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Dietmar Grieser: Wien. Wahlheimat der Genies#

Bild 'Grieser'

Dietmar Grieser: Wien. Wahlheimat der Genies. Amalthea Verlag Wien 2019. 272 S., ill., € 25,-

Seit mehr als sechs Jahrzehnten ist Dietmar Grieser Wahlwiener. Der Bestsellerautor bestätigt in eigener Person den "verblüffenden Schluss", den er am Ende seines jüngsten Buches zieht: "… dass dieses vor allem in jüngster Zeit immer wieder der Fremdenfeindlichkeit verdächtigte Österreich gerade für Fremde zur geliebten Heimat werden kann - freilich vorausgesetzt, sie leisten dazu ihren Beitrag." Der vielfach geehrte Schriftsteller widmete der Bundes- (und früheren Reichshaupt- und Residenzstadt) stets liebevolle Abhandlungen, wie in seinen zuletzt fast im Jahrestakt erschienen Bänden "Das gibt’s nur in Wien " (2012), "Landpartie " (2013)] " Wege, die man nicht vergisst " (2015), "Schön ist die Welt", (2017) und " Was bleibt, ist die Liebe " (2018). Bei "Wien, Wahlheimat der Genies" handelt es sich um eine "ergänzte Jubiläumsausgabe, basierend auf dem gleichnamigen Original von 1994", verrät das Impressum. Bei diesen wunderbaren Biografiedetails und Anekdoten spielt das aber gar keine Rolle. Man kann sie nicht oft genug lesen.

Der Autor folgt den Spuren von 30 "Zuzüglern", 20 Männern und zehn Frauen, die in Politik, Literatur, Theater, Musik, Architektur, Medizin, Sport und Wirtschaft Karriere gemacht haben. Prinz Eugen von Savoyen eröffnet den historischen Reigen auf dem Gebiet der Politik. Der "Söldner aus Paris" schrieb Weltgeschichte: "Ein Zugereister auf der ersten Stufe der Karriereleiter in der neuen Heimat, deren Ruhm er in den folgenden 52 Jahren als Feldherr, Staatsmann und kaiserlicher Berater, aber auch als Kunstsammler, Bauherr und Mäzen aufs Glanzvollste mehren wird. Prinz Eugen, der edle Ritter."

Ein prominenter "Wahlwiener der Literatur" war der deutsche Dramatiker Friedrich Hebbel. Ihm widerfuhr gleich zweimal ein "Wunder von Wien". Gerade als er, mittellos und verzweifelt, weiterreisen wollte, ergab sich ein zufälliges Zusammentreffen mit galizischen Edelleuten, die sich als großzügige Mäzene erwiesen. Die zweite Begegnung war die mit seiner zukünftigen Ehefrau Christine Enghaus, einer der ersten Schauspielerinnen des k. k. Hofburgtheaters.

Im Kapitel "Wahlwiener am Theater" finden sich drei weibliche Stars: Adele Sandrock, Rosa Albach-Retty und Hilde Wagener. "Die Sandrock", in Rotterdam geboren, charakterisiert der Bildtext mit "Ein Eklat nach dem anderen". Die Deutsche Rosa Retty hatte schon mit 21 ein Engagement am Wiener Volkstheater. Um sich den Dialekt der "Mädel aus dem Volk" anzueignen, betrieb sie inkognito Milieustudien in den bekanntesten Vergnügungslokalen der Vororte. Den Tipp verdankte sie ihrem Verlobten, dem Juristen Karl Albach, der sie gerne zum Gschwandtner, Stalehner oder Schwender begleitete. Mit Kammerschauspielerin Hilde Wagener, die wie der Autor aus Hannover stammte, verband ihn eine besondere Beziehung. Seit seinen ersten Lesungen ein Fan Griesers, spielte das Ehrenmitglied des Burgtheaters dabei gerne den "Vorlacher". Nicht nur in Kollegenkreisen ist Hilde Wagener durch die von ihr gegründete Aktion "Künstler helfen Künstlern" und das Heim in Baden, das ihren Namen trägt, bekannt.

Zu den "Wahlwienern in der Musik" zählt die Amerikanerin Olive Moorefield-Mach. Sie folgte ihrem Entdecker Marcel Prawy nach Österreich. Zuerst organisierte er Tourneen durch die Bundesländer unter dem Motto "So singt Amerika". Als Prawy 1955 Chefdramaturg der Volksoper wurde, importierte er das Musical nach Wien, mit Olive Moorefield als Superstar. Sie beendete ihre Karriere nach der Ehe und Familiengründung mit einem Universitätsprofessor für Medizin. Als "Wahlwiener in der Medizin" würdigt das Buch Gerard von Swieten, den Maria Theresia nicht nur als ihren Leibarzt aus den Niederlanden berief Sie übertrug ihm zudem die Reform des Medizinalwesens, die Leitung der Hofbibliothek und der Zensurkommission. Begründete Van Swieten die "Erste Wiener Medizinische Schule", so ist die "Zweite Wiener Medizinische Schule" untrennbar mit dem deutschen Chirurgen Theodor Billroth verbunden. Sein Name steht für Pionierleistungen als Operateur, Universitätslehrer, Erfinder und Großprojekte, wie Rettungsgesellschaft oder Rudolfinerhaus.

Das städtebauliche Großprojekt des 19. Jahrhundert war die Anlage der Wiener Ringstraße. Auch dabei waren "Zugereiste" federführend. Dombaumeister und Rathaus-Architekt Friedrich von Schmidt, Sohn einer Pastorenfamilie aus Württemberg, hatte sich der Wiederbelebung der Gotik verschrieben. In Wien schuf er u. a. das Rathaus, das Akademische Gymnasium, das Sühnhaus, die Lazaristenkirche, die Pfarrkirche Maria vom Siege und andere Sakralbauten. Der Däne Theophil Hansen, der vor seiner Wiener Zeit acht Jahre lang in Griechenland tätig war, sah hingegen den römischen Historismus mit byzantinisch-orientalischen Elementen als Ideal an. Davon zeugen u. a. Parlament, Börse, Akademie und Musikvereinsgebäude.

Die "Wahlwiener im Sport" vertritt der Fußballer Matthias Sindelar, ein "Wirtschaftsflüchtling anno dazumal". In Tschechien geboren, wuchs der Torschütze des legendären österreichischen Wunderteams in Favoriten auf. Er starb mit knapp 36 Jahren an einem Rauchgasunfall.

Das letzte Kapitel ist "Wahlwienern in der Wirtschaft" gewidmet. Es würdigt den Erfinder der Bugholzmöbel, Michael Thonet, ebenso wie den Kaufhauskönig Alfred Gerngross und den Modezaren Fred Adlmüller. Beide haben sich übrigens selbst für ihren Vornamen entschieden. Gerngross, der als jüdischer "Kaufmann aus Frankfurt am Main" 1881 nach Wien kam, wurde als Abraham geboren. Er nahm den hier gebräuchlichen Vornamen Alfred an. Der aus Nürnberg stammende gelernte Koch Wilhelm Alfred Adlmüller mochte den kaiserlichen "Wilhelm" nicht und nannte sich in seiner Wahlheimat Fred. Es wäre aber nicht Wien, würde nicht auch das Kulinarische gewürdigt werden - mit dem Erfinder der Frankfurter Würstel, Johann Georg Lahner, und dem "Hummerkönig" Attila Dogudan. In Istanbul geboren und als Zehnjähriger nach Wien übersiedelt, beschäftigt sein gastronomisches Imperium 9000 Mitarbeiter. Dazu zählen mehrere Restaurants, das Luxushotel im Haas-Haus und die Hofkonditorei Demel. Außerdem beliefert Do & Co Kunden, wie 60 Fluglinien.

So gelingt es Dietmar Grieser wieder einmal, den Bogen von der Kaiserzeit bis in die Gegenwart zu schlagen, immer spannend, charmant, humorvoll, autobiographisch und reich an Wissen.

hmw