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Der Anfang vom Ende der US-Dominanz#

Die US-Universitäten richten sich selbst – Europas Hochschulen und Firmen sollten diese Chance für sich nutzen.#


Von der Wiener Zeitung (26. Mai 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

von

David Nestler


David Nestler studierte Slawistik und Politikwissenschaften an der Universität Wien. Er arbeitet seit 2013 in der Erwachsenenbildung. Unabhängig davon betreibt er die Homepage www. sd21. at.
David Nestler studierte Slawistik und Politikwissenschaften an der Universität Wien. Er arbeitet seit 2013 in der Erwachsenenbildung. Unabhängig davon betreibt er die Homepage www. sd21. at.
Foto: privat

Ein Gespenst geht um an den US-Colleges. Es heißt nicht Kommunismus, sondern läuft unter vielen Namen: Woke-Culture, Intersektionalismus, Postmodernismus oder Social Justice Movement. Was als Gerechtigkeitsbewegung begann, ist gespenstisch pervertiert. Die Lehre ist eingeschränkt, Forschung und Unternehmen leiden, die Freiheit der Wissenschaft ist in Gefahr. Ursachen sind eine Ideologie und die Verschiebung der Machtstrukturen an den Colleges.

Jonathan Haidt ist einer der Professoren, die öffentlich Stellung beziehen. Gemeinsam mit Greg Lukianoff, dem Präsidenten der Foundation for Individual Rights in Education (FIRE), erforscht er den wachsenden Illiberalismus an den US-Unis. Beide betreiben Plattformen, die sie mit Daten füttern. Auf der FIRE-Homepage wurde ein Ampelsystem eingeführt: Grün, Gelb, Rot. Man kann sich darüber informieren, ob es auf einem Campus möglich ist, offen zu sprechen. Das Resultat ist ernüchternd. So erstrahlt kein einziges der 26 Colleges in Massachusetts grün. Haidt hat gemeinsam mit anderen Professoren die Plattform „Heterodox Academy“ aufgebaut, um die geistige Monokultur insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften aufzubrechen.

Lauter Skandale#

Seit im Winter 2015 ein Skandal um politisch korrekte Halloween-Kostüme Yale erschütterte, hat sich die Lage zugespitzt. Keine Woche vergeht, in der nicht De-Plattforming-Aktionen, Proteste gegen Aussagen, Tätigkeiten oder wissenschaftliche Erkenntnisse bekannt werden. Im Mai 2019 traf es Ronald S. Sullivan Jr., den ersten schwarze Dekan in Harvard. Er arbeitete am Fall Harvey Weinstein Zuge der „MeToo“-Affäre mit. Ein Anwalt also, der einen Angeklagten vertritt. Das mache Harvard zu einem „unsafe space“, argumentierte ein Teil der Studentenschaft. Die Universität gab den Studenten nach. Sullivans Vertrag wurde nicht verlängert. Konsequenterweise schaffte es Harvard 2019 auf die jährliche FIRE-Liste der „10 worst universities for free speech“.

Es sind hauptsächlich Gedankenverbrechen, die dort verübt werden. Die Liste der Vorfälle ist lang: Yale, Evergreen, Long Island University Post, Syracuse University, Babson College... FIRE listet Verhaltenshandbücher und Sprachregelungen auf. Manche Ereignisse sind geradezu grotesk. Ein Sprachhandbuch der University of New Hampshire führte etwa Begriffe wie „American“, „poor“ (angebracht sei „person of low economic status related to a person’s education, occupation and income“) oder „rich“ als beleidigend. Verstöße gegen solche Handbücher werden vielerorts auch sanktioniert. Der Grund dafür liegt auch in der Hochschulstruktur. Die Elite-Colleges sind nicht nur Universitäten, sondern auch Wohnstädte. Die Studienkosten sind immens hoch, Studenten fordern dafür maximale Fürsorge. Manche sehen dabei schon ein Wort wie „reich“ als Form von Gewalt, vor der sie geschützt werden müssen. Und weil die Administrationen es als ihre Aufgabe sehen, jeden Dissens aus dem Weg zu schaffen, hat sich eine totalitäre Atmosphäre ausgebreitet.

Von der Gesellschaft entkoppelt#

Nicht nur Yale hat ein Problem mit übertriebener Political Correctness
Nicht nur Yale hat ein Problem mit übertriebener Political Correctness.
Foto: CC/Nickknack00

Nur etwa 8 Prozent der Bevölkerung, typischerweise weiß und wohlhabend, hängen dieser radikalen Form der Political Correctness an. Dabei ist die „exhausted majority“ dessen vollkommen überdrüssig. 80 Prozent der Bevölkerung geht die Political Correctness laut einer Umfrage zu weit. Am meisten abgelehnt wird sie übrigens von jenen, die sie vorgibt zu schützen: von Schwarzen, Latinos, Minderheiten und sozioökonomisch Schlechtergestellten. Allzu oft ist ein deftiger Scherz oder eine wüste Beschimpfung ihre einzigen Waffen gegen die Oberklasse. Diese wird ihnen nun, vorgeblich in ihrem Namen, aus der Hand gerissen. Donald Trumps Wahlerfolg resultiert zum Teil daraus.

Viele Professoren (so auch Haidt selbst) greifen zur Selbstzensur. Kontroverse Wissensgebiete werden manchmal aus Angst vor einem getriggerten Studenten ausgespart. Und jeder neue Fall führt zu weiteren Selbstrestriktionen und einer wachsenden Spirale der Angst. Die Palette der Sanktionen reicht von öffentlichen Entschuldigungen bis zur Entlassung. „Universities must choose between Truth or Social Justice, not both“, lautet daher der Titel einer von Haidts Vorlesungen. Das Youtube-Video dazu ist drei Jahre alt. Die US-Universitäten haben sich, so scheint es, überwiegend für Social Justice (soziale Gerechtigkeit) entschieden. Dabei geben selbst 63 Prozent der Studenten an, dass an ihrer Universität die Redefreiheit eingeschränkt ist.

Was hat das alles mit Europa zu tun? Nun, die Absolventen der Elite-Unis in den USA erfüllen die Erwartungen nicht mehr. Sie brechen unter kleinsten Herausforderungen zusammen, vergiften das Unternehmensklima und tragen keine Verantwortung. Ein Harvard-Abschluss gilt nicht mehr als Nachweis, zu den Besten zu gehören. Die US-Colleges haben nach wie vor Etats, von denen Europas Unis nur träumen können. Aber was nutzt einem ambitionierten Wissenschafter Geld, wenn er mit Denkverboten belegt wird, seine Ergebnisse nicht veröffentlichen darf oder sie aus Angst vor Shitstorms und Entlassung erst gar nicht veröffentlichen will? Europas Hochschulen und Unternehmen fällt eine riesige Chance in den Schoss.

De-Plattforming-Aktionen und Sprachregelungen von indoktrinierten Universitätsadministrationen haben wir hierzulande auch schon erlebt. Noch allerdings sind sie Ausnahmen. Geld können Europas Universitäten auch weiterhin nicht in diesem Ausmaß bieten, dafür aber wissenschaftliche Freiheit – etwas, das Geld nicht aufwiegen kann. Europa könnte davon profitieren, wenn man die richtigen Schlüsse aus Amerika zieht.

Wiener Zeitung, 26. Mai 2020