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Krusche live im Grazer Augartenkino.
Krusche live im Grazer Augartenkino.

Episode XV: Zwischen Beuys und Ensslin#

(Gewalt? Esoterik? Andere Optionen?)#

Von Martin Krusche#

Wenn ich in diesem Arbeitsabschnitt gelegentlich Zitate von Josef Beuys verwende, dann stammen sie meist aus der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Künstler wie Wolf Vostell waren mir vergleichsweise nicht annähernd so eloquent und voller Sendungsbewußtsein erschienen. Künstlerinnen wie Maria Lassnig oder Valie Export kamen mir sowieso wie von einem völlig anderen Kontinent vor.

Ich hatte im Jahr 1975 beschlossen, daß ich konventionelle Berufsfelder verlassen werde, um in der Kunst zu leben. Das konnte ich 1977 realisieren, indem ich meinen Job als Buchhändler sehr romantisch und ohne realistische Vorstellungen vom Kunstbetrieb hinschmiß; mit großer Geste, wie angenommen werden darf. So zog ich los. Meine Erwartung war: Neuland um jeden Preis.

Ich wurde damals von vielem stark bewegt, beeindruckt. Vor allem was mich aus Deutschland und aus den USA erreichte, beschäftigte und prägte mich. Aus den Staaten berührte mich hauptsächlich Literatur; von Nelson Algren über Richard Brautigan und John Dos Passos bis zu John Steinbeck. Musik sowieso; in voller Breite. Und das Treiben von Leuten wie Jerry Rubin oder Malcolm X.

Fundamentaler Szenenwechsel#

Jenes 1977, mein Jahr des Umbruchs, erwies sich als ein besonderes Jahr für unseren Teil Europas. Volker Schlöndorff hat es 1978 mit dem Film „Deutschland im Herbst“ und Margarethe von Trotta 1981 mit ihrem Film „Die bleierne Zeit“ bearbeitet. (Wer erinnert sich noch an den Begriff Stadtguerilla? Brigate Rosse? Rote Armee Fraktion?)

Für mich war das damals höchst einprägsam durch des Bild einer toten Frau vermerkt, die an einem Fenstergitter hing. (Ich hatte gestaunt, daß Fotos davon kursierten. Ein Ereignis, das offenbar die Massen bewegte.) Diese Frau war Mitbegründerin und führendes Mitglied der Rote Armee Fraktion gewesen, Weggefährtin von Andreas Baader. Dienstag, den 18. Oktober 1977, erlosch das Leben von Gudrun Ensslin an einer Schlinge um den Hals in ihrer Zelle in Stammheim.

Gudrun Ensslin 1967 im Kurzfilm „Das Abonnement“. (Foto: Ali Limonadi, CC BY-SA 3.0)
Gudrun Ensslin 1967 im Kurzfilm „Das Abonnement“. (Foto: Ali Limonadi, CC BY-SA 3.0)

Damals wie heute beunruhigt mich das Ausmaß an Gewalt aller Beteiligten gegenüber allen, wie es sich in den Fotos der toten Ensslin ausdrückt. So hat es sich mir eingeprägt. Sie finden davon Versionen nach Bedarf im Internet, aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen. Ich habe keine Laune, das hier auf dieser Page direkt einzubeziehen.

Bis heute betrachte ich Ensslins verwüstetes Gesicht mit Neugier, als wäre darin etwas zu finden. Ich weiß freilich längst, was es diesbezüglich zu entdecken gibt, finde ich in mir selbst, nicht in anderen Menschen.

Ich denke, Beuys war in seiner Ablehnung des Staates und all seiner Institutionen, von Schulen bis zum Parlament, ähnlich radikal wie die Leute der RAF. Bloß daß er den Weg der Gewalt ausschloß und andere Strategien suchte. Bedenken Sie, Beuys war den Ansichten des Anthroposophen Rudolf Steiner eng verbunden.

Das wäre freilich für mich kein Weg gewesen, dieser esoterische Zug, den Beuys zeigte. Auch das massive Sendungsbewußtsein fand ich einfach uncool. Andrerseits half mir die Geschichte der RAF, allfällige Kerl-Phantasien rund um Gewaltkonzepte zu verwerfen.

Es war zu deutlich, wie derlei Gewaltexzesse einen fast schon Suchtcharakter zeigten und zu einer permanenten Schraube der Eskalation führten. Diese Bestie Gewalt bekommt man einfach nicht mehr an die Leine, wenn sie ausreichend wachsen durfte.

Einige Hintergründe#

Ich hab nun ein kleines Stück Hintergrundfolie zusammengetragen. Ein paar Bücher, die in jenen Jahren Wirkung auf mich hatten. Sie illustrieren einen Teil des Klimas und der Debatten, die wir geführt haben. Ich halte diese Texte heute noch für relevant. (Die Jahreszahlen nennen das jeweilige Erscheinungsjahr, meine Lektüre ereignete sich später.)
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  • 1947: Victor Klemperer, „LTI – Notizbuch eines Philologen“ (Lingua Tertii Imperii)
  • 1964: Hannah Arendt, „Eichmann in Jerusalem“ (Ein Bericht von der Banalität des Bösen)
  • 1964: Hermann Glaser, „Spießer-Ideologie“ (Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus)
  • 1970: Paulo Freire, „Pädagogik der Unterdrückten“
  • 1970: Jerry Rubin „DO IT!: Scenarios of the Revolution“
  • 1979: Hilmar Hoffmann, „Kultur für alle“ (Perspektiven und Modelle)
  • 1977/78: Klaus Theweleit, „Männerphantasien“

Das sind Zusammenhänge, Aspekte, Momente einer Zeit, in der Beuys sich stark exponiert hat und von meiner Generation wahrgenommen werden konnte; auch wenn ich mich nicht erinnern kann, daß wir in den Jahren bis 1980 Kunstdiskurse geführt hätten. Aber das war in meinem Fall vermutlich milieubedingt. In anderen Zirkeln dürfte es derlei Diskurse damals gegeben haben. Vertiefend: "Zur Autonomie im Kulturbetrieb".