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Florian Rötzer: Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz#

Bild 'Rötzer'

Florian RÖTZER: Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Über den Wandel einer Kulturtechnik. Transcript Verlag Bielefeld. 128 S., € 19,-

Der Philosoph Florian Rötzer geht in diesem Buch der Frage nach, ob Künstliche Intelligenz (KI) menschliche AutorInnen und LeserInnen verdrängt oder ob die Kulturtechnik des Lesens durch die neuen Einflüsse "nur revolutioniert" wird. Maschinelle Leser rezipieren Texte und verarbeiten sie zu neuen. Sie verstehen das Geschriebene nicht, sondern lernen eine wahrscheinliche Wortkombinatorik. Der Autor schreibt in der Einleitung: "Anders als in der Antike, als sich die Schrift durchsetzte, und in der Renaissance, als der Buchdruck Furore machte, tritt nun mit der digitalen Informationstechnik ein neuer, zwar immer noch vom Menschen geschaffener, aber nicht-humaner Schreib-/Lesekopf auf die Bühne, der seine Leseerfahrung nach Aufforderung in etablierte Textformen umsetzt. Allerdings sind diese digitalen Produkte nicht als solche ausgewiesen."

Im Kapitel "Die Leere am Beginn von Lesen und Schreiben und der Ausbruch aus der Schriftkultur" erinnert der Autor daran, dass wohl leere, nach dem Beschriften gebrannte) Tontafeln die ersten Schriftträger waren. Es folgten unhandliche Papyrusrollen, danach gebundene Bücher aus Pergament. Der griechische Philosoph Platon, der um die Wende von 4. zum 3. vorchristlichen Jahrhundert lebte, hielt Lesen und Schreiben für Knaben als unentbehrlich. Er meinte aber, dass Wissensaneignung nur im Gespräch zwischen Schüler und Lehrer möglich sei. Die stumme Schrift könne weder Fragen beantworten, noch Fehler aufklären.

Das Christentum hat in der Bibel das anerkannte Wissen kondensiert und unliebsame andere Bücher verbrannt. Im Neuen Testament ist, so Florian Rötzer, kaum von einem lesenden Jesus die Rede, während sein beeindruckendes Sprechen hervorgehoben wird. Am Anfang, meint der Autor, war nicht das Wort, sondern die leere Seite. Sie "schiebt sich vor die Welt" und wird zum "Sprungbrett der Imagination". Er erinnert an die Entwicklung der Schriftträger, die weitere Entwicklungen ermöglichte. "Voraussetzung des Buchdrucks war die Verwendung des Papiers, das in China erfunden wurde, sich in Europa aber erst im 13. Jahrhundert nach Gründung der ersten Papiermühlen ausbreitete. … Bücher wurden in der Regel seit der Spätantike aus Pergament gefertigt." Um eine Bibel herzustellen, benötigte man die Haut von hunderten Schafen, Ziegen, Kälbern oder Lämmern. Daraus ließen sich gebundene Bücher anfertigen, die viel praktischer waren als die Papyrusrollen. Man brauchte nun beim Lesen nicht mehr zwei Hände, konnte im Buch (Codex) blättern und beim Lesen sitzen. Im 3. Teil wird erklärt, wie dies zur Popularisierung des Sessels beitrug, der ursprünglich als Thron den Herrschern vorbehalten war. Schon um 600 erfanden britische Missionare das Taschenbuch. Die illustrierten kleinen Bibeln waren mit 12 bis 17 cm Länge und 11 bis 14 cm Breite besonders handlich. Papier wurde im Mittelalter aus Hadern hergestellt, seit dem 19. Jahrhundert aus Holz. Es war bedeutend billiger als das, noch parallel verwendete, Pergament und Voraussetzung für den Buchdruck in größeren Auflagen. Johannes Gutenbergs Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern um 1450 löste eine Medienrevolution aus, die Parallelen zur heutigen aufweist.

Florian Rötzer übertitelt den 2. Teil seiner Kulturgeschichte "Sind intelligente Chatbots Psychopathen?" Er hat den Eindruck, dass sich die biblische Geschichte vom Sündenfall wiederholt: "Die schlauen KI-Systeme spielen im Garten Eden unter dem wohlgefälligen Blick ihrer Entwickler noch vor sich hin. Aber wehe, wenn sie den Apfel finden, dann ist Schluss mit dem Paradies. … Wir stehen erst am Beginn einer Entwicklung, die wie üblich ein neues technisches Wettrüsten zwischen KI-Programmen auslösen wird, dessen Ausgang unsicher ist. … Aus dem Wettrüsten durch Maschinenlernen würden Menschen zunehmend ausgeschlossen sein."

Während sich hier auch Experten noch auf unsicherem Terrain bewegen, scheint klar: "Lesen ist nicht nur eine Kulturtechnik …". Der Philosoph erinnert an den Unterschied zwischen dem vorindustriellen flackernden, schwachen Licht und modernen Beleuchtungsmitteln - "gezähmtes Licht" - an die sich die Städter gewöhnt haben. Der "einsame Leser" im Kerzenschein ist kulturgeschichtlich eine späte Gestalt. Meist wurde gemeinsam vorgelesen oder - heute verpönt - allein laut gelesen. Der Wandel vollzog sich in mehreren Etappen, die der Autor so charakterisiert: In der römischen Antike bis ins frühe Mittelalter war es in den meisten Häusern finster. Fensterglas setzte sich erst im 12. Jahrhundert durch. Danach stieg die Zahl der Bücher und der Leser, was mit der Gründung von Universitäten und Bibliotheken einherging. Kurzsichtigkeit - damals ein Charakteristikum von Lesern und Stubenhockern - breitete ich aus. Lesesteine, und ab 1300 Brillen, schufen Abhilfe. Bis ins 18. Jahrhundert nahm die Lesekompetenz zu, nicht aber die Schreibkompetenz. "Während man mit dem einen Bein schon in die Epoche der Schrift eingetreten war, stand man mit dem anderen noch im mündlichen Zeitalter."

Vom Klostergründer Benedikt von Nursia, der an der Schwelle von der Spätantike zum Frühmittelalter lebte, ist Ora et labora als Ordensregel bekannt. Er verlangte von seinen Mönchen nicht nur, dass sie beten und arbeiten sollten. Es heißt viel mehr Ora et labora et lege.. Um die Mitbrüder nicht zu stören, sollten die anderen zu vorgegebenen Zeiten still lesen. Der Islam bevorzugt die Praxis des lauten Lesens. Dabei muss auf das richtige Sprechen nach strengen Regeln ("Tadschwid") geachtet werden. Im jüdischen Gottesdienst wird in einer Art Sprechgesang aus der Tora vorgelesen. So wird die hebräische Bibel auch gelernt. Die Schrift gibt den Takt vor. Rhythmische Bewegungen machen die Lektüre zur "ekstatischen Übung".

"Warum so lange und über verschiedene Kulturen hinweg an der scriptura continua, also an der Schreibweise ohne Wortabstände und Satzzeichen, festgehalten wurde, ist ein Rätsel. … Geschrieben wurde nur mit Großbuchstaben. Dabei fand für Inschriften die Capitalis monumentalis Verwendung, für Handschriften jedoch die aus dieser entwickelte Capitalis quadrata bzw. die Capitalis rustica. Nordirische Mönche begannen, die scriptura continua zu verlassen und die Wörter in ihren Bibelabschriften durch Abstände zu trennen. "Der Beginn der zweiten Leserevolution, die wahrscheinlich tiefgreifender war, als die Erfindung des Buchdrucks."

Kaiser Karl der Große, der Analphabet gewesen sein soll, bestimmte den angelsächsischen Gelehrten Alkuin (ca. 730-804) zum Leiter der Kathedralschule in Aachen, wo die Elite des fränkischen Reichs ausgebildet wurde. Alkuin war ein großer Bücherfreund und motivierte den Kaiser, an allen Klöstern und Bischofssitzen theologische Lehranstalten einzurichten. Außerdem führte er als neue Normschrift die Karolingische Minuskel - mit Groß- und Kleinbuchstaben, Wortabständen und Interpunktionen ein.

Sein Schlusskapitel nennt Florian Rötzer "Maximale Geschwindigkeit: Rasen auf der Textautobahn". Er vergleicht die Schrift mit der Rodung einer Wildnis. "Mit den digitalen Medien und den lesenden und sprachverarbeitenden Maschinen rückt das Ende der fundamentalen Kulturtechnik des Lesens womöglich viel schneller als erwartet heran." Auch an Verfahren zum Schnellesen mangelt es nicht. Statt bisher 250 bis 300 Wörtern pro Minute soll man 900 und mehr erreichen. "Digitale Medien schreiben keine unveränderliche Wahrheit mehr auf ein Blatt Papier, sie generieren vielmehr permanent veränderliche, flüssige Texte bzw. multimediale Informationsströme, die sich den aktuellen Prozessen anpassen und schnell wieder im digitalen Nirwana verschwinden können. … ähnlich wie Heraklits Panta rhei: "Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen."

hmw