Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

China, Europa – und dann . . . ?#

Die Coronavirus-Epidemie hat sich längst zu einer Pandemie ausgewachsen. Die Staaten reagieren weltweit und auch innerhalb Europas unterschiedlich darauf. Einige Maßnahmen und Szenarien.#


Von der Wiener Zeitung (21. März 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Martyna Czarnowska, Alexander Dworzak und Klaus Huhold


Es sind Fragen, die jetzt immer wieder gestellt werden. Wer hat wie auf die Ausbreitung des Coronavirus reagiert? Waren die Maßnahmen hier zu drastisch oder wurden sie dort zu spät gesetzt? Warum handelt der eine europäische Staat anders als der benachbarte? Eindeutige Antworten darauf können nicht immer gegeben werden. Eine Analyse wird wohl erst in Monaten möglich sein. Manche Schlüsse lassen sich allerdings schon ziehen.

Wo gab es bisher die drastischsten Maßnahmen?#

Als zu Jahresbeginn die ersten Meldungen von einer „mysteriösen Lungenkrankheit“ in China kamen, waren die dortigen Behörden noch zögerlich. Doch wenige Wochen später waren die Elf-Millionen-Einwohner-Metropole Wuhan und andere Städte abgeriegelt. Flüge, Züge, Fernbusse, Fähren waren gestoppt, die Zufahrten zu den Autobahnen gekappt. Bald durften nur noch Dienst- und Notfallfahrzeuge sowie Transporte mit Waren des täglichen Bedarfs auf die Straßen. Menschen durften nur noch mit Mundschutz aus dem Haus – andernfalls drohten Strafen. Millionen Bürger waren in Quarantäne, die streng kontrolliert wurde.

Mittlerweile zählt Italien mehr Coronavirus-Tote als China. Das Land hat Ausgangssperren verhängt, die Menschen dürfen ihre Häuser nur noch zum Einkaufen, Arbeiten und aus medizinischen Gründen verlassen. Die Lombardei, die am schwersten getroffene Region, verlangt aber drastischere Maßnahmen: eine Totalsperre und einen Militäreinsatz, um die Restriktionen durchzusetzen. Schon jetzt helfen Soldaten beim Transport der Verstorbenen.

War China mit seiner Strategie erfolgreich?#

Nach derzeitigem Wissenstand ja. Am Freitag verkündete China den zweiten Tag in Folge, dass es im Land selbst keine Neuinfektionen gegeben hätte, sondern nur aus dem Ausland Neuinfektionen eingeschleppt wurden – die betroffenen Personen werden aber streng isoliert. Es gibt zwar Zweifel, ob die offiziellen Zahlen in China nicht geschönt sind. Doch würde es die Staatsführung wohl kaum zulassen, dass das öffentliche Leben langsam wieder in Gang kommt, wenn sie sich nicht ziemlich sicher wäre, das Virus im Großen und Ganzen besiegt zu haben. Auch die Weltgesundheitsorganisation lobte China immer wieder in höchsten Tönen für seine umfangreichen Maßnahmen. Wobei allerdings noch nicht klar ist, welchen Preis Teile der Bevölkerung dafür zahlten – so gibt es Berichte, dass etwa in Wuhan lebensnotwendige Behandlungen nicht durchgeführt wurden, weil alle Kapazitäten in die Corona-Bekämpfung gingen. Auch eine zweite Welle an Corona-Erkrankungen kann nicht ausgeschlossen werden. Doch das gilt für alle von dem Virus betroffenen Länder.

Haben andere asiatische Länder so drastisch regiert?#

Nein, sie haben großteils das öffentliche Leben sogar weniger eingeschränkt als viele europäische Staaten. So blieben etwa in Taiwan die Restaurants geöffnet, und auch in Singapur ging das öffentliche Leben im Großen und Ganzen weiter seinen normalen Gang – und das trotz eines großen Austausches mit China. Trotzdem verzeichnete Taiwan bis Freitag lediglich knapp mehr als 130 und Singapur etwas mehr als 300 Corona-Infektionen. Denn die beiden Staaten haben sehr schnell reagiert, auch weil sie durch die Sars-Epidemie schon Erfahrungen mit derartigen Krankheitsausbrüchen besaßen.

So fanden an den Flughäfen gleich nach den ersten Berichten aus China umfassende Kontrollen statt. Für Infektions- und Verdachtsfälle herrschen strenge Quarantänevorschriften, die auch genau überwacht werden. Durch groß angelegte Fiebermessungen, etwa in Schulen oder U-Bahn-Stationen, wurden Verdachtsfälle aufgespürt – und in der Folge wurde auch deren Umfeld genau überprüft. Zudem war das Krankenhauspersonal gut auf die Situation vorbereitet. Auch befolgt die Bevölkerung öffentliche Aufrufe, bei denen zu einem vorsichtigeren Verhalten wegen des Virus aufgefordert wird, umfassender und disziplinierter als in Europa.

Welche europäischen Länder sind besonders von dem Virus betroffen?#

Neben Italien mit mehr als 41.000 Infizierten haben mittlerweile drei weitere Staaten fünfstellige Fallzahlen: Spanien (beinahe 20.000), Deutschland (mehr als 15.000), Frankreich (fast 11.000). Dahinter rangiert bereits die Schweiz, sie steht knapp vor der Marke von 5000 positiv Getesteten. Gemessen an den 8,6 Millionen Bürgern ist die Eidgenossenschaft nach Italien das am zweitstärksten betroffene Land in Europa.

Wie steuern Österreichs Nachbarn Deutschland und die Schweiz dagegen?#

„Wir sind nicht verdammt, die Ausbreitung des Virus passiv hinzunehmen“, sagte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Allerdings anders als in der Bundesregierung, in der Merkel dank der Richtlinienkompetenz den Ton angibt, kann sie aufgrund des ausgeprägten Föderalismus nicht deutschlandweit bei Anti-Corona-Maßnahmen durchregieren. So ist der Infektionsschutz Sache der Bundesländer. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder verkündete am Freitag Ausgangsbeschränkungen, die mit Samstag um 0 Uhr gelten. Denn alleine von Donnerstag auf Freitag stiegen die Corona-Fälle im Freistaat um 35 Prozent. Dort müssen auch Restaurants, Friseurläden und Baumärkte schließen.

Die Schweiz ist bereits mehrere Schritte weiter. Mit dem am Dienstag verkündeten Notstand bleiben Geschäfte und Lokale geschlossen, Ausnahmen gelten nur für Gesundheitseinrichtungen und den Lebensmittelhandel. Supermärkte sind dazu übergegangen, die Zahl der Kunden in ihren Läden zu beschränken. Als Richtwert gilt eine Person pro zehn Quadratmetern Fläche. Große Sorge herrscht um die medizinische Lage im Tessin. Von einer „dramatischen Situation“ sprach Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit. Spitäler im Kanton an der Grenze zu Italien kämpften darum, genügend Intensivpflegebetten zur Verfügung zu stellen. Wie auch in Österreich zielen alle Maßnahmen darauf ab, die Krankheitsfälle hinauszuzögern.

Wo findet dennoch die Idee der „Herdenimmunisierung“ Anhänger?#

Bekanntester Fall in Europa war Großbritannien, wo Regierungsberater Patrick Vallance eine Infektionsrate von 60 Prozent der Bevölkerung vorschlug. Doch die These, so könne Schutz für die gesamte Bevölkerung aufgebaut werden, wird von den allermeisten Experten verworfen – das Gesundheitssystem würde kollabieren, hunderttausende Leute müssten sterben. Premier Boris Johnson schwenkt immer mehr um, über die Schließung von Pubs, Restaurants, Sporteinrichtungen und Kinos in London wurde seit Tagen spekuliert.

Zurückrudern musste auch der niederländische Premier Mark Rutte. Dort wetterten ausgerechnet die Rechtspopulisten Geert Wilders und Thierry Baudet gegen die „Herdenimmunisierung“, während andere Parteien und öffentlich-rechtliche Medien kaum Kritik am Premier übten. Der Risiko-Experte Ira Helsloot verweist laut „Süddeutscher Zeitung“ auf die niederländische Faustregel, wonach 60.000 Euro Investition für ein gewonnenes gesundes Lebensjahr in Ordnung seien. Ansonsten gelten die Kosten als höher als der Nutzen. Rutte spricht mittlerweile von einem „Missverständnis“. Ausgerechnet sein Minister für medizinische Versorgung musste wegen Erschöpfung zurücktreten.

Vor welchen Gefahrenherden wird noch gewarnt?#

Vor einigen. Bisher hat das Coronavirus besonders Industriestaaten getroffen, doch wenn es sich auch in Länder mit ärmerer Bevölkerung stärker ausbreitet, droht dort eine Katastrophe. Denn das Gesundheitssystem ist vielerorts marode, zudem wohnen in den Slums viele Menschen dicht gedrängt. Wenn dann auch noch Regierungen das Problem verharmlosen, verschärft das die Lage noch einmal.

Brasilien mit all seinen Favelas ist so ein Fall: Präsident Jair Bolsonaro hat das Virus lange nicht ernst genommen, bis vor kurzem selbst noch öffentlich Hände geschüttelt. Mittlerweile hat das Land zwar seine Grenzen geschlossen, doch innerhalb Brasiliens gibt es schon mehr als 600 Fälle. Aber auch auf die USA, die größte Wirtschaftsmacht der Welt, könnte noch einiges zukommen: Millionen Bürger sind dort ohne Krankenversicherung. Und in Florida haben Studenten bereits ihre ersten „Spring Break“-Partys gefeiert. Auch wenn die Behörden die wilden Aktivitäten doch noch unterbinden – das Virus hat bereits einen idealen Nährboden für seine Verbreitung vorgefunden.

Wiener Zeitung, 21. März 2020