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Psychologie des Untergrundes (Essay 1956)#

von Wilfried Daim

Mit dem Begriff des "Untergrundes" (Friedrich Heer) kündigt sich ein Geschichtsbild an, das das allgemein Bestehende ähnlich zu revolutionieren geeignet ist, wie das der orthodoxen Psychologie durch die Tiefenpsychologie. Wir dürfen auch annehmen, dass die Existenz der Tiefenpsychologie vieles zur neueren Konzeption dieses Begriffes beigetragen hat. Worum handelt es sich denn nun eigentlich?

Wir glauben, dass schon die Explikation dieses Begriffes besser gelingt, wenn wir ihn an Hand analoger tiefenpsychologischer Termini darzulegen versuchen. Als vielleicht naheliegendster Begriff bietet sich uns hier der des Unbewussten an. Das Unbewusste ist nun, ganz allgemein, einfach das Nichtbewusste, das dem Bewusstsein Verborgene. Damit ist zunächst weder etwas Positives noch etwas Negatives gesagt. Denn zu diesem Unbewussten gehört nun einmal das Vergessene, wobei nicht alles Vergessene auch schon Verdrängtes, Uneingestandenes im Sinne Freuds genannt zu werden verdient. Dann gehört ihm auch zu das Noch-nicht-Bewusste. Es gibt Seelisches, das sich in Träumen, Phantasien u. ä. Äußerungsformen andeutet, tiefenpsychologisch erschlüsselbar ist, aber noch nicht zum Bewusstsein gelangte. Hier gibt es sehr viele Entwicklungsimpulse, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, aber auch bei allen Genialen, welche von der betreffenden Person zunächst selbst nicht verstanden werden, wobei das Verständnis aber eines Tages doch "geweckt" wird. Schließlich ist aber auch das Verdrängte, Uneingestandene, unbewusst. Es ist das eigentlich Problematische, in seiner Wirkung oftmals verheerend.

Auf gesellschaftlicher Basis #

Sprechen wir nun vom Untergrund, dann denken wir wohl am ehesten an etwas dem Verdrängten Analoges. Denken wir einmal an die Gesellschaft. Wird eine Ansicht, eine Meinung verabsolutiert und wird sie etwa zu einem politischen Programm, dann entsteht leicht ein kollektiver Verdrängungsakt. Die "Öffentlichkeit" entspricht dem Bewusstsein des Individuums. Offen können in der demokratischen Gesellschaft verschiedene Meinungen gesagt und diskutiert werden. Die Gesellschaft lässt also bestimmte Meinungsäußerungen und Willensbildungen zu. Das heißt nun nicht, dass sich der grösste oder auch der wichtigste Teil der Gesellschaft mit allen öffentlichen Meinungsäußerungen identifiziert. Aber die Zulassung der Äußerung auch von Minderheiten hält Meinungen im Bewusstsein, führt zum Gespräch und so zur Teilnahme jener Personen, die sich eben mit jenen Äußerungen identifizieren, an der Gesellschaft. Sie brauchen eine Gesellschaft, die sie zulässt, nicht absolut zu bekriegen.

Das Abwägen von Gründen und Gegengründen im Bewusstsein des Menschen, seine innere, personale Dialogik entspricht im Leben der Gesellschaft den Auseinandersetzungen verschiedener Geistesrichtungen. Wenn im inneren Selbstgespräch einer Tendenz die Existenz abgesprochen wird, entsteht das, was wir Verdrängung nennen. Bei diesem Vorgang wird nicht eine bewusste Konfrontation des Moralischen oder sonstiger Wertansprüche etwa mit einer anderen Tendenz vorgenommen, sondern es wird im Sinne eines verabsolutierten Wertes jede Konfrontation abgelehnt. So kann etwa die Person sich selber und anderen gegenüber so tun, als ob ein Triebanspruch, ein Glaubenszweifel, einfach irgendeine gegebene Tatsache in ihr gar nicht vorhanden wäre. "Bei mir gibt es so etwas nicht", wäre die Formel dafür.

So streitet man sich selber gegenüber gerne ab: Die Existenz alles Abnormen, alles Perversen, alles Verbrecherischen, vielleicht alles Bösen usw. Nun ist aber alles dies sehr verbreitet, und ein Mensch, der in sich etwa verbrecherische Ansprüche in seinem Inneren zwar merkt, doch im Zaume hält, ist höchster Achtung wert.

Ähnliches im Kollektiv. Es besteht die Möglichkeit - und diese Haltung ist wohl so alt und so verbreitet wie die Menschheit -, Tendenzen zu bestimmten Meinungsäußerungen radikal in den Untergrund zu bannen. Man verbietet Meinungsäußerungen, was schließlich heißt, dass man den Eindruck erwecken möchte, als ob es diese Meinungen gar nicht gäbe. Und damit haben wir ja gerade das Charakteristische des Verdrängungsvorganges vor uns: Eine gegebene Realität wird in ihrer Existenz nicht anerkannt, bleibt aber trotzdem bestehen, aber nunmehr im Untergrund, das heißt also, einem der "Öffentlichkeit" unzugänglichen Bereich der Sozietät. Hier, weil unkontrolliert, wird sie besonders gefährlich. Was ist aber nun gerade das Gefährliche dieses Untergrundes? Wie pflegt das Verdrängte nun zu reagieren?

Folgen hiervon können wir zunächst bei allen Weltanschauungsdiktaturen beobachten. Da entsteht bei dem herrschenden Regime eine paranoide Angst, also Verfolgungsideen. Da man von der Existenz des Verdrängten weiß, sich ihm aber nicht zu konfrontieren vermag, wird es unbestimmbar und so auch unberechenbar. Daher die große Angst vor Saboteuren, die jederzeit geneigt sind, das Getriebe des Staatsmechanismus störend zu unterbrechen. Jederzeit kann ein Gegner auftauchen, und hinter jedem kann sich einer verbergen.

Die Verfolgung der Häretiker#

Und daher wird auch die Häretikerjagd dann so erbarmungslos. Denn jede Links- oder Rechtsabweichung kann ja schon das Anzeichen einer viel tieferen, mit dem Untergrund in Verbindung stehenden Haltung sein. Nun wird aber auch der innere Feind nach außen projiziert, und jeder außerhalb des Regimes Stehende wird zum Todfeind, der eben mit dem eigenen Untergrund in Verbindung steht. So entsteht die Hysterie der Häretikerjagd, die Suche nach geheimen "Kapitalisten", "Judenknechten" usw.

Wer seine eigenen, inneren Ansprüche nicht ins Bewusstsein lässt, den verfolgen sie dann nächtlich als Alpdrücken, veranlassen ihn zu Fehlleistungen oder Zwangshandlungen, jedenfalls lebt er von seiner Basis getrennt, hängt in der Luft und ist ständig von seinem Grund her beunruhigt.

Um eines bestimmten Prinzipes willen wird ein Teil der eigenen Natur verdeckt und ausgeklammert. Und wegen dieses Prinzips wird aber auch alles innerhalb der äußeren Welt abgeschnürt, was einen an die Existenz der eigenen, inneren, untergründigen, korrespondierenden Wesensaspekte erinnern könnte. Damit verliert der Verdrängende die freie Sicht, verengt künstlich seinen geistigen Horizont und verliert damit auch die echte Unbefangenheit der ihm konfrontierten Welt gegenüber. So aber auch das, was man gesunden Hausverstand nennt, die sachliche, ungehemmte Beurteilungsfähigkeit, die nur ein adäquates geistiges Bild von der Welt zu schaffen vermag. Offen, bejahungsbereit und vorurteilslos kann nur der vor allen anderen dastehen, der bereit ist, sich selber seiner Natur gegenüber zu eröffnen.

Das Problem der Verbote#

Deshalb ist es so gefährlich, den Versuch zu unternehmen, Bestehendes in den Untergrund zu drängen. Denken wir an das KP- und RP-Verbot in Deutschland. Es gibt eben Leute, die so denken wie diese Parteien. Man tut auch der Demokratie keinen Dienst, wenn man sie absolut setzt. Es hat auch keinen Sinn, die Republik als Staatsform absolut zu setzen, und so etwa alle Monarchisten in den Untergrund zu drängen, wie es manche gerne in Österreich täten.

Wer gegen die Monarchie ist, soll, wenn er es für nötig hält, durch die überzeugende Darstellung der Vorteile der Republik die andere Seite davon zu überzeugen trachten. Dasselbe gilt von Rechts- und Linksradikalen. Hier muß man gleich noch etwas dazusagen, was eine psychologische Feinheit zu sein scheint und deshalb offenbar zu vernachlässigen ist. Es ist auch eine Subtilität, doch die menschlichen Beziehungen verlangen in vielem delikate Nuancen, die in Wahrheit fundamentale Gegebenheiten darstellen.

Die ironische Abwertung #

Es gibt auch eine scheinbar noblere Form des Verdrängens in den Untergrund. Dies geschieht durch ein Anbringen arroganter Süffisance, durch ironische Abwertung gegnerischer Ansichten, statt offen und ernst auf sie einzugehen. Ist man in einem solchen Fall dem Gegner auch noch intellektuell überlegen, dann wird sich dieser statt befreit, geistig unterdrückt vorkommen und innerlich zurückweichen. Er wird nie zu gewinnen sein, wird künstlich verbittert gemacht usw. Er geht dann auch in einer Gesellschaft, die ihm die Freiheit ließe, öffentlich da zu sein, freiwillig in den Untergrund. So wie viele Sekten.

Dabei ist es gar nicht notwendig, einen Gegner sogleich zu gewinnen. Ja, auch wenn wir ihn nie gewinnen, ist das freundliche Gespräch doch sinnvoll, denn es ist geeignet, den Sadismus in wohlwollende Behandlung zu wandeln. Dann verliert der andere in der Verfechtung seiner Ansichten leicht das fanatische Element, auf Grund dessen er bereit ist, "über Leichen zu gehen". Damit kommt aber gerade jenes Moment zum Vorschein, wird entdeckt, eröffnet, was als echter Wert, als positives Wollen unter seinem vielleicht aggressiven Fanatismus verborgen lag.

Zu diesem Kern des guten Willens der anderen Persönlichkeit muss man nun einen Zugang zu gewinnen trachten. Hat man in sich selbst jenes Faktum, das der andere in besonderer Weise beachtet haben will, noch nicht genügend entwickelt, dann soll man trachten, es mit der Hilfe eben des anderen in sich ebenfalls zu entfalten, aber etwa im christlichen Rahmen. Dann hat man aber auch von dem Gespräch etwas profitiert.

Es ist einfach nicht wahr, dass alle politischen oder weltanschaulichen Gegner Teufel sind. Wer als Christ den Versuch der geduldigen, die echte Person des anderen bejahenden, wenn auch die von ihm vertretenen Prinzipien verneinenden Haltung nicht mehr für sinnvoll, sondern allein nur noch die Polizei zur Lösung von ideologischen Fragen für zuständig hält, verliert Überzeugungskraft, Faszinationsfähigkeit, wird ängstlich und leicht verbittert.

Das Gespräch mit den Radikalen der anderen und eigenen (!) Seite hilft auch die totalitären Tendenzen in sich selber zu entdecken und sie aufzulösen. Es hilft, den eigenen Untergrund, in den man so manches bannte, zu erschließen, und öffnet so die eigenen schöpferischen Kräfte, die durch die offene Anerkennung auch seiner eigenen inneren Realität frei werden, denn das Verdrängen kostet viele Energien. Man tauscht auch für den engen Horizont die freie Beweglichkeit in einem weit größeren und reicheren Raum ein.

Die Natur des individuellen Menschen, auch die einer Gemeinschaft, ist so geartet, dass nur das wirklich offene Wort mit dem anderen zu gemeinsamen, die Einzelstandpunkte über-bauenden, schöpferischen Synthesen zu führen vermag. So verlangt das richtige Gemeinschaftswollen gerade die Zuwendung zu allem Untergrund der Gemeinschaft. Es hilft, dem Selbstverständnis der Sozietät und öffnet jene so notwendigen gestaltenden Kräfte, die zum Aufbau der künftigen Ordnungen so sehr nötig sind.

Quelle: DIE FURCHE
SEITE 4 / NUMMER 46 10. NOVEMBER 1956