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Bezirksmuseum Josefstadt (Hg.) "Vor Schand und Noth gerettet" ?!#

Bild 'Josefstadt'

Bezirksmuseum Josefstadt und Anna Jungmayr (Hg.): "Vor Schand und Noth gerettet" ?! Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken der Alser Vorstadt. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung (2021-2022). Publikation des Bezirksmuseums Josefstadt Nr. 24. 238 S., ill., Bezirksmuseum Josefstadt. € 25,-

1784 ließ Kaiser Joseph II. (1741-1790) das bisherige Großarmenhaus in der Wiener Alserstraße nach Pariser Vorbild zum Allgemeinen Krankenhaus umwidmen. Angeschlossen waren - neben dem Irrenhaus ("Kaiser Josephs Gugelhupf") - ein Findelhaus und eine Gebäranstalt. In der Gründungsschrift des Spitals hieß es darüber: Die öffentliche Vorsorge bietet durch dieses Haus geschwächten Personen einen allgemeinen Zufluchtsort an / und nimmt, da sie die Mutter vor der Schand und Noth gerettet, zugleich das unschuldige Geschöpf in Schutz, dem diese das Leben geben soll. Die Kuratorin und Mitherausgeberin Anna Jungmayr hat einen Teil des Zitats mit einem Fragezeichen versehen. Damit distanziert sie sich von der Selbstdarstellung der Institution und hinterfragt, ob diese Einrichtung ihrem Ziel gerecht wurde.

Die Doppelanstalt - Gebär- und Findelhaus - war eine der bedeutendsten Sozialeinrichtungen im Josephinischen Wien. Ähnliche Anstalten bestanden bereits in Italien, Frankreich, England, Spanien und Russland. Findelhäuser waren Produkte des Zeitalters der Aufklärung. Gedacht als bevölkerungspolitische Instrumente, zielten sie auf die Vermehrung der Bevölkerung ab und wollten dem Staat die unehelichen Kinder erhalten, deren vorzeitigen Tod man ohne solche Einrichtungen befürchtete, schreibt Verena Pawlowsky. Die Forschungsergebnisse der Historikerin bilden die Basis für Ausstellung und Buch. Die bemerkenswerte Publikation ist wissenschaftlich fundiert, reich bebildert und grafisch vorbildlich gestaltet.

Das Wiener Findelhaus zählte zu den größten Europas. In 126 Jahren nahm es rund 750.000 Säuglinge auf. Von 1.000 im Gründungsjahr steigerte sich ihre Zahl in den 1860er Jahren auf rund 10.000 jährlich. 1880 kam ein Drittel der Wiener Kinder im Gebärhaus zur Welt, wobei die Mutter auf Wunsch anonym bleiben konnte. Sie wurden vom Findelhaus übernommen und in die "Außenpflege" weitergeleitet. Für die, meist selbst armen, Pflegefrauen auf dem Land waren die Kinder eine Einnahmequelle und - so sie es erlebten - eine billige Arbeitskraft. Die Kindersterblichkeit lag bei 25 %, bei Findelkindern weit höher. Von den zwischen 1784 und 1812 aufgenommenen Kindern erlebten 95 % die damals 15-jährige Versorgung durch das Haus nicht. Die meisten starben bereits im ersten Lebensjahr.

Als "lediges Kind" geboren zu werden, brachte für dieses und seine Mutter Schwierigkeiten wie gesellschaftliche Abwertung und finanzielle Probleme. Jede zweite Geburt in Wien war unehelich, die Mütter waren durchschnittlich 25 Jahre alt und meist zugewanderte Dienstboten. Eine Ehe hing von der Zustimmung der Obrigkeit ab, was bei mittellosen Personen nicht erfolgte. Unehelich schwanger gewordene Frauen konnten in den seltensten Fällen ihre Kinder versorgen. Dienstmädchen durften sie an ihrem Arbeitslatz in einem fremden Haushalt nicht bei sich haben. Gebär- und Findelhaus boten Hilfe. Als Gegenleistung für die unentgeltliche Aufnahme mussten die Frauen Ammendienste leisten und den auszubildenden Ärzten und Hebammen als "Unterrichtsobjekte" dienen. Nicht zuletzt verdankt die Wiener Medizinische Schule den armen Müttern ihren guten Ruf. Ignaz Semmelweis (1818-1865) kam hier den Ursachen des Kindbettfiebers auf die Spur und konnte das Infektionsrisiko durch hygienische Maßnahmen erheblich senken. Es bestand auch die Möglichkeit, gegen Bezahlung aufgenommen zu werden, völlig anonym zu bleiben und das "eingezahlte Kind" zu behalten. Dafür gab es von der Rotenhausgasse einen eigenen, diskreten Eingang, das "Tor der heimlich Schwangeren". Ihr Anteil lag zwischen zehn und 40 %.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sich das in der Theorie wohlüberlegte, aber in der Praxis schlecht funktionierende System überholt. 1910 wurde das Findelhaus abgerissen und das Zentralkinderheim in Währing eröffnet. Mit der weiteren Entwicklung der Wiener Jugendwohlfahrt beschäftigt sich Gudrun Wolfgruber-Thanel. Einen Wendepunkt bildete das Fürsorgewesen im Roten Wien unter Stadtrat Julius Tandler (1869-1936). Sichtbares Zeichen war die 1925 unter der Devise "Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder" errichtete Kinderübernahmsstelle. Doch auch Tandlers Anschauungen überlebten sich, ebenso wie die 1974 eröffnete "Stadt des Kindes" als neuer Heimtypus.

Im Buch, wie in der Ausstellung, folgen drei weitere große Kapitel. In Medizin und Geschlecht geht es um geburtshilfliche Geräte und die Hebammenkunst. Geschlecht und Gesellschaft beleuchtet Armut, Arbeit, Sexualität, Mutterpflichten und Frauenrechte. Die HerausgeberInnen wollten sich "auf die Perspektive der Nutzerinnen fokussieren". Doch mussten sie feststellen, dass es von Frauen, welche die Dienste von Gebär- und Findelhaus in Anspruch nahmen, kaum Selbstzeugnisse gibt. Wenige konnten sich aus dem Teufelskreis von Armut und Diskriminierung befreien. Eine der seltenen Ausnahmen war Rosalia Trestl (später verh. Lang, 1781-1981), die ihre Tochter Therese Trestl (später verh. Lindenberg, 1892-1980) zu sich nehmen konnte. Die literatur- und musikinteressierte Therese Lindenberg wurde Schriftstellerin. Ihr autobiographischer Roman "Sehnsüchtiges Weib" gilt als "archivalisches Juwel". Er blieb unpubliziert, anders als ihr unter dem Titel "Apokalyptische Jahre" erschienenes Tagebuch der Jahre 1938 bis 1946. Lindenbergs Tochter war die prominente Botanikerin Mona Lisa Steiner (1915-2000), auf deren Systematik u. a. eine mehrsprachige Datenbank der Universität für Bodenkultur zurückgeht.

Ein Faksimile-Ausschnitt aus dem Roman bildet den Übergang zum Abschlusskapitel, das wohl für viele LeserInnen von persönlichem Interesse ist. Leopold Strenn, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Familien- und regionalgeschichtliche Forschung und Mitinitiator der Ausstellung gibt darin Praxistipps zur Erforschung ledig geborener Vorfahren. Als Quellen für die Familienforschung kommen vor allem die Matriken - Tauf-, Heirats- und Sterbebücher - der Religionsgemeinschaften in Frage. Die Pfarre "Zur Allerheiligsten Dreifaltigkeit" in der Alservorstadt umfasste auch Anstalten wie das Allgemeine Krankenhaus mit Gebär- und Findelhaus. Daraus ergibt sich, dass die Matriken der Pfarre Alservorstadt zu den umfangreichsten Österreichs gehören. Sie sind auf der Plattform Matricula online. Außerdem stehen im Wiener Stadt- und Landesarchiv die "Aufnahmebücher" von 1794 bis 1910 zur Verfügung. In den Findelhausprotokollen sind Aufnahmezahl und -datum, Name, Alter und Taufort der Kinder, Name, Alter und Beruf der Mütter, soweit sie nicht anonym bleiben wollten, eingetragen. Über die Väter gibt es (außer im ersten Buch) keine Angaben. Außerdem finden sich Informationen über die Pflegefamilien.

Großformatige Fotos und prägnante Kurztexte vermitteln Einblick in die Ausstellung. Dies ist aktuell umso wertvoller, als Museen pandemiebedingt geschlossen bleiben. Das Projekt des Bezirksmuseums Josefstadt ist ein frühes Bespiel der Initiative Bezirksmuseen Reloaded. Eine andere Aktion in diesem Rahmen, die Kunstintervention Changing Cabinet, ist vom Bezirksmuseum Wieden in die Josefstadt übersiedelt. Auch sie ist im Katalog dokumentiert. Seit 2020 besteht im Wien Museum eine Stabstelle Bezirksmuseen. Sie soll diese finanziell und wissenschaftlich unterstützen. Dazu wurden drei Curatorial Fellows, junge WissenschaftlerInnen am Beginn ihrer beruflichen Museumstätigkeit, angestellt. Die Kultur- und Sozialanthropologin Anna Jungmayr ist eine von ihnen. Zum Projekt in der Josefstadt kann man ihr und dem zehnköpfigen Ausstellungsteam um Museumsleiterin Maria Ettl gratulieren.

hmw