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Rückkehr nach Meins #

Ich komme aus einfachen Verhältnissen, es war kompliziert. Wie bei der Bahn wechselte ich die Klasse. Und bekam fürwahr große Zeiten. Das war richtig. Das war ein Irrtum. Mit sechzig kehre ich zurück, wo ich hingehöre.#


Von der Wiener Zeitung (21. Juli 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Manfred Klimek


Der Autor Manfred Klimek vor dem Wiener Gemeindebau
Der Autor Manfred Klimek vor dem Wiener Gemeindebau.
Foto: © Klimek

Wie ich diesen Satz hasse: "Erinnere dich immer, woher Du kommst." Was für ein widerlicher, noch dazu vorgeblich gutgemeinter Rat, den nur jene verteilen, die es im Leben zu nichts bringen und zu nichts bringen werden. Was bitte soll mir die Erinnerung an den Gemeindebau bringen? An meine Kindheit und Jugend in der Leopoldstadt, dem zweiten Hieb, wo es im Stuwerviertel, heute gentrifiziert - in Hoch der Gentrifizierung -, den Kinderstrich gab und die alten, zahnlosen Huren vor der Rotunde, wie meine Großmutter, bei der ich aufwuchs, das Messegelände, des Nachts dunkel und von Exhibitionisten bevölkert, nannte. Das einzig Schöne an dem Bezirk waren das Flippern im Prater und die Lastenkähne der Donauschiffer, die aus dem Osten gefälschte Kent 100 und Makarov-Pistolen mitbrachten. Crystal Meth transportierten sie damals nicht. Noch nicht.

Es war eine Scheißzeit. Hauptrolle: Meine zu Recht von Abstiegsdenken hysterisierte Großmutter, die mit ihrem Karrierewahn, die Karriere, die sie nie machen durfte, zuerst das Leben ihrer Tochter, meiner Mutter ruinierte und danach mein Leben zu ruinieren trachtete. Den Plan habe ich ihr versaut, indem ich das Gymnasium schmiss, ein Jahr herumlungerte, dann widerwillig Kellner lernte, was ich auch schmiss, und dann den Fotokaufmann mit angeschlossenem Fotograf machte - nicht bei Humboldt. Mit meiner für damalige Zeiten kompromisslosen Fotografie sollte ich von 21 an jene Karriere machen, die meine Großmutter, bis zuletzt stur und nachtragend, endlich ruhigstellte. Sie hat mir verziehen, dass das mein Ding ganz alleine war - und ihr Anteil nichts. Der Traum vom Haus am Land

Ja, da war der Bildungswille. Aber nicht meiner. Ich verachtete dieses Bildungs-Kleinbürgertum, diese Menschen, die eine Abendausbildung machten, um beruflich - das unnötig und der Gesellschaft meist nicht Wesentliches beitragend - aufzusteigen, damit sie sich den Traum eines Haus am Land leisten konnten. Abends soff ich, rauchte und machte Liebe mit klugen und schönen Frauen, und sie dankenswert mit mir, die bald nicht mehr aus meinem Bezirk und meiner Klasse, der Klasse der gerade am Miserablen Vorbeigeschrammten, kamen.

Zugegeben: Der Gemeindebau war neu, gut gestaltet, das moderne Gymnasium gleich um die Ecke. Eigentlich ein Traum. Aber die Spießer, die in diesem Gemeindebau lebten, hielten sich für "aufgestiegen", was im Falle des rechtextremistischen Journalisten Schimanek und seiner der Wehrmacht huldigenden Söhne ja auch stimmte. Mein Freund Clemens, ebenfalls in diesen Gemeindebauten aufgewachsen und Universitätsprofessor, würde jetzt einwenden - und wird es auch gerade, wenn er das liest -, dass auch der Hilger von der Galerie dort aufwuchs. Und die Söhne Zbonek, jener ein freundlicher großer, beleibter Mann, der im Theater der Jugend Stücke für Kinder und Jugendliche so inszenierte, als wäre er der damalige Burgtheaterdirektor Achim Benning. Im vierten Haus hinten, das nicht mehr so luxuriös ausgestattet war, weil der Gemeinde das Geld ausging, wohnte Franz Muhri - Vorsitzender der ganz und gar unnötigen kommunistischen Partei, die Innenminister Olah schon um 1950 marginalisierte.

Vielleicht hätte Österreich diese Kommunisten als starke Partei gebraucht? Vielleicht hätte es dann unter den roten Wählern mit ihren Trottelfähnchen am 1. Mai im Gemeindebau nicht so viele Nazis gegeben, die ihre Kinder schlugen. Als Herr K., der seine Kinder schlug, sodass man ihr Schreien und Weinen hören konnte, sichtbar an Krebs starb, sagte ich ihm im Lift, vor seinen Kindern, dass sein Leiden und sein Tod mich freuen. Die ganzen freundlichen, roten Arschloch-Nachbarn haben einen Dreck getan. Auch als ich schrie, als ich gedroschen wurde, weil ich auf die Englisch-Schularbeit einen Dreier bekam.

Warum also soll ich mich an den stets nach Kohl oder gekochtem Hundefutter, Kutteln, stinkenden Bau erinnern wollen? Ich, der sich heute mit Vetiver von Guerlain parfümierte - ein Tipp übrigens, den mir Hans Magnus Enzensberger, deutscher Philosoph, beim Fototermin gab.

Ich war 23 und verdiente Geld wie Heu. Ich arbeitete, ohne mich je bewerben zu müssen, bei der einzigen Illustrierten des Landes, die internationales Format hatte. Und dann bald in Hamburg, in München und auch ein bisschen in London. Mein Fehler war, aus Feigheit nie nach New York gegangen zu sein. Das eine kommt zum anderen und ich lernte eine wahrhaft von Gestalt und Seele schöne Frau kennen. Mutter: alter, vornehmer, lebenslustiger Adel, Vater: dubios sich zum Großbürgertum zählend. Es war eine komplizierte Liebe, denn ich trug den Gemeindebau und den zweiten Hieb und all diese Hässlichkeit in mir und an mir wie ein Schlepptau, das längst abgeworfen gehört hätte. Das, was ich von anderen forderte, "Spring!", war ich nicht bereit zu leisten. Die Ehe scheiterte nach sieben Jahren, nach vier Jahre kamen wir aber für bessere sieben Jahre wieder zusammen. Bildung nur dank der Medien

Das Leben mit einer ehemaligen Lycee-Schülerin, weltgewandt und mit Benehmen, schien mir angemessen. Ihre Freunde hatten, bis auf den Rosenthal-Porzellan-Erben, genau keine Dünkel. Gut: Ich war ein Star der damals jungen Medien und Werbeszene und es hatte viel gebracht, dass ich so gut wie keine Bücher, dafür aber seit früher Jugend deutsche und englische Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine las - was meine Großmutter förderte, um nicht nur schlecht von ihr zu reden. Das Lesen dieser Weltblätter war meine Bildungsoffensive. Für mich.

Selbstredend gab es in diesem Bürgertum auch das Grauen; Abbildung eins war der Vater meiner Frau, ein bigotter, roher, verstörend rührseliger Kerl, Fabrikant, der sich für das Bessere hielt, der die "Kronen Zeitung" vergötterte, der nicht viel anders war - mehr Geld, das war’s - als dieser sterbende K. aus dem Lift. Es gibt sie überall. Im bürgerlichen Umfeld meiner Frau habe ich selten welche gefunden. Bei den Menschen, die mich im zweiten Bezirk umgaben und denen ich die Ehrenbekundung Prolet verweigere, aber sehr, sehr viele. Abschied vom Gestern? Sehr wohl, sehr gerne. Und auch radikal - mir ist das Radikale als reinigend vertraut.

War das also richtig so? Ja, war es. War es ein Irrtum? Ja, war es. Denn das Milieu einfacher Menschen blieb mir verhasst, aber nahe. Viele dort sind eben keine Arschlöcher, wie ich zeit meines Lebens erfuhr. Es sind in dieser, meiner Generation, vom Abstieg verängstigte Menschen; ein Abstieg, der nur jenen nicht droht, die mit dem Nichtfabrizieren Geld gemacht haben und jenes clever bunkerten - in Zeiten, als sich Geld von selber vermehrte, wenn es einmal da war und seine Besitzer es nicht versoffen und verkoksten, wie ich es tat. Diese Menschen, nicht ihre Eltern, haben ein Recht, wütend zu sein. An den Aufstieg geglaubt

Die einfachen Menschen glaubten das Aufstiegsversprechen, das ich, ohne es ernstzunehmen, zu meiner Wahrheit machte, die vielen, auch das erfuhr ich erst später, Bewunderung abrang. Bewunderung, die ich nicht verdiene - weil ich kein guter Mensch bin.

So habe ich beschlossen, wieder einfach zu leben. Nicht nur, weil ich nicht mehr Geld wie Heu verdiene, sondern vor allem, weil mir diese Rückkehr nach Meins immer im Kopf auch Möglichkeit blieb. Sterne-Restaurants, Château Latour, Fünf-Sterne-Hotel am Lago di Como: alles gehabt. Im Land Erinnerung, die Heimat, die im Alter bleibt, verblasst das alles seltsam rasch. Im letzten Abschnitt des Lebens zählen nur die Freiheit des Die-richtigen-Dinge-Tuns und ein Auskommen mit jenen Dingen, mit welchen einfache Menschen auskommen müssen. Dort unten ist die Heimat der von unten Gekommenen. Da soll sich keiner was vormachen, der dem entfliehen will.

Wiener Zeitung, 21. Juli 2022