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Johanna Rolshoven: Stadtforschung als Gesellschaftsforschung#

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Johanna Rolshoven: Stadtforschung als Gesellschaftsforschung. Eine Einführung in die Kulturanalyse der Stadt. Transcript Verlag Bielefeld. 330 S., ill., € 37,-

Johanna Rolshoven leitete von 2009 bis 2017 das Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität Graz. Die weitgereiste Kulturwissenschaftlerin lehrte in Zürich, Basel, Fribourg und Marburg und forschte in vielen anderen Städten. Dabei sind für sie die Zusammenhänge zwischen gebautem Raum, Raum der Gesellschaft und erlebtem Alltagsraum von Interesse, zum Beispiel Straßenecken als Treffpunkte und Begegnungsorte.

In ihrem Lehrbuch nimmt die Professorin eine historisch-kritische, akteurszentrierte und raumtheoretische Perspektive ein. Im Vorwort schreibt sie: Der vorliegende Band versteht sich als Einführung in die kulturanalytische Stadtforschung als Gesellschaftsanalyse. Er möchte Inspiration und Wegleitung für Stadtforscher_innen sein und mit Impulsen vor allem aus der deutsch- und französischsprachigen Stadtanthropologie anregen. Dabei werden Themen und Zugänge angeschnitten, die Fragen für künftige und vertiefte Analysen aufwerfen…. Der Stand der Forschung beschränkt sich auf eine Momentaufnahme im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Als "Leitplanke" nennt sie das Konzept und die Methodologie der "offenen Stadt", verstanden als "Ort der Produktion von Gesellschaft" und politisches Konzept.

Um die Hauptthese "Stadtforschung als Gesellschaftsforschung" zu erarbeiten, ist es notwendig, sich die Hometown vertraut zu machen. Früher nannte man die Stadtspaziergänger "Flaneure". In der Literatur verkörpert der privilegierte, notorische Langsamgänger Muße, Glück und Toleranz. Hingegen erscheinen Vagabunden als Krisenfiguren und Begriffe wie Nomaden und Migranten rufen eigene Assoziationen hervor. Auch "Flaneusen" waren unterwegs, sie sahen die Stadt mit anderen Augen. In deren Reiseberichten aus dem 18. und 19. Jahrhundert fiel der Professorin ein volkskundlicher Blick der Frauen auf, der Menschen und Situationen beschreibt …. mit einer hohen Sensibilität für Alltagsbegebenheiten. Das neue Lehrbuch lädt die Studierenden der Kulturwissenschaften ein, durch ihre Stadt zu streunen. Es entstand aus der Lehrtätigkeit der Autorin in Graz. Dort fand sie eine zivilgesellschaftliche Stadtszene, in deren Initiativen die Universität vielfach involviert war.

Stadtforschung zählt nicht zu den alten Schwerpunkten der Volkskunde. Wichtige Impulse verdankt sie dem Berliner Soziologen und Europäischen Ethnologen Rolf Lindner. Er fragte danach, wie das "Gebilde Stadt" Menschen formt und wie umgekehrt Menschen die Stadt formen, wohl wissend, dass die Stadt in letzter Instanz nichts anderes sein kann, als das Gesamt ihrer Bewohner. Johanna Rolshoven erinnert daran, dass sich Staaten aus Städten entwickelt haben und gesellschaftliche Diversität "Aushandeln" notwendig macht. Stadt und Land sind nicht so ungleich, wie oft angenommen, sie bedingen und durchdringen einander. Der Sitz der Politik sei in der Stadt, die Ideologie auf dem Land. Seit 2008 leben weltweit mehr Menschen in Städten. Gab es 1940 nur vier Städte mit mehr als 5 Mio. Einwohnern (Tokio, New York, London, Paris), so waren es zu Beginn der 1990er Jahre neunmal so viele. 2018 wies der EU-Durchschnitt einen Verstädterungsgrad von 75,7 % auf, den höchsten hatte Belgien (98 %). In Österreich lebte mehr als die Hälfte der Bevölkerung (58,8%) in Städten.

Der deutsche Kultur- und Sozialwissenschaftler Wolfgang Kaschuba stellt fest, dass "Urbane Identität" Aushandlungsprozesse einschließt, die ständig in Bewegung sind. Dies bietet Möglichkeitsräume der individuellen und kollektiven Entwicklung, zum Beispiel der persönlichen Emanzipation oder der Mitgestaltung und Veränderung von Lebensformen, der Mitwirkung an sozialen Bewegungen und Initiativen.

Stadtforschung als Gesellschaftsforschung: Der "altmodische" Begriff Gesellschaft, der in den 1970er Jahren im Vielnamenfach - Volkskunde, Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie, (Alltags-)kulturwissenschaft auftauchte - , sei seit den 1990er Jahren schleichend verschwunden, konstatiert Johanna Rolshoven. Sie fragt: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Gesellschaft und Kultur seien nicht voneinander zu trennen. Die Professorin sieht die Stadt als Schauplatz und den Alltag als Handlungsort von Gesellschaft. Migration prägt die Städte, bringt sie voran und fordert sie mit konfliktreichen Situationen heraus … Es ist unabdingbar, die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft mit konstruktiven Argumenten zu stützen und immer wieder auf die positiven Aspekte transnationaler Zuwanderung hinzuweisen, um Migrationsprozesse , ohne die Gesellschaft nicht denkbar wäre, zu normalisieren. … Die migrantischen Ökonomien sind Pioniermodelle glokaler Strukturen, die aus dem Wirtschaftskontext einer Stadt heute nicht mehr wegzudenken sind. Ein Beispiel hat sie in ihrer eigenen Grazer Wohnumgebung gefunden, einen türkischen Geschäftsinhaber, der mit seiner Familie gebrauchte Mobiltelefone und Fahrräder repariert, Gold ankauft, Schreibwaren verkauft und die einzige Poststelle im ganzen Quartier bedient. … Sein Laden ist zu einem Ort geworden, an dem die Quartiersbewohner_innen zum Plaudern verweilen (können).

hmw