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Wolfgang Brückner: Die Hand für das Bildgedächtnis#

Bild 'Brückner'

Wolfgang Brückner: Die Hand für das Bildgedächtnis. Digitale Kulturtechniken der Verständigung. Verlag Schnell + Steiner Regensburg. 328 S., ill., € 49,95

Im März 2020 feierte Wolfgang Brückner seinen 90. Geburtstag. "Was für ein toller Typ seiner Zunft!" begann Feuilletonredakteur Christian Geyer die Laudatio in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der Professor für Volkskunde zählt zu den wenigen Großen und Prominenten des Faches, ist Autor zahlreicher Studien und Mitherausgeber wissenschaftlicher Periodika. Frömmigkeitsforschung und populäre Druckgrafik zählen zu den Spezialgebieten des Emeritus. Brückners Forschungen zur Kunstpopularisierung sind bis heute beispielgebend. So wurde etwa die aufschlussreiche Wanderausstellung "Die Bilderfabrik" über die Lithographische Kunstanstalt May 1973/74 in fünf deutschen Städten gezeigt. Brauch und Bild spielen auch im jüngsten Werk des Autors die Hauptrolle: mit "händischen" Zeichenträgern habe ich mich schon vor fast einem halben Jahrhundert ausführlich beschäftigt und seitdem das Thema nicht mehr aus den Augen gelassen, so dass nun eine fast enzyklopädisch zu nennende Übersicht möglich wird… , schreibt er.

Das Hand-Buch vereint 67 Einzelkapitel. Es geht um nicht-elektronisches kulturelles Digitalisieren vornehmlich des Mittelalters und der Frühen Neuzeit und damit zugleich um die zivilisatorische Bedeutung der dabei optisch und konkret performativ verwendeten Hände … Die Beispiele reichen bis in die von Computern bestimmte Gegenwart. Computus hieß die jährliche Kalenderberechnung des beweglichen Ostertermins. Dazu benützten die Gelehrten seit frühesten Zeiten das Rechnen mit den Fingern einer "Merkhand". Dieses zu vielfältigen Aufgaben benötigte Hilfsmittel bestand darin, einzelnen auf der linken Innenhand (Palma) verteilten Positionen Merkverse zuzuordnen. Auf diese Weise ließen sich nicht nur Kalenderberechungen durchführen, auch Noten für den Gesangsunterricht, lateinische Grammatik, auswendig zu lernende Texte oder fromme Sprüche konnte man sich so leichter merken. Auch "digital" (von lat. digitus - Finger) hat damit zu tun, weil dem Computus das Fingerrechnen zugrunde lag.

Der erste der zehn großen Abschnitte ist Mächtige Hände übertitelt. Es geht um Götterhände, Segenshände, Reliquien, Heiligenhandschuhe und Liebespfänder. Schon hier merkt man, welch unendliches Feld behandelt wird. Es mag erstaunen, wie vieles bis in die Gegenwart Spuren hinterlassen hat. Die "Reidersche Tafel" im Bayerischen Nationalmuseum ist ein italienisches Elfenbeinrelief aus der Zeit um 400. Es zeigt die Auferstehung und Himmelfahrt Christi. Jesus wird von der Hand Gottes emporgezogen, wobei Gott Vater den Sohn am Handgelenk fasst. Diese Geste, hier im Kontext der Erlösung, ist als "Polizeigriff" bei Verhaftungen bekannt. Im römischen Recht nannte man sie mancipium, im Mittelalter drückte sie das Eigentumsrecht über jemanden aus. Barocke Juristen sprachen von mancipieren statt "zueignen, übergeben, zu eigen geben" - weshalb unser heutiges emanzipieren bedeutet, sich frei machen davon.

Gesten sind die Sprache der Menschenhände, weisend, betend, schwörend, vielfach interpretiert in der Chiromantik und neu entdeckt in der Esoterik. Den Handkuss kannte schon das Alte Testament als Unterwerfungs-, Verehrungs- und Dankgestus. Im spanischen Hofzeremoniell fand er sich ebenso wie im Ehrenrecht der Bischöfe, wo man den Ringkuss bei höchsten kirchlichen Würdenträgern bis in die Gegenwart kennt.

Breiten Raum nehmen die Forschungsergebnisse zu den Merklehren mit Hilfe der Hände und "Schreibhände" ein. Diese beschriebenen Handsymbole wurden seit dem Mittelalter gezeichnet, später gedruckt und durch die Jahrhunderte hindurch bis zu Andachtsbildern und Beichtspiegeln populär gemacht. Der Autor, der sich seit langem damit beschäftigt, präsentiert die Details in komplexer Herangehensweise.

Auch dazu ein bekanntes Beispiel: Die Kirche in der Wiener Annagasse verwahrt als Reliquie die "unzerstörte Hand der hl. Mutter Anna", die seit 1678 zum Sondereigentum der weiblichen Mitglieder der Habsburger zählte. Der orientalische Kurier Rudolfo Dane hatte sie Kaiser Leopold I. aus Konstantinopel mitgebracht, wo sich ein bekannter Reliquienmarkt befand. Der Jesuitenorden, dem die Annenkirche damals gehörte, förderte den Kult. Als Pendant zur "Nepomukszunge" wurden eine große Anzahl von Wachsnachbildungen der Annahand hergestellt, Andachtsbilder gedruckt, Litaneien und Gebete verfasst. Prager, später Grazer, Druckereien produzierten viele Tausend "böhmische Bildel" oder Fünffingerbildchen. Sie zeigen die Annahand, wobei sich auf jedem Finger Bilder und Texte befinden, die zumeist der Gewissenserforschung dienten. Bis ins 20. Jahrhundert fanden solche Devotionalien gläubige AbnehmerInnen.

Der Abschnitt Devotionaler und superstitiöser Handgebrauch beschäftigt sich mit nichtchristlichen Traditionen, wie der im 17. Jahrhundert erfundenen "Alchemistenhand", jüdisch-kabbalistischen Künsten, muslimischen Traditionen und der Fica (Neidfeige und Talisman). Die beiden letzten Kapitel führen - über marxistische Symbole, faschistisches Ritual und lateinamerikanisches Fanal - in die Gegenwart. Was man früher "Embleme" nannte, heißt nun Piktogramme oder Signa. Schutzmarken nennt man Logo oder Label. Unabhängig von der Bezeichnung kommen sie alle nicht ohne stilisierte Hände aus. Das kenntnisreiche und großzügig ausgestattete Werk schließt mit einer aktuellen Beobachtung des Jubilars. Im Zug sah er den Fan einer Punkrockband mit einem Hemd, dessen Muster verletzte Hände bildeten.

Nachtrag (29.3.2020): Neuerdings begegnet man einem Handsymbol in Form eines Stopptafel-Verkehrszeichens auf der Startseite von Google: Eine weiße Faust auf rotem Grund öffnet ihre fünf Finger, dazu fünf Tipps nach dem Motto: So schützen wir uns. Schau auf dich, schau auf mich.

hmw