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Hermann Bausinger: Vom Erzählen#

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Hermann Bausinger: Vom Erzählen. Poesie des Alltags. Hirzel Verlag Stuttgart. 208 S., € 22,-

Hermann Bausinger (1926-2021) war einer der ganz Großen der Kulturwissenschaft. Er reformierte das belastete Fach Volkskunde grundlegend. Schon 1986 setzte er als Leiter des Instituts für empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen mit "Volkskultur in der technischen Welt" neue Maßstäbe. Weitere wegweisende Publikationen folgten. Hermann Bausinger erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise, war Mitglied vieler Gremien und wissenschaftlicher Gesellschaften. "Vom Erzählen" über die "Poesie des Alltags" ist posthum erschienen.

Wenn ein Wissenschaftler vom Format eines Hermann Bausinger (und davon gibt es nicht viele) über ein so alltägliches Thema schreibt, darf man unerwartete Einsichten erwarten. Das Buch beginnt mit der Feststellung Erzählen können Alle. Als erstes Beispiel nennt der Autor Fahrgäste, die auf einen Bus warten, der nicht kommt. Nach längerem Schweigen und Schimpfen nimmt eine Erzählrunde ihren Lauf - und endet erst, als sich der Bus endlich nähert.

Üblicherweise denkt man beim Begriff "Erzählen" an Märchen oder literarische Produkte, doch die Kulturwissenschaft denkt weiter. Neuerdings spielt der Begriff der Erzählung auch in der Philosophie und der Wissenschaftstheorie eine wichtige Rolle. Als Narrativ werden übergreifende Perspektiven auf historische Entwicklungen, auf die Struktur der Gesellschaft, auf kulturelle, politische und ökonomische Gegebenheiten bezeichnet. Das Wort ist abgeleitet aus dem lateinischen narrare und direkt aus dem Englischen übernommen. … Es ist allerdings relativ schnell zu einem Modebegriff geworden, der banalen Erkenntnissen und Wissensbeständen den Anschein größerer Bedeutung vermitteln soll …

Wissenschaftlich und umfassend, immer mit einem Schuss Humor, referiert Bausinger die Vielfalt der Erzählungen und die Spielarten des Erzählens. Im ersten Teil geht es um persönliche Geschichten. Der zweite Teil widmet sich Erzählformen, die größtenteils in einer Jahrhunderte alten Tradition stehen, aber immer noch verfügbar sind und moderne Modifikationen aufweisen. Der dritte Teil behandelt die Impulse, die von der Sprachwirklichkeit auf die Erzählungen und das Erzählen ausgehen.

Man erzählt immer von sich selbst, hat der Forscher beobachtet. Für Erzählungen, welche die Realität den Wunschvorstellungen anpassen, verwendet er den Begriff "Rechtfertigungsgeschichten". Häufige Wiederholung macht sie für die Erzählenden immer glaubhafter - was aus gutem Grund ein gewisses Misstrauen gegen alle autobiografischen Darstellungen nährt. … Mit Erzählungen wird am eigenen Image gearbeitet, also an der Sicht von außen. … Die zurechtgebogenen Geschichten … haben auch einen unmittelbaren Effekt der Stabilisierung: sie verbessern das Selbstbild und stärken die Selbstsicherheit der Erzählerinnen und Erzähler. Dem Kulturwissenschaftler ist die Schwäche der "Oral History" bewusst, obwohl gerade diese Methode in den 1980er Jahren von Historikern als besonders authentisch geschätzt wurde.

Der zweite Teil widmet sich dem Traditionsbestand der Erzählmuster. Wer erzählt, kann auf einen reichen Bestand alter Geschichten, Legenden, moralischer Beispielgeschichten, Sagen, Märchen, Schwänke, Witze und Anekdoten zurückgreifen. Sie folgen ihren eigenen Gesetzen. Bausinger nennt sie autarke, autonome Geschichten oder "Fertig-Stories". Den größten Einfluss auf die deutschsprachige Erzählkultur hatte die 200 Texte umfassende Märchensammlung der Brüder Grimm. Ein Dutzend daraus zählt bis heute zu den allgemein bekanntesten, wie Rotkäppchen, Aschenputtel, Hänsel und Gretel, Dornröschen oder Schneewittchen. Oft genügt ein kurzes Zitat, und jeder weiß, was gemeint ist. Jacob und Wilhelm Grimm verstanden ihre "Kinder- und Hausmärchen" als ein "wahres Erziehungsbuch". Viele Kinder lernten die Geschichten - abweichend von romantisierenden Vorstellungen - nicht etwa im heimeligen Stübchen der Großeltern kennen, sondern in der Schulstube. Dort aber waren Märchen in erster Linie ein Mittel der moralischen Belehrung … Gute Kinder folgen ihren Eltern. Gute Kinder lügen nicht. …

Märchen und Lüge behandelt die Beziehung zwischen Geschichten und Unwahrheiten. "Erzähl keine Märchen" ist ein geflügeltes Wort, wenn eigentlich Lügen gemeint sind. Mär, Märe, Märchen bezeichnete ja ursprünglich das Gerücht. … Es besteht eine Überlappung in dem Bereich, in dem die Phantasie das Hausrecht hat. Insofern gibt es Verbindungen zwischen Dichtung und Lüge, beim Märchen als potenzierter Dichtung erst recht. Zu den weiteren Kapitel im zweiten Teil zählen Und die Moral von der Geschicht' und Der Glaube ans Unglaubliche.

Der abschließende dritte Teil reicht bis in die Gegenwart. Es geht um Sprache als Starthilfe und Stilbestimmung, zunächst um den Witz. Die Gattung Witz als populäre kleine Erzählung, die auf eine Pointe zuführt, bildet sich erst im 19. Jahrhundert heraus. Vorher hat das Wort Witz eine andere Bedeutung: es bezeichnet intellektuelles Niveau, kreative geistige Kapazität. Man hatte Witz, aber man verfügte nicht über eine Ansammlung von Witzen. Die Beispiele reichen vom derben Veilchen-Schwank des Wiener Ritters Neidhart bis zur Situationskomik im bekannten Film "Dinner for One".

Film, Fernsehen, Radio, Telefon und Internet prägen Kommunikation und Erzählkultur. Auf all den geschilderten Stufen der Medienentwicklung beeinflussen die technischen Vorgaben der Medien und deren gesellschaftliche Funktion die sprachlichen Möglichkeiten, die wiederum mitbestimmen, was und wie erzählt wird. Besonders deutlich wird dies in den als Soziale Medien etikettierten Kommunikationsfeldern, zu denen sich alle digital Vernetzten Zugang verschaffen und die Möglichkeit aktiver Beteiligung erwerben können. … Die mögliche weitere Entwicklung sieht der Autor differenziert. Schade, dass der Entdecker der "Volkskultur in der technischen Welt" dazu keine weiteren Erkenntnisse mehr liefern kann.

Noch ist offen, in welche Richtung sich das Kommunikationsgeschehen entwickelt. Hermann Bausinger wird jedenfalls recht behalten: Der Reiz des Erzählens und der Erzählung liegt nicht zuletzt darin, dass sich mit ihrer Hilfe die ganze Vielfalt des Lebens und der Welt erschließt.

hmw