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János Kalmár, Reinhard Linke und Christoph Mayer: Verschwundenes Waldviertel#

Bild 'Linke'

János Kalmár, Reinhard Linke und Christoph Mayer: Verschwundenes Waldviertel. Über Greißler und Wirtshäuser, Textilfabriken und Mühlen, Kinos und Bahnhöfe sowie Grenzen, die es nicht mehr gibt. Edition Winkler-Hermaden Schleinbach 2020. 140 S., ill., € 24,90

Viel ist hingesunken uns zur Trauer und das Schöne zeigt die kleinste Dauer reimte Heimito von Doderer "Auf die Strudlhofstiege zu Wien". Diese Verse drängen sich auf, wenn es um Lost Places geht, wie sie dieses ebenso informative wie berührende Buch vorstellt. Vielleicht war nicht alles schön im ästhetischen Sinn, was der Fotograf János Kalmár hier portraitierte. Er fand interessante Details der anonymen Architektur, hingesunkene Mauern, verlassene Häuser und funktionslos gewordene Fabriken. Besitzerstolz und wirtschaftliche Bedeutung sind längst dahin. Da kann leicht Trauer aufkommen.

Dennoch ist das Autorentrio optimistisch, was das Waldviertel angeht. Die Texte schrieben der ORF-Redakteur Reinhard Linke, der seit einem Jahrzehnt auch als Programmkurator der Waldviertel Akademie fungiert, und der Kultur- und Eventmanager Christoph Mayer. Das Waldviertel ist wunderschön, beginnen sie ihr Vorwort. Ist das Thema Abwanderung in den Medien präsent, muss meist das Waldviertel als Beispiel herhalten. Seit einigen Jahren weist die Region jedoch eine positive Wanderungsbilanz auf, schrumpft allerdings dennoch wegen der demografischen Entwicklung. … Das Jahr 1989 ging in die Geschichte ein, mit der Öffnung der Grenzen rückte die Region plötzlich ins Zentrum von Mitteleuropa und unterhält heute eine lebendige Beziehung zur Tschechischen Republik. Nicht alles, was verschwindet, hat also negative Folgen.

Das Waldviertel zählt in 99 Gemeinden mit 1070 Ortschaften auf 4600 Quadratkilometer 220.000 Einwohner. Das ist der drittniedrigste Regionenschnitt Österreichs. Früher traf man sich im Dorfwirtshaus, auch hier ist der Strukturwandel unübersehbar. Junge BesitzerInnen versuchen ihr Glück mit Eventgastronomie und Spezialitäten. Einstige Attraktionen wie die "Kroko-Bar" von Johann Gramanitsch in Waidhofen an der Thaya sind legendär. Der Besitzer des Gasthofs und von 15 Krokodilen, 30 Schlangen und einige Affen konnte sich über Gäste aus nah und fern freuen. Nachdem in den 1980er Jahren das Halten gefährlicher Tiere verboten wurde, verkaufte er sein Lokal. Nur Bilder der Reptilien zieren noch die Fassade. Ob Schlosstaverne oder Einkehrgasthof, Konditorei oder Terrassen-Café - viele von ihnen teilen das Schicksal des Leerstands. Kinos geht es kaum besser. In jedem größeren Ort des Waldviertels gab es Filmtheater, heute nur noch in Horn, Zwettl und Gmünd. Das älteste "Lichtspielhaus" baute der bekannte Architekt Clemens Holzmeister 1917 in Eggenburg. Mit gepflegtem Äußeren hat es als Depot des Krahuletzmuseums überlebt.

Der Greißler war Nicht nur Nahversorger, sondern auch Mittelpunkt des Dorflebens. Man konnte aufschreiben lassen und erst nach Erhalt des Wochenlohnes bezahlen. Viele Kaufleute hielten der Konkurrenz früher Selbstbedienungsläden und heutiger Einkaufszentren "auf der grünen Wiese" nicht stand. Die Fotos zeigen die Fassadenmode vom nostalgischen Holzportal bis zu Eternit und Eloxal, die vor einem halben Jahrhundert prestigeträchtig vom Wohlstand der Besitzer kündeten. Die einst modernen großen Schaufenster dienen bestenfalls als Werbeflächen. Die herunter gelassenen Rollbalken sind verrostet Ein ehemaliges Kaufhaus in Gars am Kamp bietet zumindest einen Rastplatz. Eine Sitzbank füllt die Breite des Eingangs aus.

Mühlen klapperten im Waldviertel schon während des Mittelalters entlang von Kamp, Thaya, Ysper, Zwettl und Krems. Um 1900 waren im Bezirk Zwettl 100, nach dem Zweiten Weltkrieg 50, 1993 drei Mühlen in Betrieb. Manche wurden zu Wohnhäusern, andere sterben in Schönheit. Aber es gibt auch Erfolg mit altem Handwerk. In Rosenburg bei Horn hält die Mantlermühle mit ihren Fertigmehlen 30 Prozent Marktanteil in Österreich In Raabs betreibt Lisa Dyk den Betrieb in fünfter Generation und stellt biologische Produkte her. Meist hat das alte Handwerk seinen viel zitierten goldenen Boden verloren. Das zeigen auch die Fotos ehemaliger Werkstätten von Schlosser, Rechenmacher, Kürschner oder Glaser.

Nicht besser als den kleinen, erging es schließlich den großen Produzenten. Während der Gründerzeit siedelten sich an der "Billiglohn-Peripherie" vor allem Textilfabriken an. Ihre Geschichte begann im 18. Jahrhundert, als ein Drittel der hiesigen Bevölkerung im Verlagssystem webte. Um 1869 waren es zwei Drittel. Groß-Siegharts, eine barocke Manufaktursiedlung, verhalf der Gegend zum Spitznamen "Bandelkramerlandel". Später etablierte sich Kautzen als Zentrum der Frottierstoff-Herstellung. Möbel- und Glaserzeuger nutzten die naturgegebenen Standortvorteile. Die Möbelfabrik Bobbin in Gmünd galt als Symbol der Stabilität, qualitätsvoller Produkte und sicherer Arbeitsplätze. Dennoch musste sie 1985 den Konkursantrag stellen und 285 Personen verloren ihren Job. In den verlassenen Gebäuden mieteten sich andere Firmen ein oder werden Jugend- und Kulturaktivitäten gesetzt. Immer wieder finden die Autoren Beispiele für das im Waldviertel ausgegebene Motto: Nicht jammern, sondern etwas tun!

Weitere Kapitel schildern Freud und Leid in der Region. Man liest Über die 42 Dörfer, die den Nazis weichen mussten, Freiwillige Feuerwehren und die Franz-Josefs-Bahn, die ehedem wesentlich zum wirtschaftlichen Aufschwung beigetragen hat. In allen Kapiteln überzeugt die Kompetenz der Textautoren Reinhard Linke und Christoph Mayer. Die Fotos des Bildautors János Kalmár sprechen Bände, zu den eindrucksvollsten zählen wohl die Bilder des verschneiten Friedhofs neben der ehemaligen Pfarrkirche von Döllersheim. Sie wurden instandgesetzt, ein Verein gestaltet zu Allerseelen Gedenkfeiern.

400 Freiwillige Feuerwehren sind vereinsmäßig organisiert. Sie zählen 20.000 Aktive, die jährlich an die tausend Mal ausrücken. Die Bevölkerung wählt sie immer wieder zur "vertrauenswürdigsten Berufsgruppe". Eine besondere Beziehung pflegte man auch zur Eisenbahn. Mit der Fertigstellung der heutigen Franz-Josefs-Bahn fand das Waldviertel Anschluss an das europäische Eisenbahnnetz. Nebenlinien wurden geplant, teilweise gebaut und meist wieder stillgelegt. Trotzdem besteht Hoffnung auf Revitalisierung. Sie nährt sich u. a. aus der 1989 erfolgten Grenzöffnung nach Tschechien. Der Staat am einstigen Eisernen Vorhang wurde nun zu einer Drehscheibe des neuen Europa, zitiert das abschließende Kapitel den Historiker Karl Vocelka. Damals entstanden neue Grenzübergänge, und ab 2009 bei jenem in Fratres / Slavonice Kunst im öffentlichen Raum. Iris Andraschek und Hubert Lobnig schufen eine 50 Meter lange, vier Meter hohe Installation als Kunstprojekt, zu dem sie österreichische, tschechische und polnische KünstlerInnen einluden. Weithin sichtbar liest man auf der Metallkonstruktion: Wohin verschwinden die Grenzen?

hmw