%%center
[{Image src='Bild4.jpg' caption='' alt='Aus dem literarischen Zaunkönig' height='140' width='1082' popup='false'}]
%%

!!!Musils Kakanien
Eine Interpretation aus staatsphilosophischer Sicht – mit kritischen Bemerkungen
zur aktuellen Politik

__von Andreas Stupka__


Die Österreichisch-Ungarische Monarchie war ein Staat in
Zentraleuropa mit einer Gesamtfläche von rund 676.000
Quadratkilometern und einer Bevölkerungszahl am Beginn
des Ersten Weltkrieges von rund 53 Millionen Menschen[1];
in diesem Staatsgebilde lebten zahlreiche Völkerschaften,
unter denen die Deutschen, die Magyaren und die Slawen
die stärksten Volksgruppen waren. Dieser Vielvölkerstaat war
1918 zusammen mit seinem Kaiser und König untergegangen.
Eine Reihe namhafter zeitgenössischer Schriftsteller,
wie beispielsweise Franz Theodor Czokor, hat sich mit dem
Untergang der Monarchie befasst, vor allem auch mit der dem
Krieg vorangegangenen Epoche. \\ 

[{Image src='Bild1.jpg' caption='' alt='Österreich-Ungarn vor dem 1. Weltkrieg' class='image_left' height='470' width='528'}]

Mit Trübsal belegt berichten sie meist über jenes Gemeinwesen, das Joseph Roth in seiner
Kapuzinergruft als „unser Reich, etwas Größeres, Weiteres,
Erhabeneres als nur ein Vaterland“ bezeichnete. Für viele war
diese Katastrophe kaum erträglich, eine nicht geringe Zahl
ist daran zerbrochen. Stefan Zweig zeichnet in der Welt von
gestern wunderbare Bilder der alten Monarchie. Sie lassen
diese Zeit des Kaisers in einem wärmeren Licht erstrahlen,
als das republikanische Danach dies zugeben konnte, um nur
ja nicht wieder zurückzufallen in jene Epoche, die den neuen
Herren im Lande nun als verabscheuungswürdig zu gelten
hatte.


Musil war also nicht allein in seinem Streben, der alten Monarchie
zu huldigen und sie hinaufzuheben als den „fortschrittlichsten
Staat“. Es war das Zeitalter seiner Jugend gewesen und
er war für seinen Kaiser und König in den Krieg gezogen, als
Reservist zu den Waffen geeilt für sein geliebtes Kakanien. Er
war somit ein Teil der k. k. Landwehr, die zusammen mit den
Truppen der k. u. k. Armee an der italienischen Front stand.
Diese Bezeichnungen folgten zwar einer stringenten Logik,
die den gesamten Staatsapparat umfasste, für den einzelnen
Bürger und für die ausländischen Geheimdienste war diese
Logik jedoch nur schwer nachvollziehbar, wie Musil zugibt:

''Es war zum Beispiel kaiserlich-königlich und war kaiserlich
und königlich; eines der beiden Zeichen k. k. oder k. u. k.
trug dort jede Sache und Person, aber es bedurfte trotzdem
einer Geheimwissenschaft, um immer sicher unterscheiden
zu können, welche Einrichtungen und Menschen
k. k. und welche k. u. k. zu rufen waren.''

Wenn nun Musils Kakanien zur Sprache gebracht werden soll,
dann nicht, um die alte Geschichte erneut aufzurollen, oder
gar die Absicht zu verfolgen, das Wesen der Donaumonarchie
in ein neues Licht zu rücken. Zu diesem Thema füllen bereits
Bände Bibliotheken. Vielmehr soll es sich hier um den Staat im
Allgemeinen drehen, denn dieses schmale achte Kapitelchen
aus dem Mann ohne Eigenschaften hat viel bemerkenswert
Staatstheoretisches an sich, das aufzufalten sich lohnt. Da der
Staat an sich nur ein hohler Torso der allgemeinen Ordnung
ist, gehören auch die Menschen dazu – bewusst im Plural
gefasst – als Gesellschaft. Und so birgt dieser kurze Text
soziologische Erkenntnisse, die sich jedoch sofort und unvermittelt
auf den Staat und dessen Gefüge auswirken. Musil
blickt mit einem Abstand von 20 Jahren zurück, wobei die Aufgabe
der Dichter es ist, mit ihrer Erzähl- und Ausdrucksweise
die Dinge auf den Punkt zu bringen. Vor allem auch politische
Angelegenheiten, und mit diesem Streifzug durch Kakanien,
so interpretiere ich das, hat Musil seine Vorstellungen eines
funktionierenden Staates auf brillante Weise kundgetan. Also
gehen wir in medias res.

!!Ein Konzept gegen den Wachstums-Wahn
Immer größer, höher, weiter ist das erstrebenswerte Ziel
unserer Zeit. Es gilt ein ständiges Wachstum zu erzeugen
und beizubehalten, das ist die Doktrin, von der keinen Millimeter
abgewichen werden darf. Daher sprechen wir von
Nullwachstum, wenn die Bezeichnung
Stillstand angebracht wäre, ja
sogar von Minuswachstum, wenn
das Wachsen einmal rückläufig ist
und Verluste geschrieben werden.
Das ganze Leben der zivilisierten

%%center
[{Image src='Bild5.jpg' caption='' alt='' height='80' width='310'}]
%%

Menschen ist auf dieses Dogma hin ausgerichtet, denn
dieses ständige Wachsen, Anhäufen, Zugewinnen, Heranraffen
scheint der wahre Weg zum Glücklichsein. Dass die
Menschen im Sog der Gewinnmaximierung ihr Glück auch
tatsächlich finden, darf angezweifelt werden. Musil geht von
einem Ist-Zustand aus, der sich in unseren Tagen des Neoliberalismus
ähnlich bis zur Unerträglichkeit gesteigert hat, wie
damals Ende der 1920er Jahre:

''Eine solche soziale Zwangsvorstellung ist nun schon
seit langem eine Art überamerikanische Stadt, wo alles
mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und
Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der
Verkehrsstraßen durchzogen. [...] Fragen und Antworten
klinken ineinander wie Maschinenglieder, jeder Mensch
hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an
bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, man
ißt während der Bewegung, die Vergnügungen sind
in andern Stadtteilen zusammengezogen, und wieder
anderswo stehen die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon
und Seele findet. Spannung und Abspannung,
Tätigkeit und Liebe werden zeitlich genau getrennt und
nach gründlicher Laboratoriumserfahrung ausgewogen.
~[...] Die Ziele sind kurz gesteckt; aber auch das Leben ist
kurz, man gewinnt ihm so ein Maximum des Erreichens
ab, und mehr braucht der Mensch nicht zu seinem Glück,
denn was man erreicht, formt die Seele, während das, was
man ohne Erfüllung will, sie nur verbiegt; für das Glück
kommt es sehr wenig auf das an, was man will, sondern
nur darauf, dass man es erreicht.''

Dies betrifft natürlich auch den dazugehörigen Staat. Auch
er ist von der Idee des permanenten Wachstums durchwirkt
und beseelt. Das muss auch so sein, sind es doch gerade
die so beseelten Menschen, die den Staat formen. Es spießt
sich lediglich an der Funktionalität des Gemeinwesens. Nach
Gewinnmaximierung strebende Utilitaristen kennen nur ihr
eigenes Ziel, sie sind Egoisten, jeder auf seine Weise. Das
ganze Spektrum handelt so – dazu zwei Extreme: Erstens:
Der Vermögen anhäufende Bankmanager bekommt noch
immer Bonus-Zahlungen, obwohl er sein Geldinstitut gerade
gerade in die Pleite gestürzt hat. Zweitens: Der Schwarzarbeiter
bezieht ein zweites Gehalt über das Arbeitslosengeld. Die
Sozialausgaben steigen ins Unermessliche. Ein Heer an Greisen
muss versorgt werden, Kinder kommen zu wenige nach.
Und viele unter diesen wenigen sind nicht leistungswillig, sie
wollen ebenso bloß versorgt werden. Der Staat kracht und
ächzt, er erkennt Versäumnisse
– und er handelt: Er erhöht die
Steuern und presst denjenigen,
die noch nicht staatlich versorgt
werden, den Saft aus, bis an die
Schmerzgrenze. Das Wichtigste
sei der Erhalt des so genannten sozialen Friedens. Er bestraft
Sexualverbrechen mit Fußfesseln und Vermögensdelikte mit
Gefängnisstrafen. Der oberste Gott bleibt also doch das Geld,
die Doktrin zur Gewinnmaximierung ist das dazu veranstaltete
Requiem. Aber die Minen sind schon gegraben, die Gesellschaft
ist bereits ausgehöhlt. Sie werden gerade mit Pulver
gefüllt, der soziale Frieden ist ein trügerischer. Der Zug der
Zeit rast Veränderungen entgegen und es bedarf nur eines
Funkens, das Pulver zu zünden. Springt eine Mine, gehen
die anderen mit, ein Dominoeffekt. Diesen gefährlichen Zug
hat Musil vor Augen in der aufgeladenen Zeit zwischen den
Kriegen:


''~[...] es kommt vor, wenn man nach längerer Pause hinaussieht,
daß sich die Landschaft geändert hat; was da
vorbeifliegt, fliegt vorbei, weil es nicht anders sein kann,
aber bei aller Ergebenheit gewinnt ein unangenehmes
Gefühl immer mehr Gewalt, als ob man über das Ziel hinausgefahren
oder auf eine falsche Strecke geraten wäre.
Und eines Tages ist das stürmische Bedürfnis da: Aussteigen!
Abspringen! Ein Heimweh nach Aufgehalten werden,
Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben, Zurückkehren zu
einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt!''

Weg, bevor die Mine springt! Politikverdrossenheit nennen wir
dies heute, denn die vermeintliche Aufgabe der Politik wäre es
ja zurückzuführen, was sich im Zuge der Zeit auf Irrwegen verlaufen
hat. Ein Trugschluss! Es sind dieselben Menschen, die
die Politik bestimmen und den Gewinn zu maximieren suchen:
die ganz oben über ihre Einflüsse, die ganz unten über ihre
Vielzahl. Der Politiker ist genötigt, sich nach dem Zeitgeist zu
orientieren – alle paar Jahre zu den Wahlen eben, sonst war
er die längste Zeit Politiker. Politik und Gesellschaft haben
sich gleichermaßen auf diese Odyssee des permanenten
Wachstums begeben. Viele meinen, dass dieser Zug einem
Abgrund entgegenrast, sie meinen aber auch, dass die Politik
nicht mehr fähig ist, den Zug anzuhalten. In ihrer Verzweiflung
erwählen sie sich neue Führer, die mit Gaukelei und Demagogie
mehr am Hut haben denn mit der Politik. 


[{Image src='Bild2.jpg' caption='' alt='Skulptur' class='image_left' height='470' width='318'}]
Eine gewisse
Sehnsucht nach Heimat liegt heute im Gemüt, und um 1930,
als Musil dies veröffentlichte, dürfte es ähnlich gewesen sein,
bereits damals hatten Gaukler und Demagogen Hochkonjunktur.
Er besinnt sich auf längst vergangene Tage und zeigt
notwendige Wertmaßstäbe für das politische Gelingen eines
Gemeinwesens auf:


''Und in der guten alten Zeit, als es das Kaisertum Österreich
noch gab, konnte man in einem solchen Falle den
Zug der Zeit verlassen, sich in einen gewöhnlichen Zug
einer gewöhnlichen Eisenbahn setzen und in die Heimat
zurückfahren. Dort, in Kakanien, diesem seither untergegangenen,
unverstandenen Staat, der in so vielem ohne
Anerkennung vorbildlich gewesen ist, gab es auch Tempo,
aber nicht zuviel Tempo.''


Heute geben wir Vollgas. Veränderung um jeden Preis, lautet
die Devise. Alles muss reformiert werden, um der Gewinnmaximierung
entsprechend zu huldigen. Die Politik plant nur
kurzfristig, nach Gesetzgebungsperioden. Anpassen durch
Veränderung, dem Volk aufs Maul schauen, den Zeitgeist
mittragen, um am Futtertrog bleiben zu können. Werte werden
zu Worthülsen. In Kakanien mochte es das durchaus auch
gegeben haben, nur nicht zur Maxime erhoben. Dafür stand
der Kaiser. Nicht nur als Institution, sondern auch in Fleisch
und Blut. Das 70-jährige Regierungsjubiläum ist die Rahmenhandlung
von Musils Roman. Franz Joseph regierte 68 Jahre
und führte das Land von einer absoluten Herrschaft in eine
parlamentarische Monarchie. Maßvolle Anpassung, unter
Zugrundelegung von Werten, wie sie im Staatsgrundgesetz
von 1867 niedergelegt wurden – dies vermittelt jene Kontinuität
und Beständigkeit, die das Symbol des Kaisers verkörpert.
Kontinuität in den Werthaltungen gleicht einer Richtschnur,
woran sich Politik und Bürger gleichermaßen zu orientieren
vermögen. Sie ist daher erste wesentliche Grundlage für die
gedeihliche Entwicklung des Gemeinwesens.

Musil geht aber hier noch weiter, denn die Kontinuität alleine
wäre zum Gelingen des Staatsganzen zu wenig:

''Natürlich rollten auf diesen Straßen auch Automobile; aber
nicht zuviel Automobile! Man bereitete die Eroberung der
Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. Man ließ hie
und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren;
aber nicht zu oft. Man hatte keinen Weltwirtschafts- und
Weltmachtehrgeiz; man saß im Mittelpunkt Europas, wo
die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie
und Übersee hörte man an wie etwas noch gänzlich Unerprobtes
und Fernes.''

!!Besonnen dem Zeitgeist widerstehen
In diesem Handeln tritt jene Eigenschaft zu Tage, derer es zur
guten Führung des Gemeinwesens bedarf: die Besonnenheit.
Nicht dabei sein, um dessen selbst willen. Wir tendieren heute
dazu, uns dem vorherrschenden Zeitgeist nur allzu schnell
anzupassen, damit wir nichts verpassen, wie wir meinen.
Dies drückt sich vor allem in der immer öfter gepflogenen
Anlassgesetzgebung aus. Auch der sogenannte Lobbyismus
fällt in diese Kategorie, wo man entweder aus einer übertriebenen
Hektik heraus oder aus purem Gewinnstreben
agiert. Das Staatsganze leidet in der Regel darunter. Gesetze
müssen dann wieder korrigiert werden, oder es bedarf neuer
Gesetze, um die einmal getroffene schlechte Entscheidung
wieder zu relativieren.

Es ging nicht alles so schnell in Kakanien, es war auch nicht
immer alles gut, das will Musil nicht sagen, aber das politische
System praktizierte jene notwendige Besonnenheit in der
Gesetzgebung, die uns heute zum Vorbild gereichen kann.
Die Rolle des Politikers selbst wäre zu hinterfragen! Und
es sollte zur Kenntnis genommen werden, dass nicht jeder
für alles verwendet werden darf. In der heutigen politischen
Landschaft wird einer oder eine schnell einmal Minister für
dies oder jenes. Und ebenso schnell wird das Ressort dann
wieder gewechselt, weil es sich besser ins koalitionäre Bild
einfügt. Der Minister selbst, oft ein Berufspolitiker, aber oft
ohne politische Bildung, hat sich hochgedient über die Partei,
denn Politik, so meint man, kann jeder machen. Grundsätzlich
stimmt das, aber es wird die Ebene vergessen, es kann
eben nicht jeder überall Politik machen. Er wird so seiner
Bestimmung, dem Dienen, nicht gerecht, er kann dem gar
nicht gerecht werden, weil er um das Dienen mangels Bildung
nicht weiß. Es bedarf also auch der Besonnenheit
in der Besetzung aller politischen Ämter, dies wäre an die
politischen Parteien gerichtet. Auch daher rührt ein Teil
dieser schon angesprochenen Politikverdrossenheit in der
Bevölkerung, sie gründet sich auf das mangelnde Vertrauen
in die handelnden Personen. Diese Besonnenheit, die Musil
einfordert, scheinen die gegenwärtigen Zugführer verlernt
zu haben.
!!Verwaltungsreform: Gestrüpp statt Rosen
Ganz eng damit verknüpft ist die staatliche Ordnung, über die
Musil schreibt:

''Und verwaltet wurde dieses Land in einer aufgeklärten,
wenig fühlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden
Weise von der besten Bürokratie Europas, der man nur
einen Fehler nachsagen konnte: Sie empfand Genie und
geniale Unternehmungssucht an Privatpersonen, die nicht
durch hohe Geburt oder einen Staatsauftrag dazu privilegiert
waren, als vorlautes Benehmen und Anmaßung. Aber
wer ließe sich gerne von Unbefugten dreinreden! Und in
Kakanien wurde überdies immer nur ein Genie für einen
Lümmel gehalten, aber niemals, wie es anderswo vorkam,
schon der Lümmel für ein Genie.''

Vielen Bürgern ist heute nicht mehr bewusst, dass es für das
Funktionieren eines Gemeinwesens einer Schar an sehr gut
ausgebildeten Beamten bedarf. Die integren, treuen Beamten
sind die Träger des Staatsganzen. Je weniger wert die
Beamten sind, desto weniger wert ist der Staat; Korruption,
Faulheit, Privilegienritterschaft und alle diese negativen Attribute
schleichen sich ein, der funktionierende, verlässliche
Staat mutiert über einen gewissen Zeitraum hin zur Bananenrepublik.
Das hat nicht nur eine Ursache, sondern derer
viele, die sich gegenseitig bedingen. Im heutigen Österreich
fängt es ganz oben an: Je mehr Gesetze erlassen werden,
desto mehr Beamte braucht es, um diese zu vollziehen
und zu kontrollieren, ansonsten sind sie wirkungslos. Die
erwähnte Anlassgesetzgebung verschärft diesen Trend zur
totalen Verrechtlichung allen Seins, sodass kaum mehr ein
Überblick gewahrt werden kann. Dies begründet zu einem
Gutteil die Vielzahl an Beamten. Die Legislative legt falsche
Geleise, auf denen unser Zug dahindonnert.

Beamte haben dem Staat zu dienen und die Ordnung zu wahren.
Daraus erwächst immer eine gewisse Kluft zwischen den
Staatsdienern und der restlichen Bevölkerung. Es umweht sie
ein Hauch von Herrschaft, der zum neoliberalen Egoismus
nicht passt. Beamtentum sei fortschrittsfeindlich, nach Leistung
solle gerichtet werden. Pragmatisierung und Biennalsprünge
werden zu Relikten überholter Epochen. Die Beamten
gelten als privilegiert, nicht besonders arbeitsam und überbezahlt.
Das mag schon für Teilbereiche so seine Richtigkeit
haben, aber trotzdem funktioniert Staat ohne herrschaftliche
Ordnung nicht – zumindest nicht zum Wohle aller. Das österreichische
Beamtentum hat sich über die Zeit verwachsen,
Wildwuchs ist aufgekeimt zwischen den Rosen Kakaniens.
Die Politik ist aufgefordert zur Heckenschere zu greifen. Der
Zeitgeist tendiert jedoch dazu, das Gestrüpp stehen zu lassen
und die Rosen herauszuschneiden – Gleichheit ist hierzu das
Leitwort. Gestrüpp ist Anarchie, Willkür und Recht des Stärkeren:
Politik ist daher nicht Beliebigkeit des Zeitgeistes, sondern
sie trägt Verantwortung für das Gemeinwesen.

Der gute Staat ist ein gepflegter Garten, alles hat seinen Platz,
die Ordnung ist im Gleichgewicht, Neues wird erlaubt. Nichts
jedoch überwuchert, Schrilles wird vermieden, Besonderes
akzentuiert gesetzt, immer mit dem gehörigen Maß an Zurückhaltung,
um das Gesamtbild nicht zu stören. Kakanien war
sich seiner Stellung in der Welt bewusst und überzog daher
die Geflechte nicht, Musil hebt hiermit die Mäßigung hervor:

''Man entfaltete Luxus; aber beileibe nicht so überfeinert
wie die Franzosen. Man trieb Sport; aber nicht so närrisch
wie die Angelsachsen. Auch die Hauptstadt war um einiges
kleiner als alle andern größten Städte der Welt, aber
doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte
sind.''

Erster sein zu wollen, bedeutet vorne sein zu müssen. Die
Angst vor dem Zurückbleiben treibt den Ersten weiter. Sie treibt
den Staat immer in den Krieg. Alle Ersten haben letztendlich
immer Krieg geführt, um sich als Erster zu behaupten – bis sie
nicht mehr konnten und das Zepter des Weltgeistes an einen
anderen übergeben mussten. So erging es den Makedoniern
unter Alexander, den Römern zuerst im Westen, dann tausend
Jahre später im Osten, den Spaniern, den Osmanen, den
Franzosen unter Ludwig XIV. und Napoleon und so fort bis in
unsere Tage, den Blick auf Afghanistan gerichtet.


[{Image src='Bild3.jpg' caption='' alt='Sonne hinterm Berg...' class='image_left' height='470' width='308'}]
Kakanien war zwar eine Großmacht, wollte aber nie Erster
sein[2]. Ins Bild gerückt wird damit das Maßhalten, wie bereits
Platon es nennt und die Mäßigung damit zur obersten seiner
Kardinaltugenden erhebt. Neoliberalismus, politischer Fanatismus
und alle anderen Ismen, die in unseren Tagen auf
den Thron gehoben werden, vertragen sich mit dieser Idee
genauso wenig wie übertriebene Toleranz, penetrant geheuchelte Interkulturalität, Quotenregelung und sonstiger Müll des
Zeitgeistes. Unmäßigkeit verheißt kein Glücklichsein, denn
ohne Zufriedenheit ist es nicht erreichbar. Da diese Tugend
beim Individuum beginnt, bei seiner Erziehung, seinem
Aufwachsen, dreht sich hier alles um die Prägung, die eben
jenes Individuum erfährt. Es ist der Staat, der durch maßvolles
politisches Handeln die Prägung der Menschen bestimmt, er
hat somit sein eigenes Schicksal in der Hand. Musil unterstreicht
die staatliche Mäßigung über die Aufwendungen für
das Militär: „Man gab Unsummen für das Heer aus; aber doch
nur gerade so viel, dass man sicher die zweitschwächste der
Großmächte blieb.“


Keine Eroberungskriege waren geplant und keine Kolonialkriege,
keine Allüren als Weltpolizist, aber dennoch jederzeit
bereit das eigene Land und das eigene Volk zu schützen vor
solchen Ansinnen anderer. Vor allem aber geht es um die
Wehrhaftigkeit aller, die mit dem System der allgemeinen
Wehrpflicht jenen Willen verkörpert, der das gesamte Staatsvolk
bereit sein lässt, seine Werte, seine Kultur und damit
sich selbst als Menschen verteidigen zu wollen. Jeder einzelne
als Bürger eben dieses Staates ist es, dem es um denSelbsterhalt geht, der aber sonst in Frieden mit allen anderen
Völkern leben möchte. Hier haben die österreichischen Bürger
Besonnenheit gezeigt, als sie sich am 20. Jänner 2013 für
die Beibehaltung des Systems der allgemeinen Wehrpflicht
entschieden haben – sie haben dem Zeitgeist und der Boulevard-
Presse, die so gern in Anlehnung an die Gewaltenteilung
Montesquieus als die vierte Macht bezeichnet wird, die Stirn
geboten. Die Informationen im Vorfeld zu dieser Volksbefragung
waren bescheiden gewesen und in den meisten Fällen
keinesfalls sachlich, sondern geprägt von Polemiken und
Untergriffen. Dennoch war hier ein Gefühl vorhanden in den
Bürgern, dass es falsch sei, die allgemeine Wehrhaftigkeit
aufzugeben. Möglicherweise ist es der maßvolle Geist Kakaniens
gewesen.

!!Der „Weg dazwischen“ als Erfolgsrezept
Musil skizziert diesen merkwürdigen Geist in einer seltsam
anmutenden Dialektik, deren Synthesis über einen langen
Zeitraum hinweg den Zusammenhalt ermöglichte. Es bestand
also eine verborgene, eine dunkle Ordnung in Kakanien, die
hinter der Staatsordnung stand und diese unsichtbar anleitete
und führte:

''Es nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie
und ließ sich mündlich Österreich rufen; mit einem
Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt
hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt,
zum Zeichen, dass Gefühle ebenso wichtig sind
wie Staatsrecht, und Vorschriften nicht den wirklichen
Lebensernst bedeuten. Es war nach seiner Verfassung
liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal
regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren
alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger. Man
hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch
von seiner Freiheit machte, dass man es gewöhnlich
geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen,
mit dessen Hilfe man ohne das Parlament
auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den
Absolutismus freute, ordnete die Krone an, dass nun doch
wieder parlamentarisch regiert werden müsse. Solcher
Geschehnisse gab es viele in diesem Staat ~[...]''

Der alte Kaiser und König firmierte als apostolische Majestät,
aber er schuf ein Staatsgrundgesetz, das in seinem 14.
Artikel jedem Einwohner Kakaniens die Freiheit der Religionsausübung
gestattet – soweit er sich an die Gesetze hält
und nichts anstrebt, das anderen Glaubensgemeinschaften
oder gar dem Staat Schaden zufügen könnte. Diesen Weg
dazwischen kennen wir nur aus Kakanien, überall anders gilt
Schwarz oder Weiß, entweder strenger Laizismus oder eine
Staatsreligion. Die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei,
wurde in Kakanien proklamiert. Damit sich dies nicht zu einem
Sophismus auswuchs, wie wir ihn heute kennen, achtete man
in den Lehrplänen der Schulen sehr genau darauf, was unterrichtet
werden sollte. Bildungspolitik bedarf der sorgfältigen
Auswahl von Bildungsinhalten; sie sollte sich nicht durch den
Zuruf wissenschaftlichen Zeitgeistes aus einer Sackgasse leiten
lassen. In Kakanien liefen die Uhren zwar langsamer, aber
dafür mit Bedacht. Und eben dies ist Musils Antrieb, diesen
versunkenen Staat über alle anderen hinauszuheben: „Soweit
das nun überhaupt allen Augen sichtbar werden kann, war es
in Kakanien geschehen, und darin war Kakanien, ohne dass
die Welt es schon wusste, der fortgeschrittenste Staat; ~[...]“

Kakanien war Musils Metapher für ein Ideal, den wahren
Staat. Kakanien war unvollkommen, zwiespältig, langsam.
Musil hatte erkannt, dass der ideale Staat nicht perfekt sein
kann, es nicht darauf ankommt Erster zu sein. Das Genie
kennzeichnet nicht das Voranpeitschen des Fortschritts. Der
wahre Staat wirkt durch Kontinuität, Besonnenheit, Ordnung
und Mäßigung. Damit erreicht er das höchste Glück für den
Bürger – für alle Bürger, er ist auf diese Weise genial, wie
Musil dies resümiert: „Ja, es war, trotz vielem, was dagegen
spricht, Kakanien vielleicht doch ein Land für Genies; und
wahrscheinlich ist es daran auch zugrunde gegangen.“
----

[1|#1]Zum Vergleich: lt. Eurostat leben dzt. in Deutschland 82 Mio Einwohner auf
357.000 km%%sup 2/%, in Frankreich 66 Mio auf 549.000 km%%sup 2/% und in der Türkei 75
Mio auf 784.000 km%%sup 2/%.

[2|#2] Kakanien war nie Erster und wollte auch keinen Krieg. Und dennoch hat
der Erste Weltkrieg hier in diesem Kakanien seinen Ausgang genommen.
Aber wahrscheinlich gerade deswegen, denn die Großmacht sah sich
durch einen Zwerg herausgefordert, die Ermordung des Thronfolgers musste
in irgendeiner Weise gesühnt werden. Der Kaiser zögerte lange, stellte
ein Ultimatum an Serbien, letztendlich setzen sich die Bellizisten durch –
Kriegserklärung. Eine Strafexpedition war geplant, mit einem raschen Feldzug
sollte Serbien zur Räson gebracht werden. Die Völker der Monarchie
taumelten in den Krieg, aus Pflichtgefühl gegenüber dem alten Kaiser, der
diese Ungeheuerlichkeit nicht hinnehmen konnte, und aus einer gewissen
Verklärtheit heraus. In seiner Welt von gestern äußert sich Stefan Zweig
dazu als Zeitzeuge: „Und dann, was wussten 1914, nach fast einem halben
Jahrhundert des Friedens, die großen Massen vom Kriege? Sie kannten
ihn nicht, sie hatten kaum je an ihn gedacht. Er war eine Legende, und
gerade die Ferne hatte ihn heroisch und romantisch gemacht. Sie sahen
ihn immer noch aus der Perspektive der Schullesebücher und der Bilder in
den Galerien: blendende Reiterattacken in blitzblanken Uniformen, der tödliche
Schuss jeweils großmütig mitten durchs Herz, der ganze Feldzug, ein
schmetternder Siegesmarsch – ‚Weihnachten sind wir wieder zu Hause‘,
riefen im August 1914 die Rekruten lachend den Müttern zu.“ Niemand vermochte
zu diesem Zeitpunkt erkennen, welches Grauen heraufbeschworen
wurde, das letztendlich vier Jahre dauern sollte und Kakanien zerriss.
----
Dieser Beitrag ist der Vorabdruck eines Vortrags, den DDr.
Stupka im Rahmen der von der Plattform Bibliotheksinitiativen
mitorganisierten Tagung „Robert Musil: Der Mann mit
Eigenschaften“ am 24.4.2013 hielt und der in den von den
Bibliotheksinitiativen geplanten Tagungsband aufgenommen
werden wird. Wir danken dem Autor und den Veranstaltern für
die Abdruckgenehmigung! 
----

Oberst des Generalstabsdienstes MMag. DDr. Andreas W.
Stupka, geb. 1963 in St. Pölten, erwarb seine militärische
Ausbildung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener
Neustadt, an der Landesverteidigungsakademie in Wien
und an der Führungsakademie der deutschen Bundeswehr in
Hamburg und studierte an der Universität Wien Politikwissenschaften
und Philosophie. Promotion im Bereich Politikwissenschaften
2002, im Bereich Philosophie 2010. Er bekleidete
die unterschiedlichsten Führungspositionen im Österreichischen
Bundesheer, war Lehrer für Taktik und Sicherheitspolitik
an der Landesverteidigungsakademie, Chefredakteur der
Österreichischen militärischen Zeitschrift, Chef des Stabes
der United Nations Disengagement Observer Force (UNDOF)
in Syrien/Israel und Chef Planung und Entwicklung im Hauptquartier
KFOR im Kosovo sowie in beiden Einsätzen Kommandant
des österreichischen Kontingentes. Seit 2008 ist
Andreas Stupka Leiter des Instituts für Human- und Sozialwissenschaften
an der Landesverteidigungsakademie in Wien.

--> [Robert Musil|Biographien/Musil,_Robert] (Biographie)








[{Metadata Suchbegriff='Musil, Kakanien' Kontrolle='Nein'}]