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Reinhard Linke und Christian Postl (Hg.): 100 Jahre Niederösterreich#

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Reinhard Linke und Christian Postl (Hg.): 100 Jahre Niederösterreich. Rückblick auf eine bewegte Zeit. Kral Verlag Berndorf, ORF Niederösterreich, St. Pölten. 248 S., ill., € 29,90

Seit 100 Jahren gehen die Bundesländer Niederösterreich und Wien eigene Wege. 1922 trat das Trennungsgesetz in Kraft. 2022 wurde das Jubiläum mit zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen begangen. Seit 55 Jahren ist das ORF Landesstudio Niederösterreich selbstständig. Vor 35 Jahren nahm die erste "Expositur" in St. Pölten den Betrieb auf und vor fast 25 Jahren (1998) eröffnete im dortigen Kulturbezirk das von Gustav Peichl geplante Funkhaus. Rund 100 MitarbeiterInnen gestalten dort alljährlich 8.400 Stunden Radioprogramm und 12.000 Fernseh-Sendeminuten. Die Archivbestände kommen einem Gedächtnis des Bundeslandes gleich. Es lag nahe, dieses geballte Reservoir an Kompetenz und Kreativität nicht nur für die zahlreichen Produktionen des Jubiläums "100 Jahre Niederösterreich " zu nützen.

Niemand hätte die Rückschau in Buchform besser und lebendiger gestalten können, als die MitarbeiterInnen des Landesstudios. Sein Archivar Alexander Katholitzky hat in der unendlichen Fülle des Materials gründlich recherchiert. Reinhard Linke, der Leiter der Kulturredaktion und Christian Postl, Chef vom Dienst der Fernsehsendung "Niederösterreich heute" fungieren als Herausgeber. Weitere Texte stammen von der stellvertretenden Kulturchefin Veronika Berger und dem Redakteur Stefan Schwarzwald-Sailer. Es ist ihnen eine Landeschronik der besonderen Art gelungen. Eindrucksvoll, sachlich fundiert und kurzweilig verfasst, korrespondieren die Beiträge und 400 Bilder mit dem sympathischen Layout von Silvia .Wahrstätter. Jedem der 100 Jahre ist eine Doppelseite gewidmet. Fixe Elemente, doch abwechslungsreich variiert, sind zügige Titel, sachliche Informationen, Interviewausschnitte im Originalton, historische und aktuelle Fotos. Außerdem erfährt man in Kürze "was sonst noch geschah".

Die Chronik beginnt 1922 mit einem "Knalleffekt". Eine Explosion in der Pulverfabrik Blumau forderte 24 Todesopfer. Die Druckwelle zerstörte Industriegebäude und Häuser. Das zweite Jahrzehnt, die 1930er Jahre, brachte zeithistorische Ereignisse. Sieben Jahre lang war Niederösterreich "Niederdonau". 1939 mussten 6.800 Menschen aus dem Waldviertel ihre Heimat verlassen. Aus 42 Ortschaften wurde der (noch bestehende) Truppenübungsplatz. Die 1940er Jahre waren vom Zweiten Weltkrieg, Zwangsabeit, Widerstand und Bombardements gekennzeichnet. Noch vor dem Kriegsende stellte Karl Renner die Weichen für den Neubeginn. Hochwolkersdorf wurde zum Geburtsort der Zweiten Republik. Leopold Figl bildete eine provisorische Landesregierung.

In den 1950er Jahren normalisierte sich das Leben. 1954 kamen 80 Umlandgemeinden, die 1938 nach Groß-Wien eingemeindet worden waren, wieder zu Niederösterreich, 17 blieben bei Wien. 1955 ging als Jahr des Staatsvertrags in die Geschichte ein. 1956 ernannte der Papst Franz König zum Erzbischof von Wien. Der Bauernsohn aus der Gegend von Rabenstein an der Pielach war weltweit einer der einflussreichsten Kardinäle, Wegbereiter der Ökumene und er trug maßgeblich zur Aussöhnung zwischen katholischer Kirche und Sozialdemokratie bei. In den 1960er Jahren entwickelte sich die Wirtschaft rasant. Gastarbeiter kamen - und blieben. In der Landwirtschaft ersetzten Traktoren die Zugpferde. Die Westautobahn entwickelte sich zu Österreichs Verkehrsader. Das Telefonnetz wurde vollautomatisiert und 1972 Karlstein als letzter Ort Österreichs angeschlossen.

1978 entschieden 50,47 % bei der Volksabstimmung gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf. Niederösterreich setzte auf Gesundheitstourismus. Als erstes öffnete 1980 das Moorheilbad Harbach, weitere Wellnesshotels folgten in anderen Landesteilen. Nach vier Jahrzehnten macht diese Sparte ein Drittel der Nächtigungen aus. Zwei markante Ereignisse charakterisierten die 1980er Jahre: 1986 fasste der Landtag den einstimmigen Beschluss, St. Pölten zur Landeshauptstadt zu erheben 1989 fiel der Eiserne Vorhang. Außenminister Alois Mock und sein tschechoslowakischer Amtskollege Jiri Dienstbier durchschnitten in Laa an der Thaya und Haugsdorf symbolisch den Stacheldraht.

1991 flog der erste und einzige Österreicher ins All. Der 29-jährige Elektrotechniker Franz Viehböck aus Perchtoldsdorf wurde aus 200 Bewerbern für das sowjetische Raumfahrtsprojekt "Mir" ausgewählt. 1992 begann die Ära von Landeshauptmann Erwin Pröll, der fast ein Vierteljahrhundert (bis 2017) die Politik prägte. Die Jahrtausendwende brachte der Wachau eine hohe Auszeichnung. Die UNESCO würdigte sie als Weltkulturerbe: "Durch die vielfältige Landschaftsstruktur, die bedeutenden Kulturdenkmale und kleinstädtischen Ensembles stellt dieser Abschnitt des Donautals eine historische Kulturlandschaft von herausragendem universellen Wert dar." 2006 war die bei Pernitz aufgewachsene Michaela Dorfmeister Sportlerin des Jahres. Die Doppel-Olympiasiegerin in Turin, Gewinnerin des Abfahrts- und Super-G-Weltcups beendete in diesem Jahr ihre Karriere. 2007 entstand unter der Leitung des Pianisten Rudolf Buchbinder das international renommierte Grafenegg Festival. mit den neuen Spielstätten "Wolkenturm" und Auditorium.

Das jüngste Dezennium stand ebenfalls im Zeichen der Kultur, wie "900 Jahre Stift Herzogenburg" (2012), ein neues Ausbildungszentrum für die Lipizzaner auf dem Heldenberg (2018) und die Landesgalerie Niederösterreich, ein Kunstmuseum für das 21. Jahrhundert in Krems. Doch gab es auch Unerfreuliches zu berichten, wie den Ausbruch der Covid-19-Pandemie (2020) und den größten Waldbrand, den es in Niederösterreich jemals gab (2021). Auf der Rax standen 115 Hektar Wald in Flammen, de Löscharbeiten dauerten 13 Tage.

Es zeichnet die neue Niederösterreich-Chronik aus, dass sie relevante Ereignisse aus allen Themenbereichen behandelt: Kultur, Kunst, Kirche, Natur, Sport, Alltag, Wirtschaft, Politik, Katastrophen und Skandale. Die Schauplätze sind regional gestreut und beziehen den internationalen Kontext ein, was für ein Land an der Grenze besonders wichtig ist. Interessant sind auch Vergleiche mit der gegenwärtigen Situation. So entsteht ein ausgewogenes Bild einer bewegten Zeit. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es war, das prägendste Ereignis des jeweiligen Jahres auszuwählen. Dem Autorenteam ist das hervorragend gelungen - ein Meilenstein der Landesgeschichtsschreibung.

hmw