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Eine Hexe muss brennen!#

Verschwörungstheorien erhalten in der Krise ungewohnte Breite, ihre Aggressivität steigt. Sind wir selbst schuld?#


Von der Wiener Zeitung (14. Mai 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Bernhard Baumgartner


Symbol des Widerstands oder Ausweis des modernen Spinners: der Aluhut
Symbol des Widerstands oder Ausweis des modernen Spinners: der Aluhut.
Foto: Unsplash

Einer muss bekanntlich schuld sein. Schuld an dem, was uns allen kollektiv soeben widerfährt. Schuld an den schlechten Nachrichten. Schuld an der Gesamtsituation. Vor allem in der allerersten Phase der Covid-19-Pandemie waren Antworten gefragt. Die Nachrichtensendungen erlebten Rekordquoten, die Online-Medien wurden durch die Bank gestürmt, Virologen wurden zu Popstars, deren Podcasts zu Massenprogrammen. Man wollte vor allem eines: Antworten auf die brennenden Fragen – und zwar seriöse.

Heute, etliche Wochen in der Krise, haben offensichtlich immer mehr Menschen die immer gleichen Antworten satt. Die Forschung scheint nicht vom Fleck zu kommen. Wundermittel sind nicht in Sicht oder werden zuerst gehypt, um sich dann als Fehlschlag zu erweisen. Kommt eine Impfung? Und wenn ja, wann? Die Antworten sind – situationsbedingt – noch immer vage. Der Zeithorizont, den die Wissenschafter aufrufen, gefällt nicht. Von Jahren ist da die Rede, wenn überhaupt. Was seriös gemeint ist, wird mit Unwilligkeit oder gar Unvermögen verwechselt.

Es kommt daher, wie es kommen musste: Immer mehr Menschen wenden sich von der Wissenschaft als Heilsbringer ab und tauchen ab in die wunderbare, weite Welt der einfachen Antworten. Das Virus? Gibt es gar nicht, alles eine Verschwörung der Weltregierung, um uns zu unterjochen. Bill Gates und George Soros wollen damit nur die Zwangsimpfung durchsetzen, um Mikrochips in den Körper zu bekommen (tippen manche mit Schaum vor dem Mund in ihr auf ihren Namen registriertes GPS-Smartphone). Überhaupt sind Impfungen reines Gift, Ärzte entweder Scharlatane oder Vasallen von Big Pharma, alle haben ihre eigene Agenda und alle wollen uns, dem einfachen Volk, ans Leder. Und erst diese Masken! Reihenweise wird von Erstickungsanfällen berichtet. Das sollte man einmal den Chirurgen und OP-Gehilfen sagen, die sich bei stundenlangen Operationen offensichtlich ständig selbst gefährden.

Bunte Sträuße an Fantasien#

Es sind bunte Sträuße an Viertelwahrheiten, reiner Fantasie oder böswillig verfälschter „alternativer Fakten“, die derzeit mit immer stärkerer Wucht durch die Sozialen Medien geteilt werden. Sänger Xavier Naidoo, in den letzten Jahren wegen politischer Äußerungen unter Druck, hat sich zum Super-Spreader besonders abwegiger Spinnereien um die Qanon-Verschwörung gemacht. Man muss nicht gleich völlig austicken wie Koch Attila Hildmann, der erst bewaffneten Untergrundkampf ankündigt und sich dann zum nächsten Staatschef ausruft (ja, das meint er ernst). Aber sogar Menschen, die man durchaus vernünftig eingeschätzt hätte, teilen plötzlich blanken Unfug oder radikalisieren sich bei üppig sprießenden Fake-Seiten aus dem Umfeld von „Russia today“.

Wie radikal es plötzlich auch in der realen Welt zugeht, konnte man bei den Demonstrationen (gegen Ausgangsbeschränkungen, angebliche Impf- oder Maskenpflicht sowie die Situation an sich) am vergangenen Wochenende in Deutschland sehen, bei denen unter anderem Kamerateams tätlich angegriffen wurden.

Dabei stellt man fest: Es sind leider nicht nur die sattsam bekannten ultrarechten Reichsbürger (die bilden sich ein, Deutschland sei immer noch ein Kaiserreich), die das Virus nützen wollen, um ihre rechte Ideologie durchzusetzen. Es sind auch normale, durchaus gebildet wirkende Menschen, die hier mitmarschieren. Es sind genau die, die schon immer an die unter Druck geratene Homöopathie glaubten und die als Gegenbewegung nun die „Schulmedizin“ als Ganzes in Frage stellen. Klar, dass Menschen mit diesem Mindset den zu Stars avancierten Virologen kein Wort glauben.

Die Frage ist: Wie konnte es zu dieser unheiligen Allianz kommen? Wieso beginnen immer mehr Menschen scheinbar hinter die Linien der Aufklärung zurückzufallen? Trinken Petroleum oder Rohrreiniger, weil sie glauben, von Parasiten befallen zu sein? Die Menschen sind ja nicht von Natur aus dumm, also wo sind die alle falsch abgebogen?

Möglicherweise rächt sich zusehend, dass die Naturwissenschaften in unserem Bildungssystem nicht den Stellenwert haben, den sie haben sollten, um in der heutigen Welt zurechtzukommen. Wie kann es sein, dass Menschen mehr als ein Jahrzehnt in höheren Schulen verbringen, danach an einer Universität studieren und am Ende nur ein ausgesprochen rudimentäres Wissen darüber haben, wie der menschliche Körper funktioniert? Wieso sind Grundlagen der Physiologie und Anatomie ein Randthema? Warum wissen manche mehr über das Nervensystem des Regenwurms als über ihr eigenes? Wie kann es sein, dass man sich durch Wahl des richtigen Schulzweiges den „komplizierten“ Fächer wie Chemie oder Physik (ja, die wo immer alle die Mundwinkel verziehen) großflächig ausweichen kann? Warum ist Ernährung und Gesundheit kein verpflichtendes Schulfach? Ist es nicht so wichtig wie Zeichnen oder Geschichte?

Anleitung zur Beschädigung#

Natürlich kann man auch den Wissenschaften vorhalten, auf ihrer Reise in die High-Tech-Welt die Menschen da draußen nicht mitgenommen zu haben. Wer sich im Rennen um immer noch komplexere Spezialisierung und dem Publizieren ausschließlich an den Kreis engster Kollegen verliert, muss sich nicht wundern, wenn da draußen keiner mehr mitkommt. Und das rächt sich eben jetzt derart, dass es manchen besonders leicht fällt, alle Fakten in Bausch und Bogen vom Tisch zu wischen. Weil eben keine kritische Masse mehr da ist, die „Bullshit“ auch als solchen erkennt und benennt.

Möglicherweise waren wir auch lange genug vollauf damit zufrieden, uns über die „Spinner im Internet“ lediglich lustig zu machen. Anstatt zeitgerecht Mechanismen zu entwickeln, die dafür sorgen, dass nicht jeder nach Belieben gesundheitsschädlichen Schwachsinn veröffentlichen kann. Und, nein, es ist nicht Sinn der Meinungsfreiheit, Anleitung zum Selbstmord im Netz zu verbreiten. Das tun verantwortungsvolle Medien ja auch nicht, warum sollen für (sogenannte) „soziale“ Medien andere Maßstäbe gelten?

Wiener Zeitung, 14. Mai 2020