. In Bruckners Musik stecke viel vom Teufel und nicht nur vom Heiligen. „… in der Achten steigert es sich so, dass man es fast nicht mehr aushält. Man kann die Ewigkeit nicht ansehen, das blendet und brennt, wie wenn man zu lange in die Sonne schaut.“ (Seite 171) • Brahms klingt „immer gut, aber darum geht es nicht, sondern um die Frage, was er uns zu sagen hat.“ (Seite 181) • Schumann: Zum Violinkonzert meint Jordan „Ich bin sicher, dass Schumann an diesem Werk weitergearbeitet hätte, wenn sein Gesundheitszustand es zugelassen hätte und er nicht ins Sanatorium eingeliefert worden wäre. Die schleichende Geisterkrankheit ist aus dem Werk schon zu lesen.“ (Seite 189) Er gesteht aber zu, dass er dieses Werk trotz seiner Problematik mag. „Er instrumentiert ungewohnt, aber nicht schlecht.“ (Seite 190) • Strauss: Österreichische und süddeutsche Orchester spielen Strauss authentischer als andere Orchester. „Der Wiener Klang ist heller, sinnlicher, süßlicher, geschmeidiger und beweglicher.“ (Seite 194) Im Buch kommen nicht nur sachliche Fakten vor, sondern es menschelt auch. So nimmt Jordan im Kapitel „Strauss“ und dessen Don Quixote Bezug auf seine eigene Erfahrung und die der Allgemeinheit, wenn er sagt: „Viele Menschen kämpfen jeden Tag gegen Windmühlen. Meine Windmühlen sind der Opernbetrieb. Das ist ein täglicher Kampf, bei dem man manchmal Sternstunden erlebt, manchmal aber auch für seine Visionen und Ideale kämpfen und oft auch Kompromisse eingehen muss. Jeder hat seine Windmühlen, vielleicht ist mir deswegen Don Quixote näher als das Heldenleben. Don Quixote ist ein Antiheld, der sich mit viel Fantasie, Leidenschaft und Idealismus durch die Welt kämpft. Ich glaube, der junge Richard Strauss wusste das nur zu gut.“ (Seite 195) • Britten: Im Gedenkjahr 2018 (für die Ereignisse 1918 und 1938) dirigierte er Krieg und Frieden, wobei er sich mit Kriegsmusik „immer schwer“ tat. „Immer wenn Rührtrommeln und Trompeten erklingen, wird Musik für mich sehr eindimensional, sehr martialisch.“ (Seite 198) Er lehnt auch jede Form von Gewalt ab und ist froh, dass er nie einen Militärdienst ableisten musste. „Ich kann mir nicht vorstellen, eine Waffe zu benützen, selbst um mich zu verteidigen, hoffe aber, auch nie in diese Situation zu kommen. In Amerika kenne ich Menschen, die mir stolz ihren Waffenschrank zeigen. Darüber kann man nicht diskutieren, das ist eine andere Weltanschauung.“ (Seite 201) • Mahler: Seine Liebe zu Mahler entstand sehr früh, als er als Sängerknabe in der dritten Symphonie das „Bim-Bam“ sang. In der ersten Gymnasiumklasse wurde vom Schulorchester die erste Symphonie aufgeführt, bei der er das Schlagzeug und die Pauke schlug. In Graz dirigierte er dann seine erste Mahler-Symphonie. Seinen Bezug zu Solisten nennt er „ein Geben und Nehmen“, also eine Kooperation, wenngleich zu manchen Musikern mehr Bezug besteht. Primär arbeitet er mit Solisten zusammen, die er als Partner sieht. Mit 35 Jahren wurde er Musikdirektor der Pariser Oper. Anschließend war er sechs Jahre Chefdirigent der Wiener Symphoniker und 2020 kam er wieder nach Wien an die Oper zurück. Er beschreibt die Umstellung von einem Programm-Opernhaus zu einem – wie Wien – Repertoire-Haus. Er plädiert für ein auswendig Spielen, weil er sich da selbst besser zuhören kann. Beim auswendigen Dirigieren kann er schon vorausschauen und Musiker vor ihrem Einsatz direkt anschauen. Zum Komponieren fühlt er sich noch nicht berufen. Er schreibt, aber für sich selbst. „Ich komponiere ausschließlich für mich selbst, es tut mir gut, und ich wünschte, ich hätte mehr Zeit dazu.“ (Seite 233) Unter der Überschrift „Was ist Erfolg?“ sagt er klar, dass dieser mit Qualität zusammenhängt. So sei etwa die siebente Symphonie von Beethoven ein programmierter Erfolg gewesen. Erfolg kann aber auch unterschiedlich gesehen werden. So zeigt er den Zugang zur Musik von amerikanischen und europäischen Sängern auf, die unterschiedliche Akzente und Schwerpunkte für ihre Arbeit setzen. Oft wird gesagt, dass klassische Musik primär für ältere Menschen ist und daher diese Musik aussterben werde. Jordan sieht es einfach: auch die Jungen werden alt und kommen später in Konzerte. In Schallplatten und CDs sieht er keine Konkurrenz zu Konzerten. „Ein Raum kann vibrieren wie ein großer Cellokasten, das schafft klangliche Sensationen, die eine Aufnahme nie erzeugen kann.“ (Seite 241) Obwohl es um Musik geht sagt er im letzten Kapitel, dass Stille das Größte, Schönste und Stärkste für ihn sei. In der Stille sei man am stärksten bei sich selbst. Die Stille sei auch ein wichtiger Faktor in der Musik, die vor allem der Dirigent durch Einsätze erzeugen kann. Ein interessantes Buch, bei dem der Leser hinter den Seelenvorhang eines Dirigenten sehen darf und damit vielleicht so manches Konzert besser versteht.