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Bereit zur Revanche #

Russland ist heute eine revisionistische Macht, die sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nie abgefunden hat. Wie in Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg sieht man auch in Moskau heute dunkle Kräfte gegen sich.#


Von der Wiener Zeitung (19. März 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Gerhard Lechner


Ex-Diktator Josef Stalin ist für viele in Russland heute noch ein Symbol für die Stärke und die Macht des verblichenen Imperiums.
Ex-Diktator Josef Stalin ist für viele in Russland heute noch ein Symbol für die Stärke und die Macht des verblichenen Imperiums.
Foto: © afp / Dimitar Dilkoff

In seinem Roman "Moscoviada", der 1993 erschien, überspitzt der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch die Atmosphäre im Moskau nach dem Ende der Sowjetunion zu einer Groteske zwischen Traum und Wirklichkeit. Der westukrainische Literaturstudent Otto von F., der im "fauligen Herzen des halbtoten Imperiums" in einem Studentenheim lebt, zieht an einem nassen Maitag los, um Geschenke in der "Kinderwelt" zu besorgen - einem Kaufhaus, das neben der berüchtigten Lubjanka liegt, der Zentrale des sowjetischen Geheimdiensts KGB. Er verirrt sich in Gängen und Stiegenhäusern, landet in den Tunneln der Moskauer Kanalisation, gerät in die Gewalt von Geheimdienstbeamten, die ihn verhören, und wird Zeuge eines Gelages von KGBlern. Diese haben sich als Sowjetführer Wladimir I. Lenin oder Zar Iwan IV. der Schreckliche verkleidet und träumen von imperialer Wiederauferstehung.

Der Roman lässt erahnen, dass das Moskau der frühen neunziger Jahre nicht nur voll Hoffnung auf eine Wiederannäherung zwischen Russland und dem Westen war, auf eine Rückkehr nach Europa und dessen Verheißungen wie Wohlstand und Demokratie. Sondern dass auch damals schon der Schmerz über den Verlust des Imperiums und dessen Weltstellung bei vielen überwog. Rasch bildeten sich Bünde wie die schwarz uniformierte "Pamjat"-Bewegung, "rot-braune" Kreise, die den Westen erneut herausfordern wollten.

Das Chaos, das sich bald ausbreitete, trug dazu bei, dass sich bei Wahlen Nationalisten und Kommunisten durchsetzten. Präsident Boris Jelzin konnte sich nur dank manipulativer Tricks und westlicher Hilfe bis 1999 an der Macht halten. Vor allem innerhalb der Geheimdienste war der Schmerz über den Untergang der Sowjetunion groß. Das Standesethos des KGBlers beruhte auf dem Gedanken, "Schild und Schwert" von Staat und Partei zu sein.

Der Staat war nicht mehr da#

Nach dem Zusammenbruch standen viele Geheimdienstmitarbeiter dann plötzlich vor dem Nichts. Dazu kam, dass die "Generation Putin" im KGB damals noch nicht an den Schalthebeln der Macht saß, aber alt genug war, die Hilflosigkeit des Staates bei dessen Zusammenbruch voll mitzubekommen. Putin selbst, der zu dieser Zeit in Dresden saß, erlebte eine Demonstration wütender DDR-Bürger mit, die kurz davor waren, die Geheimdienstzentrale zu stürmen. Auf Rückfragen in Moskau reagierten die Genossen mit Schweigen. Die Hilflosigkeit und Untätigkeit des Staates - Putin gab später zu Protokoll, dass er damals das Gefühl hatte, dass "der Staat nicht mehr da" sei - hat sich dieser Generation tief eingegraben.

Die Angst, ein 1991 könnte erneut passieren, treibt die russische Staatsspitze bis heute um - wie auch Putins jüngste, aggressive Rede gezeigt hat, in der er dem Westen zum wiederholten Male vorwarf, Russland zerstückeln zu wollen. Den erneuten Zerfall des Landes - angesichts der Fragilität des multinationalen Imperiums ein durchaus realistisches Szenario - will Putin, wie er mehrfach andeutete, mit wirklich allen Mitteln verhindern.

Das Trauma, das der Zerfall der UdSSR 1991 bei vielen Russen ausgelöst hat, lässt sich durchaus mit der Stimmung in Deutschland nach der Niederlage 1918 vergleichen. Vor dem Ersten Weltkrieg war Deutschland eine Weltmacht im Wartestand. Wie heute China die USA forderte das wilhelminische Reich mit seiner wirtschaftlichen und militärischen Stärke und seinem Flottenbau den Platzhirschen Großbritannien heraus.

Nach dem verlorenen vierjährigen Kampf, in dessen Verlauf Deutschland viele Schlachten, nicht aber den Krieg gewann, war es Ziel der Westmächte, einen erneuten Aufstieg des Rivalen zu verhindern. Der Versailler Friedensvertrag war infolgedessen auch ein demütigender Diktatfrieden, den die neugegründete Weimarer Republik zu unterzeichnen gezwungen war - ein Stigma, das sie nie mehr loswurde: Schnell verbreitete sich die Legende, wonach die deutsche Revolution des Jahres 1918 ein Dolchstoß in den Rücken der unbesiegten Armee gewesen sei - eine Geschichtslüge, die allerdings enorm wirksam war und von vielen geglaubt wurde - auch von Adolf Hitler, der noch kurz vor Kriegsende 1945 betonte, ein 2. November 1918 dürfe sich nicht wiederholen.

Die Unversöhnlichkeit der Westmächte erschwerte ein Sich-Fügen in die Niederlage zusätzlich. Auch viele, die Hitler skeptisch gegenüberstanden, empfanden Genugtuung, als dieser "Zug um Zug die Fesseln des Versailler Vertrages zerriss", wie es auf Plakaten hieß. Dass dies nicht klammheimlich oder gar in Zusammenarbeit mit den zunehmend kooperationsbereiten Westmächten vor sich ging, sondern mit auftrumpfendem Stolz über die Dächer gebrüllt wurde, steigerte nach den Demütigungen für viele Deutsche eher noch das Lustgefühl, als Nation wieder stark und geachtet zu sein. Man war, dachte man, dem Chaos nach 1918 mit Revolution, Inflation und Verarmung und der Weltwirtschaftskrise, die von finsteren Kräften inszeniert worden sei, entronnen.

"Gorbatschow bestochen"#

Natürlich lässt sich Russlands Sowjet-Trauma nicht mit der deutschen Erschütterung nach 1918 gleichsetzen. Auch ist Wladimir Putin kein fanatischer antisemitischer Ideologe, Rassist und Völkermörder wie Adolf Hitler - trotz der Schrecken des jetzigen Krieges. Die Sowjetunion erlitt 1991 auch keine militärische Niederlage. Dennoch ist Russland heute eine revisionistische Macht, die sich nie mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion abgefunden hat. Dass die UdSSR, ein durchmilitarisierter Staat, dessen Rückgrat das gemeinsame Bewusstsein des Sieges über Hitlerdeutschland im "Großen Vaterländischen Krieg" bildete, einfach so, ohne Krieg, "mit einem Seufzer" von der Weltbühne verschwand, lässt in Russland bis heute Verschwörungstheorien ins Kraut schießen, die der Dolchstoßlegende ähneln.

Gängigen Thesen zufolge sei es der Westen gewesen, der KPdSU-Chef Michail Gorbatschow und seine verhassten Reformer bestochen habe, um dem geopolitischen Rivalen den Garaus zu machen. Und auch die Ukraine spielt dabei eine Rolle: Immer wieder wird der polnischstämmige US-Geostratege Zbigniew Brzezinski zitiert, der in einem Buch 1997 betonte, dass Russland ohne die Ukraine kein Imperium mehr sei, mit ihr aber automatisch wieder die Möglichkeit erlange, eines zu werden. Das Chaos der 1990er Jahre wirkte in Russland ähnlich traumatisierend wie zuvor Inflation und Weltwirtschaftskrise im Deutschland der Zwanziger- und beginnenden Dreißigerjahre. Und auch eine Art Versailles erlebte Russland, wenn auch nicht als Diktatfriede: Die oft zitierten Versprechen führender westlicher Politiker gegenüber der Sowjetführung, die Nato nicht über die deutsche Ostgrenze hinaus zu erweitern, gab es tatsächlich. Der Bruch dieses Versprechens in den 1990er Jahren trug ebenso wie die Aufkündigung von Rüstungskontrollverträgen (wie des ABM-Vertrags zur Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen 2001) und die Förderung prowestlicher Farbrevolutionen durch die USA in Georgien und der Ukraine zu einer Atmosphäre des Misstrauens zwischen Moskau und dem Westen bei. Vor allem die Ukraine-Politik des Westens machte die Zeitbombe des Sowjet-Traumas in Russland scharf.

Dennoch wäre es zu einfach, den schwarzen Peter für die Entwicklung nach 1991 dem Westen zuzuschieben. Dies auch deshalb, weil der Zusammenbruch der UdSSR eine völlig neue Lage schuf und es die Sowjetunion, der die Versprechen der Nichterweiterung der Nato mündlich gegeben wurden, so nicht mehr gab. Russland war nur noch einer der Nachfolgestaaten des Imperiums, wenn auch Rechtsnachfolger. Das Baltikum, Belarus, die Ukraine und die Staaten Zentralasiens verabschiedeten sich. Und während man im Westen noch vom "Ende der Geschichte" mit Demokratie und Marktwirtschaft für den ganzen Erdball träumte, suchte man sich in Osteuropa zu beeilen, so schnell wie möglich unter den Schutzschirm der Nato zu kommen. Schließlich ahnte man, dass die Geschichte weiterging und die augenblickliche Schwäche Russlands nicht von langer Dauer sein würde. Und tatsächlich ist es die Nato-Mitgliedschaft, die etwa die baltischen Staaten heute vor russischen Übergriffen schützt. Die angegriffene Ukraine, für die das Wort Neutralität keinen lockenden Klang besitzt, blickt neidvoll Richtung Westen.

Was in Westeuropa, aber auch in Russland selbst meist verdrängt wird, sind die Erfahrungen dieser Staaten und Völker mit dem sowjetischen Totalitarismus. Dieser erstreckte sich über einen wesentlich längeren Zeitraum als die katastrophalen, einschneidenden, aber vergleichsweise schnell beendeten Jahre unter deutscher Vorherrschaft im Zweiten Weltkrieg. Das Sowjetreich, dessen Antlitz KP-Chef Josef Stalin geschmiedet hatte, wurde als totalitäres Imperium begründet, dessen Herrschaftstechnik auf der Anwendung staatlicher Gewalt gründete.

Der blinde Fleck#

Diese Staatsgewalt im Wortsinn hielt das Riesenreich zusammen. Dazu kam die utopische Ideologie vom Sowjetmenschen, der die unterschiedlichen Nationalitäten verschmelzen sollte. Als Michail Gorbatschow Ende der 1980er Jahre den Deckel hob, wurden die Fliehkräfte frei. Nationen rebellierten ebenso wie Einzelne gegen lange verbreitete Lügen, etwa die Vertuschung sowjetischer Verbrechen. Für den Zerfall der UdSSR waren etwaige Ränkespiele von außen nicht entscheidend. Im System selbst lag der Wurm. Die Orientierung der Völker westlich von Russland Richtung EU und USA hängt vor allem mit den traumatischen Erfahrungen unter sowjetischer Vorherrschaft zusammen. Je eher diese Völker dies betonen, desto stärker die Abwehrreaktionen und die Sowjetnostalgie in Moskau. Die Erfahrungen der Nachbarn mit russischer Vorherrschaft sind Russlands blinder Fleck.

Wiener Zeitung, 19. März 2022