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vom 24.07.2021, aktuelle Version,

Toponomastik in Südtirol

Die Toponomastik in Südtirol ist seit Jahrzehnten immer wieder Grund für politische Auseinandersetzungen. Als Besonderheit der Südtiroler Toponomastik wird konstatiert, dass hier durch ein diktatorisches Regime eine fremdsprachige Namensschicht über die historisch gewachsenen Namen oktroyiert und nach der Rückkehr zu einem demokratischen System nicht rückgängig gemacht wurde.[1]

Heute existieren, entsprechend der drei Südtiroler Sprachgruppen (Deutsch, Ladinisch, Italienisch), für einen großen Teil der Orts- und Flurnamen zwei oder auch drei Sprachversionen.

Vorgeschichte

Die historisch gewachsenen Orts- und Flurnamen Südtirols sind das Ergebnis eines Prozesses, der sich seit vorrömischer Zeit abspielt. Viele der heutigen Namen gehen auf die Besiedlung durch rätische und italische Stämme zurück und wurden später von den einwandernden Bajuwaren übernommen und in ihre deutschen Dialekte integriert; andere wurden von diesen aus ihrer eigenen Sprache geschaffen. Auch die Ortsnamen in den ladinischsprachigen Tälern gehen zu einem großen Teil auf ältere Sprachstufen zurück und wurden im Laufe der Zeit in die heutigen Dialekte integriert.

Zur Zeit vor 1918 gab es im Bereich des heutigen Südtirols zwei weitgehend geschlossene Sprachgebiete, ein deutsches und ein ladinisches. Im amtlichen Sprachgebrauch folgte man für die Ortsnamen damals dem Grundsatz der Ortsüblichkeit.[1] Nach der Annexion Südtirols durch Italien 1920 änderte sich dies grundlegend.

Italianisierung der Orts- und Flurnamen

Um den Anspruch Italiens auf Südtirol zu untermauern, wurden ab 1890 durch eine Kommission unter Führung des Nationalisten Ettore Tolomei etwa 12.000 deutsche und ladinische Orts- und Flurnamen ins Italienische übertragen. Diese Arbeiten wurden in dem Nachschlagewerk Prontuario dei nomi locali dell’Alto Adige festgehalten. In drei Namensdekreten wurden 1923[2], 1940[3] und 1942[4] diese neuen italienischen Orts- und Flurnamen als offizielle Bezeichnungen vom faschistisch regierten Italien festgelegt.

Der Linguist Cristian Kollmann, der als „Toponomast“ des Südtiroler Landesarchivs tätig war und Sprachexperte der Partei Süd-Tiroler Freiheit[5] ist, untersuchte im Rahmen einer Studie die „historische Fundiertheit“ der amtlichen italienischen Orts- und Flurnamen.[6][7] Als „historisch fundiert“ galten ihm Namen, die folgende Kriterien erfüllten:

  1. Kontinuität des Namens seit romanischer Zeit auf Grund des Siedlungskontakts (z. B. Salorno, Cauria, Egna, Vadena).
  2. Nähe des benannten Objekts zur italienischen Sprachgrenze und folglich Sprachkontakt (z. B. Stelvio, Venosta, San Candido, Pusteria).
  3. Hoher Verkehrswert des Namens auf Grund der Relevanz des benannten Objekts für den italienischen Sprachraum (z. B. Bolzano, Merano, Bressanone, Sterzen).

Laut Kollmann können von den insgesamt 116 Südtiroler Gemeindenamen lediglich 55 als „historisch fundiert“ gelten, wobei in Einzelfällen das angestammte Exonym mit dem derzeitigen offiziellen italienischen Namen nicht übereinstimmt (z. B. Corné statt Cornedo, Nova Tedesca statt Nova Ponente, Sterzen statt Vipiteno, Oltemo statt Ultimo). Die Gesamtzahl der „historisch fundierten“ italienischen Orts- und Flurnamen beläuft sich gemäß der Studie auf ca. 200. Bei über 10.000 amtlichen italienischen Toponymen entspricht dies in relativen Zahlen ausgedrückt einem Anteil von unter 2 %.

Dreisprachiger Wegweiser

Gesetzlicher Status der Zwei- bzw. Dreisprachigkeit der Orts- und Flurnamen

In Südtirol gilt offiziell flächendeckende deutsch-italienische Zweisprachigkeit und regionale (Gröden, Gadertal) ladinisch-deutsch-italienische Dreisprachigkeit.[8] Diese Zwei- bzw. Dreisprachigkeit findet ihren Niederschlag auch in der amtlichen Orts- und Flurnamengebung. Die Amtlichkeit der Toponyme zeigt dabei graduelle Abstufungen: Der offizielle Status der meisten italienischen Namen ist gesetzlich abgesichert. Er fußt auf den drei zuvor genannten Namensdekreten aus der Zeit des italienischen Faschismus. Die deutschen und ladinischen Toponyme, deren Verwendung in den Artikeln 101 und 102 des Südtiroler Autonomiestatuts behandelt wird, sind de iure nicht bestätigt, da sie in keinem die Südtiroler Toponomastik regelnden Dekret oder Landesgesetz aufscheinen.[8] De facto sind diese Namen jedoch „halbamtlich“, zumal sie auf Landesebene (d. h. innerhalb des Gebiets des heutigen Südtirols) den italienischen Namen gleichgestellt sind. Diverse Vorstöße des Südtiroler Landtags, die deutschen und ladinischen Toponyme festzulegen und gleichzeitig nie in Gebrauch gekommene italienische Toponyme zu streichen, scheiterten entweder an Einwänden italienischer Landespolitiker oder Einsprüchen der italienischen Regierung.

Perzeption der amtlichen Toponomastik und Forderung nach einer Lösung

Die beschriebene Situation der offiziellen Orts- und Flurnamengebung wird in Südtirol kontrovers diskutiert und sorgt in Teilen der Bevölkerung, besonders der deutsch- und ladinischsprachigen, immer wieder für Unmut. Auf Seiten der italienischsprachigen Volksgruppe hingegen wird häufig für den Erhalt aller italienischen Ortsbezeichnungen argumentiert, sonst könnten sich die „italienischen Mitbürger als Italiener im italienischen Südtirol nicht identifizieren“ (Alessandro Urzì).[9]

Forderungen nach der „vollamtlichen“ Anerkennung der deutschen und ladinischen Toponyme haben sich in der Politik bislang nicht durchgesetzt.[10] Oft kommt eine weitere Forderung hinzu, nämlich die Abschaffung jener italienischen Orts- und Flurnamen, die in der Zeit unmittelbar vor und während des italienischen Faschismus konstruiert oder auf der Grundlage von mittelalterlichen Belegen rekonstruiert wurden.[11]

Im selben Lichte werden von Teilen der heutigen Südtiroler Bevölkerung die konstruierten bzw. rekonstruierten Namen für die einzelnen Südtiroler Orte und Fluren wahrgenommen. Es kursieren Begriffe wie „tolomeisch-faschistische“, „faschistisch belastete“ oder „pseudoitalienische“ Namen.[12] Diese Wortwahl dient der Abgrenzung zu den „echten“ italienischen Namen, die bereits vor Tolomei und außerhalb der faschistischen Namensdekrete überliefert sind. Über die Akzeptanz dieser Namen besteht sowohl in der Bevölkerung als auch parteiübergreifender Konsens.

Literatur

  • Karl Finsterwalder: Tiroler Ortsnamenkunde – gesammelte Aufsätze und Arbeiten. 3 Bde. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 1990, ISBN 3-7030-0222-0
  • Egon Kühebacher: Die Ortsnamen Südtirols und ihre Geschichte. 3 Bde. Bozen: Verlagsanstalt Athesia 1995–2000, ISBN 88-7014-634-0 (1: Die geschichtlich gewachsenen Namen der Gemeinden, Fraktionen und Weiler), ISBN 88-7014-827-0 (2: Die geschichtlich gewachsenen Namen der Täler, Flüsse, Bäche und Seen) und ISBN 88-8266-018-4 (3: Die Namen der Gebirgszüge, Gipfelgruppen und Einzelgipfel Südtirols. Gesamtregister) (Referenzwerk)
  • Naturmuseum Südtirol (Hrsg.): Die Flurnamen Südtirols: Sammlung, Kartografie, Datenbank – Inoms di posć de Südtirol: increscida, cartografia, banca dac. (Veröffentlichungen des Naturmuseums Südtirol 10). Bozen: Naturmuseum Südtirol 2016. ISBN 978-88-87108-07-1

Einzelnachweise

  1. 1 2 landtag-bz.org: Abschlussbericht der Expertenkommission 1990
  2. Regio decreto Nr. 800 vom 29. März 1923.
  3. Decreto ministeriale Nr. 147 vom 10. Juli 1940
  4. Regio decreto Nr. 6767 vom 9. März 1942.
  5. Süd-Tiroler Freiheit, Bozen: Landesbeiräte der Eltern wollen Südtiroler zu identitätslosen Altoatesinen verkommen lassen! • Süd-Tiroler Freiheit. In: Süd-Tiroler Freiheit. 31. August 2017 (suedtiroler-freiheit.com [abgerufen am 19. September 2017]).
  6. Kollmann, Cristian: Toponomastik: Welche Lösung für Südtirol? Beilage zur Zeitschrift „Südtirol in Wort und Bild“, 2004, 3.
  7. Kollmann, Cristian: Historisch mehrsprachige geografische Name in Südtirol. In: SOKO Tatort „Alto Adige“, 2. September 2015.
  8. 1 2 Francesco Palermo: Riflessioni giuridiche sulla disciplina della toponomastica nella Provincia autonoma di Bolzano. In: Hannes Obermair u. a. (Hrsg.): Regionale Zivilgesellschaft in Bewegung. Festschrift für Hans Heiss (= Cittadini innanzi tutto). Folio Verlag, Wien-Bozen 2012, ISBN 978-3-85256-618-4, S. 341–352.
  9. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. März 2013: Die Ortsnamen erregen die Gemüter
  10. Toponomastikgesetz von Regierung angefochten (Memento vom 4. März 2016 im Internet Archive). Südtirol Online (stol.it), 16. November 2012, abgerufen am 9. Mai 2015.
  11. Bericht zum Landesgesetzentwurf Nr. 2/08. Webseite des Südtiroler Landtages (landtag.bz.org), abgerufen am 9. Mai 2015.
  12. Kollmann, Cristian: Tolomei ist tot – sein Geist lebt! Vor 80 Jahren starb der Totengräber Südtirols – Die Geschichte einer Fälschung. In: Dolomiten, 25./26. Mai 2002, S. 21; ders.: 80 Jahre faschistische Namengebung in Südtirol. Aus einem Irrtum droht „Wahrheit“ zu werden – Ettore Tolomei, der Erfinder des „Alto Adige“, lässt grüßen. In: Dolomiten, 29./30. März 2003, S. 12.