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Heinrich Tinhofer: Die 40 Wasserfälle Richtung Wien#

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Heinrich Tinhofer: Die 40 Wasserfälle Richtung Wien. Der Wiener Neustädter Kanal Die Achse des Industrieviertels. Kral-Verlag, Berndorf. 260 S., ill., € 19,90

2023 feiert der Wiener Neustädter Kanal sein 220-Jahr-Jubiläum. Am 12. Mai 1803 fuhr der erste Frachtkahn von Wien nach Wiener Neustadt und Mitglieder der Kanalbau-Hofkommission nahmen die hochoffizielle Inspektion der neuen Verkehrsader vor. Bei der 65 km (jetzt noch 36 km) langen Anlage handelt es sich um das älteste große Industriebauwerk Österreichs. (Die Semmeringbahn wurde erst ein halbes Jahrhundert, die 1. Wiener Hochquellenwasserleitung 70 Jahre später eröffnet.) Der einst schiffbare Wasserweg verbindet 16 Anrainergemeinden zwischen Biedermannsdorf und Wiener Neustadt. Auf der Strecke galt es, 80 Höhenmeter zu überwinden, wozu 50 Schleusen dienten. 40 dieser "Wasserfälle" sind noch erkennbar. Die erhaltenen acht von ursprünglich 50 klassizistischen Brücken bilden das älteste Brückenensemble des Landes. Eine Besonderheit stellten die 16 Aquädukte über die den Kanal kreuzenden Flüsse dar, heute gibt es noch acht Aquädukte. Der Regionalhistoriker Heinrich Tinhofer hat diese "Alleinstellungsmerkmale" in seinem faszinierenden Buch herausgearbeitet.

Auf den erste Blick überrascht dessen Format, größer als A4. Der Grund erschließt sich rasch. Hunderte aktuelle Fotos, Visualisierungen und historische Ansichten ergeben, im Zusammenspiel mit den gewissenhaft recherchierten Daten über Bau, Technik und Ökonomie einen umfassenden Überblick. Mit zahlreichen Bildern, Tabellen und Texten ist es dem Autor gelungen, ein neues Standardwerk zu schaffen. Der studierte Techniker wollte Archäologe werden. Hier konnte er beide Disziplinen in vorbildlicher Weise kombinieren. Heinrich Tinhofer engagiert sich für die Revitalisierung des einzigartigen Industriedenkmals, das nach mehr als zwei Jahrhunderten eher unbekannt ist. Er schreibt: Vordergründig ist der ehemals schiffbare Kanal ohne seine einstige Mobilitätsfunktion und Kenntnis seiner Geschichte wenig attraktiv. Diese Wahrnehmung ändert sich jedoch, wenn man die folgenden "Stimmungsbilder" angesehen … und die Strecke zu unterschiedlichen Jahreszeiten und Wetterlagen befahren hat oder abgegangen ist. Die Stimmungsbilder längs der ehemaligen Achse des Industrieviertels geben romantische und überraschende Motive preis.

Nach der Gründung der Wiener Neustädter Steinkohlengesellschaft in den 1790er Jahren überlegte diese, einen Kanal nach dem Vorbild der englischen Narrow Canals anzulegen. Damit ließ sich die Transportleistung um ein vielfaches steigern. Auf der Straße konnte ein Pferd ein Fuhrwerk mit einer Tonne Last ziehen, mit der Pferdeeisenbahn waren es sechs Tonnen, jedoch unglaubliche 20 - 30 Tonnen, wenn es am Wasser einen Kahn zog. Der "oeconomische Canal" wurde hauptsächlich durch die Leitha gespeist. Die Schiffe waren fast 23 m lang, 2 m breit und fassten 30 Tonnen Ladegut. In den besten Zeiten waren 90 Lastkähne mit 4 km/h unterwegs. Von Wiener Neustadt nach Wien brauchten sie 1 ½ Tage. Zeitweise verkehrten Personenschiffe von Wien nach Laxenburg, sie erreichten ihr Ziel in drei bis vier Stunden.

Das Hauptkapitel beleuchtet die Perlenkette der Anrainer-Städte und Gemeinden des ehemals schiffbaren Wasserweges. Gezeigt werden die jeweiligen Wappen, Schleusen, Aquädukte und charakteristische Bilder. Detailliert geht jeder Abschnitt, illustriert mit Landkarten und historischen Ansichten, auf die Besonderheiten der Orte ein. In Wien lag das Kanalgebiet im heutigen 3. Bezirk. Der Hafen befand sich auf dem Areal von "Wien Mitte - The Mall", vor 2014 als Hauptzollamt oder AEZ bekannt. Bei der Beatrixgasse nächst der Tierarznei-Schule (seit 1996 Universität für Musik und darstellende Kunst) bestand eine Doppelschleuse, Nach 1849 übernahm die Bahn die Kanaltrasse (Schnellbahn S 7). Die Strecke außerhalb des Linienwalls in Landstraße, Simmering, Kaiserebersdorf und Unterlaa besaß das mit 11 m höchste Aquädukt. Es führte in Unterlaa an der Grenze zu Kledering über den Liesingbach. Die nächste Strecke - Rannersdorf, Lanzendorf, Leopoldsdorf - weist als größte Sehenswürdigkeit die barocke Wallfahrtskirche Maria Lanzendorf mit dem Kalvarienberg auf. In Biedermannsdorf findet der Kanal heute sein nördliches Ende, seit 1973 mündet er hier in den Mödlingbach.

Zum Kanalabschnitt Laxenburg zählt die Franzensburg mit dem Schlosspark. In der Nähe steht der älteste Bahnhof Österreichs. 1845 bis 1932 in Betrieb, ersetzte er den Personenverkehr auf dem Wiener Neustädter Kanal. Der Abschnitt Guntramsdorf, zwischen Laxenburg und Gumpoldskirchen war 1797 dessen erstes Baulos. Der Verlauf bei Gumpoldskirchen zählt zu den kontrastreichsten … , einerseits wegen der Industriezone am Kanal im Osten, andererseits wegen der Weinbauidylle im Westen von Gumpoldskirchen. Daran schließt der Abschnitt Traiskirchen, Möllersdorf Das Museum in der ehemaligen Kammgarnfabrik geht ausführlich auf die Industriegeschichte ein. Dazu zählt auch die Matador-Fabrik in Pfaffstätten. Im Kanalabschnitt Tribuswinkel, Traiskirchen, Leesdorf sieht man das längste Aquädukt, das über die Schwechat führt. Die Stadt Baden bildet ein besonderes Kapitel, u. a. weil der Förderer der Wasserstraße, Kaiser Franz, hier viele Sommer verbrachte. In Bad Vöslau lebte der Schlossherr und Kanalpächter Moriz I. Reichsgraf von Fries. Unter seinen Nachfolgern entwickelte sich Vöslau zum beliebten Kurort. Das Wasserschloss von Kottingbrunn beinhaltet Gemeindeamt, Ortsmuseum und ein Restaurant. Im Abschnitt Leobersdort, Schönau an der Triesting schwenkt die Wasserstraße ab, um dem berühmten Park des Barons Peter von Braun auszuweichen. Im Streckenteil Sollenau, Ebenfurth, Eggendorf befindet sich die letzte Schleuse (Nr. 36). In Wiener Neustadt ist neben den historischen Sehenswürdigkeiten das Industrieviertelmuseum mit seinem Kanalmodell zu besichtigen.

Die abschließenden Kapitel beschäftigen sich mit den speisenden Flüssen des Wiener Neustädter Kanals und jenen, die ihn kreuzen, Schwemmkanälen und Holztriften. Sehr interessant ist die kommentierte Wiedergabe des Zeitzeugenberichtes von Franz Anton de Paula Gaheis, der Anfang des 19. Jahrhunderts "Spazierfahrten zur Besichtigung des neuen Kanals" unternahm. Den Kontrast bilden Überlegungen zur Zukunft des Wiener Neustädter Kanals als Industriedenkmal und Tourismusattraktion, sowie Kuriosa am Kanal. Heinrich Tinhofer hat auf 250 großformatigen Seiten ein einmaliges Werk geschaffen, das alle Aspekte berücksichtigt. Dazu kann man ihm nur gratulieren - und dem Buch wie seinem Thema im Jubiläumsjahr breitestes Interesse wünschen.

hmw