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(Foto: Christoph Huber)
(Foto: Christoph Huber)

Lemmerer und der Steirerblues#

(Eine Intrada)#

Ich bin ein Bewohner der Provinz. Das heißt, ich lebe abseits des Landeszentrums. Ich will das betont wissen, weil ich immer noch erlebe, daß Leute mich Provinzler mit „provinziell“ assoziieren. Solche Dünkelhaftigkeit ignoriert nicht bloß persönliche Anschauung, sondern auch die Konsequenzen von wenigstens zwei Revolutionen. Erstens jene der persönlichen Mobilität (Personal Transport). Diese wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch den Fahrradtyp des Niederrades („Safety“) eingeleitet.

Sie bekam in den 1950er Jahren, als wir schon live dabei waren, eine radikale Neuerung. Damals begann eine umfassende Volksmotorisierung, gestützt auf den massenhaften Privatbesitz von Kraftfahrzeugen.

Den zweiten bedeutenden Veränderungsschub bezog das Denkmodell „Zentrum/Provinz“ aus der Digitalen Revolution, die wir als Dritte Industrielle Revolution kennen. Es geht also um Kommunikation und Raumüberwindung. Die physische Mobilität hat übrigens einen besonderen Hintergrund in der sozialen Mobilität und beides steht miteinander in Wechselwirkung.

Die agrarische Welt#

Menschen wie der Lemmerer und ich wären in der agrarischen Welt vermutlich bloß ein lokales Ereignis gewesen, wenn überhaupt. Er hätte als exzellenter Musiker mutmaßlich die geringeren Widerstände erfahren. Als Autor wäre für mich im Dorf nichts zu holen gewesen. Ich nehme bei dieser Überlegung Maß an der Person Franz Gsellmann, dem oststeirischen Bauern, der die „Weltmaschine“ gebaut hat.

Seine Schwiegertochter hat mir von den Problemen erzählt, die er machte und die er bekam, weil er aus der kleinen Landwirtschaft Arbeitskraft und Geld für seine Maschine abgezogen hatte. Ich sagte an einer Stelle unseres Gesprächs: „Das hieß ja: wer sich nicht schindet, hat nichts gegolten.“ Sie darauf: „Wer sich nicht schindet, hat nichts zum Essen gehabt.“

Es ist allerdings begreiflich. Man mußt als Teil derart kleiner Wirtschaften ganz konkret nützlich sein. Oder man existierte auf Kosten der anderen Leute im gemeinsamen Betrieb, die den nötigen Ertrag zu erwirtschaften hatten.

Die Weltmaschine des Franz Gsellmann (Foto: Martin Krusche)
Die Weltmaschine des Franz Gsellmann (Foto: Martin Krusche)

Sie werden nun nicht überrascht sein, wenn ich betone: hier sind wir gleich mitten in der kulturpolitischen Dimension solcher Themen. Freizeit ist ein junges Phänomen. Wie und wann war man also von der täglich anfallenden Arbeit freigestellt, um anderen Dingen nachgehen zu können? Tätigkeiten, die nicht der Alltagsbewältigung dienten. Ich greife vor: genau in diesen Zusammenhängen ist freilich der Blues ein sehr interessantes Gebiet. Er stammt ja – als bedeutende Kulturleistung - nicht von Dienstboten, sondern von Sklaven der damaligen Herrschaft in den USA.

In dem Zusammenhang finde ich es besonders spannend, daß der Sigi Lemmerer aus der agrarischen Welt herkommt, sich als virtuoser Musiker etabliert hat, und nun Musiken aus diesen beiden Welten miteinander verknüpft, um zu erkunden, was das in einem auslöst.

Zug der Zeit#

Drei Generationen reichten, um drei grundlegend verschiedene Systeme kennenzulernen. Meine Großeltern waren noch Untertanen des Kaisers. Sie wurden dann aber gemeinsam mit meinen Eltern die Gefolgsleute eines Tyrannen. Das ging in einem der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte unter. Ich bin ein Bürger der Republik, der meine Großeltern auch noch angehört haben.

Innerhalb dieser drei Generationen hatte sich bei uns erst einmal gegen Ende des 19. Jahrhundert zunehmend etabliert, was man sich unter einer Nation vorstellen könnte. Im Fall meiner Leute war das beizeiten durch Antisemitismus und rassistische Konzepten geprägt.

Von Verdun über Auschwitz nach Srebrenica hat Europa überprüft, was ein Nationsbegriff taugt, der ethnisch gewichtet wurde und mit eher dichten Grenzen umgesetzt sein will. Ich werde auf diese Belange hier nicht weiter eingehen. Ich habe damit bloß eine Art Kontrastmittel hochgezogen, eine Hintergrundfolie, die etwas deutlicher hervortreten läßt, was man auch im Trüben noch erkennen könnte.

Für Musikanten sind ethnische und nationalstaatliche Grenzen höchst irrelevant. Ganz im Gegenteil, sie zu ignorieren, zu überschreitet eröffnet einen ebenso wesentlichen wie unverzichtbaren Möglichkeitsraum. Das verschwimmt ein wenig unter jüngsten Ausritten „woke“ gestimmter Gschaftlhuber, die sich im Betonen angeblich illegitimer kultureller Aneignungen so manchen Entwicklungen in den Weg zu stellen versuchen. Entwicklungen, die über sie hinweggehen werden. Was ist damit gemeint?

Aneignungen#

Ein populäres Beispiel. Die schwarze Lyrikerin Amanda Gorman war Inaugural Poet bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden. In der Folge gab es eine Debatte darüber, daß die Übersetzung ihrer Texte in eine andere Sprache nicht von einer weißen Person erledigt werden dürfe. Da wird Ethnos als „Nation“ gedeutet und an ihren „Grenzen“ rassistisch besetzt, um künstlerische Stoffe zu kapern, sie gegen andere Gruppen abzuschotten.

Es erscheint mir auf merkwürdige Art als das legitime Pendant zum rassistisch geprägten Konzept „Der schöne Wilde“, wie er ganz gerne für gängige Zivilisationskritik in Marsch gesetzt wird.

Selbstverständlich fällen wir gelegentlich Urteile über kulturelle Techniken und das Entstehen von Werken, über die Ergebnisse. Und zwar nachdem wir Intentionen und Effekte geprüft haben. Intentionen und Effekte! Vor diesem Hintergrund mag ich dieses Ringen von Musiker Sigi Lemmerer, über derlei kulturelle und nationalstaatliche Grenzen hinweg zu relevanten künstlerischen Ergebnissen zu kommen, die mir sehr fundiert erscheinen.

Bild 'lemmerer02'

Bevor ich das näher ausführe: Lemmerer ist in Wörschach zuhause, im Ennstal, also – wie ich - jenseits des Landeszentrums; und zwar etwas abgelegen. Per Auto von Wörschach nach Graz, das macht rund 130 Kilometer. (Für Gleisdorf-Wörschach kämen pro Fahrt noch einmal rund 30 Kilometer dazu.=

Im Bauch der Musik#

Telekommunikation faltet diese Distanz mühelos zusammen. Mindestens für einen regen Austausch. Auf dieser Ebene entspann sich 2022 ein Dialog zwischen uns, welcher so begann; Lemmerer:

„Die Reihenmischung ist ein völlig NEUES kompositorisches Verfahren (im Kontrapunkt). Theoretisch ist es einfach: Die Melodie der 'Nebenreihe' muß dergestalt sein, dass ihre Intervalle NICHT mit jenen der 'Hauptreihe' kollidieren. In der Praxis jedoch ist das sauschwer, weil man mindestens 20 Anläufe nehmen muß. Beim 'Steirerblues' wird eine Reihe vom Mississippi der zweistimmigen traditionellen steirischen Durton-Melodie an die Seite gestellt und kooperiert mit ihr sozusagen. Das ist heiß, sehr heiß und neu! Die Mississippi-Reihe hebt die rhythmische Schwerfälligkeit somit auf. In den letzten Jahrzehnten ging es in der Musik nur mehr um Computer. Das sollte sich ändern!“

Zugegeben, da kommt man etwas ins Grübeln, wenn einem die Materie nicht vertraut ist. Musik ist ein komplexer Code, den man durchaus beherrschen kann, ohne ihn lesen zu können. Aber es gibt Vorhaben, für die man – wie Lemmerer – eine Menge Ahnung braucht, was diesen Code Musik ausmacht und was seine Regeln sind. (Diese Regeln muß man ja auch kennen, um sie elegant brechen zu können.)

Für jemanden wie mich ist das magisch. Ich bin mit etlichen künstlerischen Techniken vertraut. Was aber im Bauch der Musik geschieht, um bestimmte Situationen herzustellen, bleibt mir immer ein Rätsel. Das bedeutet, ich kann den Code Musik verstehen, aber nicht lesen. Also hab ich Lemmerers Ausführungen innerhalb unseres Dialogs notiert und will das zusammenfassen, nachvollziehbar machen.

Ich gestehe, eben dieser Dialog begann nicht ganz so sachlich. Ich hatte gerade eine Flasche Jameson Black Barrel erwähnt, denn das ist immer noch ein feines Geschmackserlebnis, auch wenn man sein Geld gerade eher zusammenhalten muß. Darauf meinte Lemmerer im Sinn einer Reminiszenz: „Der Roadie damals stiftete Jameson Whiskey!“ Ich: „ ja, das kenn ich.“ Lemmerer: „'Never trust a man who doesn´t drink!' sagen die Iren immer!“ Ich: „das seh ich auch so!“



Postskriptum#

Dieser Text ist der Vorbote einer Publikation im Rahmen meiner Reihe „Gleisdorf.Überlagerungen“, wo der erwähnte Dialog Lemmerer-Krusche ausführlicher dokumentiert wird. Diese Intrada hat, wie oben erwähnt, auch eine kulturpolitische Dimension, weshalb sie in jener Themenleiste ebenfalls gelistet wird.