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Harm-Peer Zimmermann (Hg.): Lust am Mythos#

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Harm-Peer Zimmermann (Hg.): Lust am Mythos. Kulturwissenschaftliche Neuzugänge zu einem populären Phänomen (Zürcher Schriften zur Erzählforschung und Narratologie, Band 1). Jonas-Verlag Marburg 2015. 320 S., ill., € 30,-

"Seit einigen Jahren erleben wir eine Wiederkehr des Mythos. Eine breite Öffentlichkeit findet ein ganz unideologisches und fröhliches Gefallen am Mythos", schreibt Harm-Peer Zimmermann im Vorwort. Der Schweizer Sozialanthropologe spricht von einem "Mythenboom oder vom Mythenpop". Überall findet er Beispiele: Im Film (z.B. "Herr der Ringe"), in der Zeitung (z.B. "Mythos Kennedy"), in der Eventkultur (z.B. Mittelalterfeste, Popkonzerte) und in der Reeanactment-Szene. Zugleich beobachtet der Professor für populäre Literaturen und Medien eine wissenschaftliche Neubesinnung auf das Thema. 2012 stellte die Kommission für Erzählforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde ihre Tagung unter das Motto "Mythos, Mythen, Mythologien".

Der Tagungsband versammelt 35 Beiträge aus Disziplinen wie Europäische Ethnologie, Kommunikationswissenschaft, Literatur, Erzählforschung, Kulturwissenschaften, Indologie und Tibetologie, Völkerkunde, Komparatistik, Theaterwissenschaft, Archäologie, Psychotherapie, Judaistik und Soziologie. Die Fachleute kommen aus Deutschland, der Türkei, der Schweiz, Finnland und Österreich. Der in Wien lehrende Psychotherapeut Bernd Rieken bringt Gedanken über "Klein und groß - Psychodynamische Aspekte einer Grundform menschlicher Weltdeutung" ein, der Ethnologe Ingo Schneider von der Universität Innsbruck. schrieb über "Die Mythisierung der Anfänge der Hip Hop-Kultur".

Wie ein roter Faden durchziehen die Theorien des französischen Philosophen Roland Barthes die Beiträge des Sammelbandes. Sein 1957 verfasstes Werk "Mythologies" erschien 1964 in deutscher Übersetzung als "Mythen des Alltags". Es leitete einen Paradigmenwechsel ein und hat bisherige Vorstellungen "auf den Kopf gestellt", wie der Herausgeber vermerkt. Barthes' Thesen, kurz gefasst:

  • Mythen sind keine Relikte aus uralten Zeiten, sondern hier und heute ebenso relevant wie einst und ehedem.
  • Mythen sind nicht nur in vermeintlich primitiven Kulturen vorhanden, sondern auch in hoch rationalen.
  • Mythen sind keineswegs auf große, grundlegende Themen beschränkt, sondern greifen auch kleine auf.
  • Mythen sind nicht ausschließlich in feierlichen Formen vorhanden, sondern auch in alltäglichen, wie Bildern oder Gebrauchsgegenständen.
  • Mythen sind nicht an bestimmte Träger gebunden, sondern zu einem medialen Massenphänomen geworden.

Der Herausgeber gliedert die Beiträge in drei Abteilungen. Am Anfang stehen zwölf Artikel mit theoretischem und wissenschaftsgeschichtlichem Zugang: Helga Bleckwenn ("Der Mythos-Begriff bei Roland Barthes und bei den Brüdern Grimm") zeigt, dass schon der antike Götterhimmel Homers ein nachträgliches Konstrukt aus vielen Quellen darstellt. Ebenso verhält es sich mit dem - häufigen Fehldeutungen ausgesetzten - Grunddokument der Brüder Grimm, der "Deutsche Mythologie": "Es ging um die Rekonstruktion einer Mythologie, nicht um die Errichtung eines Mythos".

Ruth Neubauer-Petzoldt ("Die Präsenz des Mythos zwischen rekonstruiertem Denkmal und ästhetischem Erleben") ergänzt: "Diese Rekonstruktion entwirft mit den wissenschaftlichen Mitteln des 19. Jahrhunderts eine rückwärtsgewandte Utopie. Dabei spielen Naturmetaphorik und Naturpoesie eine große Rolle. In der Nachfolge der Brüder Grimm widmete sich der deutsche Volkskundler Wilhelm Mannhardt (1831-1880) der Sammlung von Volksüberlieferungen, bekannt ist seine groß angelegte Fragebogenaktion zu Ackerbräuchen (1865). Mit Mannhardts Forschungsanspruch, Theorie, Planung, Durchführung, Auswertung und Interpretation beschäftigt sich Theresa Perabo ("Meta hodos. Auf den Spuren des Mythologen Wilhelm Mannhardt"). "Mythos erlischt nicht, sondern transformiert sich", er äußert sich in Imaginationen. Aus dem Mythos gewann der Mensch Welt- und Selbsterkenntnis, schreibt Susanne Hose ("Der akademische Diskurs um Mythos und Fälschung"). Am Beispiel des sorbischen Kriegsliedes Serbow dobyca zeigt sie, wie im 19. Jahrhundert "die Leidenschaft am Sammeln und Aufzeichnen mit der Lust am Nachahmen einherging".

Die elf Referate der zweiten Abteilung beschäftigen sich mit der Empirie des Mythos. In Finnland ist "Der Sampo als Mythos vom Glück" aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ungebrochen populär. Outi Tuomi-Nikula hat Aufsätze finnischer Kinder darüber analysiert. Es zeigte sich, "dass sie mit zunehmendem Alter den Sampo häufig mit kollektiven Wünschen, Ängsten und Hoffnungen in Verbindung brachten. … Deshalb wollen sie mit dem Sampo eine bessere Welt schaffen, die sie mit Frieden, ausreichender Nahrung und Wohlstand sowie mit sauberer Natur verbinden." Meret Fehlmann verfolgt die Spur des langlebigen Mythos der "Hexen-Hebammen", der sich schon im berühmt-berüchtigten "Hexenhammer" (1487) findet, im 19. Jahrhundert eifrig tradiert wurde und in der aktuellen feministischen Literatur positive Bewertung erfährt . Doch: "Eine Verherrlichung der Hexe als Heilerin steht in keinem Verhältnis zum Quellenbestand."

Im Zusammenhang mit der Herder'schen Volksgeist-Theorie wurde die Bevölkerung von Lettland als "singendes Volk" bzw. "Bauernnation" idealisiert. Anna-Lena Roemer verfolgt die Wirkung dieser Mythen in der globalisierten Moderne. In den 1980er Jahren sangen jungen Letten in ihrer Sprache bei Protestkundgebungen: "Das singende Volk meldete sich zurück und setzte sich zur Wehr gegen die Gefahr seiner befürchteten vollständigen Assimilation in den russischen Sprachraum." Die Folkloreszene pflegt den Mythos und es zeigt sich eine "Tendenz zu 'gegenmodernen' Orientierungen". Nathanael Riemer widmet sich dem Gegensatz von Hebräisch und dem stets gering geschätzten Jiddisch. Akemi Kaneshiro-Hauptmann untersucht die Mythen Japans und ihre Bedeutungen in der Gegenwart: Traditionelle Elemente erlangten in Filmen wie "Prinzessin Mononoke" oder "Chihiros Reise ins Zauberland" internationale Bedeutung.

Die zwölf Beiträge der dritten Abteilung behandeln "Neomythen". Dazu zählen Werbestrategien, wie Bengü Basbug am Beispiel der Marke Volkswagen expliziert. "Durch den Einsatz von Mythen reagiert die Werbewirtschaft auf eine tiefe Sehnsucht der Rezipienten nach dem Geheimnisvollen, dem Unentdeckten in einer scheinbar entdeckten und entzauberten Welt. … Dabei generiert und nutzt sie Schemata klassischer Mythen, archetypische Figuren, Bilder und Symbole." Auch lebensgeschichtliche Erinnerungen sind voller Mythen. "Mythos GI?" nennt Sebastian Kestler-Joosten seinen Beitrag über "Amerikanische Soldaten in Kontexten medialer und narrativer Darstellung." Christine Lötscher ("Mythos Kosmos") untersuchte "Die Konstruktion der Kosmos-Helden in Kinder- und Jugendsachbüchern der DDR". Held und Star war vor allem Juri Gagarin, der als erster Mensch in den Weltraum flog. Sehr spannend ist die Geschichte des angeblich keltischen Mythos vom "Eichenkönig und Stechpalmenkönig" von Reena Perschke: "Durch quellenlose Weitererzählung sickert der Mythos langsam als pseudo-keltisches Märchen … in breitere Bevölkerungsschichten." Dessen Entstehung konnte sie eindeutig im 20. Jahrhundert lokalisieren und auch den Erfinder benennen. Anleitungen und Kostüme für Sonnenwende-Rituale mit einer rituellen Aufführung des Kampfes der zwei Könige finden inzwischen durch das Internet weite Verbreitung. Sie sind ebenso wie der so genannte Baumkalender für die Archäologin "Zeichen einer ungewissen Sehnsucht nach Wiederverzauberung". Sabine Wienker-Piepho stellt die Frage "Mythos Authentizität?", eine kritische Auseinandersetzung mit der Erzähler-Szene. Das Schlusskapitel stammt wieder vom Herausgeber, Harm-Peer Zimmermann. "Schlagwort 'Mythos'. Über eine aktuelle Form der Welterschließung". In seinem Resümee zitiert er den Philosophen Hans Blumenberg, der meinte: "Je differenzierter und komplizierter eine Kultur, desto höher ist ihr Bedarf an Mythen. Denn Mythen übersetzen Komplexität und Unübersichtlichkeit in lebendige Qualitäten und Rhythmen, die mit einmal nachvollziehbar und sinnvoll erscheinen."