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Zweiter Teil#

KASTE UND ANDERE POLITISCH-PSYCHOLOGISCHE KOMPONENTEN#

KASTE UND BERUF#

Wir wollen nun versuchen, den Kollektivnarzißmus und seine komplexhaften Überbauten in ihren Investments in die Gesellschaft zu untersuchen. Die Vielschichtigkeit des gesellschaftlichen Lebens erleichtert uns hierbei keineswegs die Aufgabe der Darstellung: die verschiedenen Komponenten der Gesellschaft durchdringen sich gegenseitig so, daß man keine isolierte Darstellung der einzelnen Komponenten zu geben vermag, vielmehr nur eine akzentuierende Behandlung erfolgen kann. In diesem Sinn sind die folgenden Abschnitte aufzufassen. Wir beginnen dabei mit dem Beruf.

Wenn wir genau sein wollen, ist es gar nicht einfach, die Gesellschaft nach Berufen zu klassifizieren. Denken wir zum Beispiel an die Akademiker: diese stellen keineswegs nur eine Berufsgruppe dar, auch ihre Stellung ist sehr verschieden. Es gibt Selbständige und Angestellte unter ihnen, solche mit vielen Untergebenen, solche mit gar keinen usw. Gemeinsam haben sie nur das Formale des Bildungsgangs, und dazu eventuell einen Titel, der diesen dokumentiert. Alle übrigen Wertdimensionen können ganz verschiedene Größen aufweisen. Daran zeigt sich die vieldimensionalc Struktur der Gesellschaft besonders deutlich.

Bestimmte Berufe - ganz gleich, ob man den Begriff nun weiter oder enger faßt - pflegen aber mit ganz bestimmten Wertakzenten versehen zu sein, die kastenhafte Abtrennungen zur Folge haben. Man könnte hier alle Berufe untersuchen, doch ginge das weit über das Ziel vorliegender Arbeit hinaus. Hier sollen nur einzelne Beispiele herausgegriffen werden, um zu zeigen, in welcher Weise Kollektivwertungen zusammentreffen. Dabei untersuchen wir nur solche Berufe, die nicht in anderem Zusammenhang schon ausreichend behandelt werden.

DER INDUSTRIELLE#

Die Kastenposition des Industriellen ist maximal günstig. Abgesehen von der körperlichen Kraft, die eher vom Handwerker oder Bauern erwartet wird, kommen ihm mehr oder weniger alle Kastenpositiva zu,- auch die akademische Bildung ist häufig gegeben. Die Herkunft ist, wenn es sich nicht um einen der wenigen Unternehmer handelt, die allein hochgekommen sind, meist schon positiv akzentuiert, wenn es auch relativ wenige Adelige unter ihnen gibt.

Der Industrielle vereinigt Herrentümlichkeit mit Selbständigkeit, denn ihm befiehlt niemand etwas. Auch sein Reichtum, seine reine Arbeit schaffen Distanz um ihn. Er ist affektiv eine Schlüsselfigur der gegenwärtigen Gesellschaft, und sein Herrschaftsstil kann von außergewöhnlicher politischer Bedeutung sein.

Da der Industrielle bei mehreren Wertpyramiden Gipfeleigenschaften verkörpert, erscheint er als der eigentliche »Herr« der heutigen Zeit. Ein Durchbruch von seiner Seite nach unten wäre auf die Dauer von größter Bedeutung.

Wichtig ist die Auflösung eventuell bestehender Sohnkomplexe, denn diese behindern seinen Durchbruch nach unten am meisten. Betrachtet man den Erfolg Rockefellers bei den Wahlen in New York und seine politische Popularität, dann kann man die bedeutende Wirkung eines kastenfremden Verhaltens beobachten. Die Heirat eines Rockefeller mit einem norwegischen Mädchen, das wesentlich geringeres Vermögen besitzt, liegt auf der gleichen kastenfremden Linie wie das Verhalten des Vaters im Wahlkampf.

DER BAUER#

Der Bauer wird affektiv als schmutzig, wenig gebildet, jedoch als selbständig und frei und mit einer gewissen Herrentümlichkeit ausgestattet angesehen. Er selbst hat oft Minderwertigkeitsgefühle, weil man ihn für dumm und schmutzig hält. Bei der Behandlung der Problematik zwischen Stadt und Land kommen wir noch darauf zurück. Die Minderwertigkeitsgefühle des Bauern gehen oft so weit, daß den Söhnen empfohlen wird, nicht auch Bauern zu werden.

Zwischen Bauer und Arbeiter besteht keinerlei Ekelschranke, doch besitzt der Bauer dem Arbeiter gegenüber gewisse Vorzüge. Der Arbeiter meint aber aus Gründen, die mit den Vorteilen der Stadt gegenüber dem Land zusammenhängen, einen größeren intellektuellen Horizont zu besitzen. Dies gilt natürlich nur für Stadtarbeiter. Aber auch die Fabrikarbeiter auf dem Land haben gewisse Uberlegenheitsgefühle, weil sie ihre Arbeit als »intellektueller« ansehen als die des Bauern.

Innerhalb des Bauernstandes« ist der Besitz besonders akzentuiert und ein entscheidendes Wertkriterium. So kennt 1/113 einen »Großbauern«, der sich im Gasthaus nicht zu den anderen setzt: »Er setzt sich auch nicht zu jedem Bauern. Er schaut erst herum, wohin er sich setzen soll.« Auch der gute Sitzplatz im Wirtshaus hat rangsymbolische Bedeutung.

Für die Bäuerin 2/317 gibt es eine Gruppe, der gegenüber sie sich unsicher fühlt und mit der sie keinen Kontakt haben möchte, weil sie sie als überlegen betrachtet. Es sind diejenigen, die bedeutend mehr Besitz haben als sie selbst. So assoziiert sie immer wieder mit dem Begriff »Besitzer«, namentlich natürlich im Zusammenhang mit dem »Bauern«, den »Großbauern«, interessanterweise aber auch den »Grafen«. Gegenüber dem Großbauern und dem Gutsherrn (dieses Reizwort erregt einen Stupor, und sie assoziiert erst nach 23 Sekunden »Besitzer«) zeigt sich deutlich eine affektive Empfindlichkeit. Sie meint auch bei den Phantasieproduktionen, daß es Bauern, und zwar vorzugsweise Großbauern gäbe, die eingebildet seien und glaubten, »weiß Gott was zu sein.« Der Gutsherr ist einerseits funktionell die höchste Spitze der Bauernschaft, doch stimmt dies wiederum insofern nicht, als er meist eine differenziertere Bildung hat, sich selbst nicht mehr schmutzig macht und auch eine andere historische affektive Besetzung hat.

DER GENERALDIREKTOR#

Der Generaldirektor hat eine ähnlich starke Kastenposition wie der Industrielle, nur besitzt er nicht den gleichen Vermögensrückhalt und Freiheitsgrad. Das Unternehmen, das er leitet, gehört ihm nicht, er verwaltet es nur. Daher besitzt er auch nicht im gleichen Grad die Unabhängigkeit wie der Industrielle. Im allgemeinen hat natürlich der Generaldirektor - den es ja nur in großen Unternehmungen gibt - einen außerordentlich affektiven Nimbus, der sich aus stark akzentuierter Herrentümlichkeit, Reinlichkeit, überlegener Intellektualität, Vermögen, geringer Zahl und häufig auch besserer Herkunft zusammensetzt. Wie intensiv die Position eines Generaldirektors erlebt wird, zeigt sich gerade in folgendem Beispiel deshalb sehr deutlich, weil der Aussagende dies sich und der Psychologin nicht eingestehen will. Bei der Versuchsperson handelt es sich um den gemeindeangestellten Monteur 2/504. Er meint zu Generaldirektor:

»Wenn ich heute das Wort Generaldirektor höre und daran denke, ist es für mich gar kein besonderes Gefühl. Wenn auch der Generaldirektor unmittelbar nach dem Bürgermeister der erste Vorgesetzte ist aber wegen dem, wenn ich dienstlich mit ihm zu tun habe, ist er für mich der gleiche Mensch, wie jeder... (?) oder sonst jemand, weil ich mir sag, er ist auch nur ein Mensch und, wenn ich mich ihm gegenüber anständig benehme, wird er auch mich anständig behandeln. Und wenn wir so weit kommen, daß wir zusammen auch einmal ein Essen haben, was im Jahr etliche Male vorkommt, dann muß ich natürlich besonders aufpassen und schauen, wie ich meine Haltung einnehme, daß nichts passiert, daß ich mich genauso benehmen kann wie der Generaldirektor selber. Weil ich den Standpunkt vertritt - der Generaldirektor ist nur ein gewöhnlicher sterbender Mensch, ansonsten nichts.«

Auch hier flattert die Logik. Der Monteur muß zwar eine solche »Haltung einnehmen, daß nichts passiert«, muß sehen, daß er sich »genauso benehmen kann« (?). Dann aber kommt eine völlig sinnlose Begründung: »Weil ich den Standpunkt vertritt, der Generaldirektor ist nur ein gewöhnlich sterbender Mensch, ansonsten nichts.« Weil er also diesen Standpunkt vertritt, nimmt er Haltung an, »daß nichts passiert«. Den autoritativen Charakter des Generaldirektors hat natürlich auch der Lehrer, nur nicht so intensiv, denn die Autorität über Erwachsene wiegt schwerer als die über Kinder. Wir sehen, wie die verschiedenen Dimensionen eingeschätzt werden.

DER STRASSENKEHRER#

Obwohl es sich beim Straßenkehrer nur um einen kleinen Kreis von Personen handelt, wollen wir ihm doch unser spezielles Augenmerk zuwenden. An ihm lassen sich die affektiven Wertungen in besonderer Weise studieren, da sich zwei verschiedene überschneiden.

Der Straßenkehrer ist einerseits Schmutzarbeiter und deshalb in besonderer Weise verachtet. Andererseits ist er, und das macht seinen Fall besonders interessant, meist Gemeindeangestellter, das heißt, die Gemeinden verpflichten sich zu einer intensiveren Bindung an ihn. Er erhält vielfach Monatslohn und gerade das nehmen ihm verschiedene Menschen übel. Intensive Schmutzarbeit und Angestellter - eine höchst ambivalente Kombination. Der Straßenkehrer besitzt alle Merkmale des Angestellten bis auf das der Sauberkeit. Das stört den Affektgehalt des Angestelltseins, da bei ihm die Ausnahmestellung in besonderer Weise akzentuiert erscheint. Diese Situation führt zu Ressentiments bei den Arbeitern und Angestellten. Die Arbeiter neiden ihm sein Angestelltsein. Sie empfinden es als Unrecht, daß sie, obwohl sie oft eine weniger unreine Arbeit verrichten, nicht wie die Straßenkehrer angestellt sind. Sie haben häufig auch eine Arbeit, die mehr Intelligenz erfordert, und sind trotzdem nicht angestellt. Man hilft sich damit, daß man sagt, der Straßenkehrer sei »eigentlich kein Angestellter«. Für den angestellten Monteur, 2/504, ist ein Proletarier im negativen Sinn der Straßenkehrer, der schlampig und mürrisch ist. Durch sein schlechtes Benehmen macht er seine Abstammung deutlich ... Peinlicherweise ist er Gemeindeangestellter (wie die Versuchsperson selbst) und macht der Gemeinde keine Ehre.

Der Straßenkehrer 1/4 wagte nicht, zur Hochzeitstafel seiner Tochter zu gehen, die den Sohn eines mittleren Geschäftsmannes heiratete. Er konnte sich offenbar nicht vorstellen, daß die Leute nichts dabei finden würden, mit ihm Tischgemeinschaft zu pflegen. Er legte großen Wert auf die Feststellung, daß er Gemeindeangestellter sei. Man erkennt: Die Selbstwertung des Straßenkehrers ist jene der Gesellschaft.

KASTE UND HISTORISCHE GRUPPENPRÄGUNGEN#

Die Spannungen zwischen Gruppen haben oft sehr reale Gründe in der Gegenwart, jedoch besitzen sie fast immer auch historische Akzente. Manchmal ist eine Spannung fast nur historisch begründet. Man hat also auf Grund von historischen Vorgängen zu einem späteren Zeitpunkt noch Affekte, für die zwar in der Vergangenheit gute Gründe vorliegen mochten, die jedoch in der Gegenwart illusorisch sind.

Wir haben bisher, obwohl wir uns bemühten, möglichst davon abzusehen, wiederholt historische Bemerkungen machen müssen, z. B. wenn wir darauf hinwiesen, daß Herrentum traditionell mit dem Attribut »Stiefel« verknüpft ist. Wir können zwar versuchen, bestimmte Sozialwerte abstrakt zu behandeln, doch kommen sie in der konkreten Wirklichkeit nie isoliert vor, sondern nur kombiniert. Und Gruppen, die eine bestimmte Eigenschaftskombination besitzen, erleiden oder erlitten eine Schicksalsprägung, die nur historisch erläutert werden kann. Wir wenden uns nun solchen historischen Gruppen zu, die man gewöhnlich als Stände bezeichnet, manchmal aber auch als Klasse.

KASTE UND STAND#

Der Begriff des Standes überschneidet sich mit dem der Kaste. Er hat mit ihm verschiedene Berührungspunkte, aber auch bedeutende Differenzen. Wenn es im Mittelalter Adel, Klerus und Bürgertum gab, wobei jeder Stand in sich hierarchisch strukturiert war, so lag darin ein stabilisierendes Moment, aber auch eines, das die produktive Kraft der Individuen oft hemmte. Daß mit dieser Begriffsbildung heute sehr wenig von der gegebenen Gesellschaft wirklich erfaßt wird, liegt auf der Hand. Spricht man jetzt vom Akademikerstand, so umfaßt man damit die institutionalisiert Gebildeten, deren Zusammengehörigkeitsgefühl jedoch oft nicht sehr stark ist. Der Begriff Ärztestand ist enger gefaßt; auch ist hier ein Zusammenhalten, etwas Verbindendes sichtbar.

Nun gab es, und hier kommen wir wieder der mittelalterlichen vertikalen Trennungslinie der Stände nahe, im nationalsozialistischen Sinn: Wehrstand, Nährstand, Lehrstand usw. Der Lehrstand umfaßte alle jene, die lehrten, also eine analoge Funktion hatten. Unter diesem Begriff war von den Kindergärtnerinnen bis zu den Hochschulprofessoren alle zusammengefaßt. Ähnlich umgriff der Nährstand vom Bauernknecht bis zum Gutsbesitzer (Mühlen, Molkereien, Marmeladefabriken) eine gewisse funktionelle Gemeinschaft, deren psychologischer Konnex, deren Gemeinschaftsgefühl also, äußerst schwach war. Sobald man den Zusammenhang von Stand und Standesbewußtsein in den Blick nimmt, kommt man, so man den Begriff auf die heutigen Verhältnisse anwendet, zu einer engeren Begriffsfassung. Zum Standesbewußtsein gehört eine spezielle Moral, wenn auch nicht unbedingt in dem Sinn, daß man eine andere Moral hätte als die übrige Bevölkerung. Vielmehr gehört dazu ein Moralkodex unter dem Aspekt der speziellen Aufgaben und speziellen Situationen, denen man als Angehöriger des Standes gegenübersteht.

Zum Richterstand etwa gehören Moralprinzipien besonderer Weise: innere Abschirmung gegenüber Affekten sowohl Mitleid als auch Aggressionen, eine betonte Unbestechlichkeit, begriffliche Schärfe usw. Zu diesem Berufsbild können seitens der Richter Abwertungen anderer Stände treten. Damit wird das Standesbewußtsein zu einem unnötig distanzierenden Faktor. Das Wort »Stand« fällt häufig mit Berufsgruppe zusammen.

Sicherlich besteht zwischen den Angehörigen einzelner Berufsgruppen ein Interesse, untereinander zu verkehren. Es ist nur natürlich, daß etwa Ärzte den Drang haben, miteinander über ihre Probleme zu sprechen. Mit dem intensiveren Kontakt erhöht sich auch - wir machten uns dies schon bei den Markensammlern klar - die Wahrscheinlichkeit von Heiraten usw. Zur Kaste wird der Stand aber erst, wenn sich die Gruppe unter Verabsolutierung ihrer Eigenwerte abschließt und Schranken errichtet. Diese Schranken mögen vielleicht zunächst affektiver Natur sein und haben zur Folge, daß jene Mitglieder des Standes, die die Umzäunung nicht anerkennen, abgewertet werden. Die schließliche Institutionalisierung der Schranken bedeutete dann die endgültige reale Kastenbildung.

Das Standesbewußtsein als Erkenntnis des Eigenwertes der Berufsgruppe hat einerseits einen guten Sinn und hängt mit der wünschenswerten gesellschaftlichen Differenzierung zusammen. Erst wenn der Stand zur fensterlosen Monade wird und sich aus der übrigen Gesellschaft hochmütig oder ressentimentbeladen abtrennt, wird er zur Kaste.

Wenn man von Standesunterschieden spricht, braucht das Wort »Unterschied« nicht unbedingt ein »Hoch« und »Nieder« zu betonen, sondern kann einfach Differenzen feststellen. Doch praktisch wird das Wort nicht dazu verwendet, um etwa die Unterschiede zwischen den Juristen und Medizinern zu bezeichnen, sondern zum Beispiel, um zwischen Akademikern und Nichtakademikern zu differenzieren. Diese Differenzen bezeichnen ein Gefälle innerhalb der Gesellschaft und stellen spezielle Anforderungen, etwa im Blick auf Achtung. Sie dienen der Begründung von distanzierender Arroganz und vertiefe eine Schranke. So wird der Stand zur Kaste und isoliert sich von der übrigen Gesellschaft.

Wenn sich auch zwischen Stand und Kaste kein absoluter Konnex herstellen läßt, so zeigen, wie wir sahen, die Begriffe do wesentliche Berührungspunkte. In einem speziellen, wissenschaftlichen Sinn unterscheidet man vier Stände: Adel, Klerus, Bürgertum und den sogenannte vierten Stand oder das Proletariat. Dieses Schema ist und war immer ungenügend, denn es umfaßt zum Beispiel nicht die Bauern, und auch der speziellen Wirklichkeit etwa der Intellektuellen wird es nicht gerecht. Nun treffen die Begriffe jedoch historische Gruppen, die zumindest zeitweise echte Kasten waren oder kastenhafte Züge zeigten. Daher werden wir uns entsprechend mit ihnen auseinandersetzen.

SIEGER UND BESIEGTE#

In einem Krieg oder in einer anderen Auseinandersetzung, wie sie etwa eine Revolution darstellt, gerät der Sieger in die Herrenposition; zwischen Sieger und Besiegten schiebt sich die Herrschaftsschranke. Damit entsteht die Problematik einer komplizierten Kastensituation mit entsprechenden Begleiterscheinungen. Denn die Sieger - wenn es sich um Eroberer handelt, die das eroberte Gebiet halten - überschichten die unterworfenen Völker und feudalisieren. Sie schließen sich von den Unterworfenen ab und bilden eine Kaste oder den Adelsstand. In all solchen Gruppenkämpfen spielt die Frau als Kampfobjekt eine bedeutende Rolle. So gehören, wenn sich der Narzißmus ungehemmt ausdrückt, dem Sieger die Frauen des Siegervolkes, aber auch jene der Besiegten (als Konkubinen, fallweise sogar als Ehefrauen). Umgekehrt jedoch dürfen die Besiegten sich nicht mit einer Siegerfrau verbinden, und die Frauen der eigenen Gruppe müssen mit den Siegern geteilt werden. Wir erkennen das ödipale Dreieck:

Bild 'Frau'

Die Besiegten werden in die Infantilposition gedrängt. Sie müssen natürlich auch die »niedrigen«, das heißt mit Infantilakzenten versehenen Arbeiten verrichten, vor allem die Schmutzarbeiten. Die besiegte Gruppe wird zur schmutzigen Gruppe. Jede Armee sucht sich im besetzten Land sofort Arbeitskräfte für niedrige Arbeiten (Kartoffelschälen, Zusammenkehren usw.) Die Ehre des Siegers wird nicht befleckt, wenn er sich Frauen der Besiegten nimmt, sie als Konkubinen besitzt, sie unter Umständen sogar heiratet. Wenn sich jedoch eine Frau aus der Siegergruppe mit einem Mann aus der Gruppe der Besiegten einläßt, »wirft sie sich weg«. So schildert der ungarische Autor Dezsö Arvay in seinem Roman »Du darfst nicht lieben wen du willst« (61) die unerlaubte Liebe einer russischen Ärztin zu einem ungarischen Kollegen, dem sie in einem Straflager der Sowjetunion begegnet. Die Arroganz der Sieger läßt es nicht zu, daß sich eine ihrer Frauen an einen Besiegten »wegwirft«. Auch den russischen Kommunisten fällt hier nichts Besseres ein, als immer schon üblich war. Umgekehrt gehört es zur Ehre des Besiegten, daß sich ihre Frauen nicht mit den Siegern einlassen. Sehr weit getrieben wurde diese Haltung in der CSR und in Polen gegenüber der deutschen Besatzung. Natürlich hält sich die Front nie lückenlos. Frauen, die mit den feindlichen Männern kollaborieren, werden oft gewalttätig bestraft (pd: vgl. die 1944/45 befreiten Niederlande), Ödipalin-vestments von unten und oben sind hier eindeutig zu erkennen.

Daß sich die Sieger Frauen der Besiegten nehmen, erzeugt oftmals wildeste Aggressionen. Diese sind dann geringer, wenn die Besiegten ein stärkeres Kulturbewußtsein gegenüber den Siegern haben und zu einem psychologischen Sieg ansetzen, wie etwa die Chinesen gegenüber den Mongolen. De facto erweist sich eine gewachsene Kultur gegenüber den »barbarischen« Siegern oftmals überlegen, so daß es schließlich zu einem Aufsaugen der »Barbaren« kommt. China praktizierte dies (wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grad direkt bewußt), und ähnlich taten dies romanische Länder gegenüber den sie überschichtenden Germanen. Die Sieger haben die Tendenz, sich einerseits als die Besseren zu demonstrieren und ihre Kastenposition zu fixieren und zu tradieren. Auf diese Weise entsteht eine Kastenschichtung, die oft nationale Akzente hat und auch rassische. So besaß etwa Rußland einen germanischen und tartarisch-mongolischen Adel, die zum Inbegriff der Herrentümlichkeit wurden.

Die preußische Herrenschicht hatte germanische Akzente, die Unterschicht slawische. Natürlich werden oftmals die angeführten Triebe moralisch gehemmt, doch untergründig bestehen diese Tendenzen bei einem solchen Kampf immer. Ein entsprechender Kampf konstelliert sich auch, wie wir sehen werden, bei internationalen Gruppierungen.

Häufig wird der Versuch gemacht, den Sieg und die folgende Verkastung metaphysisch zu rechtfertigen: Der Sieg ist dem Sieger auf Grund einer Gnade Gottes zugefallen, ist das Ergebnis eines Gottesgerichts,- die Sieger herrschen auf Grund von »Gottes Gnade«. Den gleichen Gesetzen gehorcht das feudale Duell bzw. der Zweikampf: Recht hat der Sieger. Dazu ist natürlich die Lehre einer absoluten Prädestination nötig, wie im Islam oder im Kalvinismus. Von »Gottes Gnaden« ist jedoch nicht nur die Feudalherrschaft im alten Sinn. Auch die Weißen in Südafrika herrschten über die Schwarzen, weil ihnen »Gott dieses Land gegeben hat«: Weil Gott nichts dagegen getan hat, ist er also mit allem einverstanden.

Auf Grund des Gruppennarzißmus und der Generationenidentifikation sind nicht nur die Sieger selbst etwas Besseres und von Gottes Gnaden Herrscher, sondern ebenso ihre Kinder und Kindeskinder. Die Tendenzen zur Fixierung und Tradierung der Positivpositionen können durch entsprechende Maßnahmen - Bildungsmonopol, Waffenmonopol usw. - realisiert werden. Eine letzte Möglichkeit besteht in der metaphysischen und moralischen Verankerung (»Gottes Gnaden«) der Herrsehaftskonstellation, die auf diese Weise fixiert wird.

ADEL UND KLERUS#

Der Ursprung des Adels ist sehr verschieden. Häufig entsteht eine Adelsschicht durch einfachen Sieg, wie aus dem eben Gesagten hervorging. Dieser bedeutete ein Gottesgericht, auch dann, wenn der Sieg durch unfaire Mittel, wie Meuchelmord und ähnliches, errungen wurde. Auch die Wahl ist eine Möglichkeit, Herrscher oder Führer zu werden. Nun kann gleich ein Herrscherhaus gewählt werden oder nur ein Herrscher, der dann auf Grund der Tendenz zur Tradierung von Kastenpositiva für die Familie sorgt; diese behält den Thron. Solche Ursprünge sind für die Vererbung öffentlicher Rechte rational immer ungenügend begründend, so daß metaphysische Konstruktionen die de facto bestehenden Zustände rechtfertigen sollen. Die meisten Herrscherhäuser haben für metaphysische Gründe gesorgt. Das englische Königshaus stammt angeblich von den jüdischen Feudalen ab, das japanische Herrscherhaus direkt vom Sonnengott, die Brahmanen entsprangen »Brahmas Haupt«, und die Habsburger versuchten zeitweise eine Verwandtschaft mit den Colonnas zu konstruieren, die sich ihrerseits von Caesar und dieser von der Venus herleiteten (62).

Ist ein Herrscher jedoch einfach deshalb »von Gottes Gnaden«, weil er herrscht, dann waren es auch Hitler, Napoleon und Stalin. In allen Fällen außer bei der Wahl, handelt es sich um Rechtfertigungsideologien für de facto gegebene Zustände, nicht etwa umgekehrt. Die gegebenen Zustände haben primitivere Gründe als jeweils angegeben werden.

Der Herrscher gibt Gnaden weiter; es entsteht eine Adelshierarchie, deren zentraler Wert die Herkunft ist. Dabei stellt schon allein die bloße Herkunft entweder von einem oder mehreren Vorfahren mit besonderen Leistungen oder von mythologischen Gestalten oder einfach von einem Titelträger, der diesen Titel vererbt, einen Wert dar. Der Adel als Adel existiert heute dort, wo es keine Monarchien gibt, nur auf Grund der Herkunft von einem Vater mit Adelsprädikat.

Dem Adel stand in gewissem Sinn der Klerus gegenüber. Ging in Indien der Kampf eher zugunsten der Priester aus, so in Europa zugunsten des Adels, der auch den Klerus feudalisierte. Wenn man uns auch des Systemzwangs bezichtigen sollte, - auch in diesem Kampf ist ein ödipales Investment zu beobachten.

Zweifellos hat das Zölibat religiöse Gründe, doch gibt es daneben auch noch andere. So versuchte die Feudalhierarchie ihre vom Standpunkt der Geschlossenheit des Erbgutes aus überzähligen Söhne in höheren Klerusfunktionen unterzubringen. Hinter der in Teilen der Feudalhierarchie einmal vorhanden gewesenen Tendenz, den Klerus in das Zölibat zu drängen, steht wohl auch tief erliegend ein Kastrationswunsch, der jedoch auch sein klerikales Gegenstück besitzt.

Der Klerus reagierte durch eine sehr weit verbreitete Diskriminierung der Sexualität, selbst der ehelichen. Von daher kann man wohl die Vorschriften der spätmittelalterlichen Kirche verstehen, nach denen zum Beispiel der Geschlechtsverkehr in der Nacht vor einer Kommunion, außerdem an Fest- und Feiertagen, die viel zahlreicher waren als heute, verboten war. Es handelt sich hier um Kontrakastrationen auf dem Umweg über verbogene christliche Lehren. Durch die Unterbringung überzähliger Söhne in den geistlichen Stand wurde letzterer defizient feudal.

Was die Relation zwischen den Feudalherren und ihren vielfach leibeigenen Bauern betrifft, so hatten letztere nicht im gleichen Maß die Möglichkeit, unter Berufung auf die christliche Lehre ihren Herren entgegenzutreten. Daß auch diese Relation ein Frauenkampfmotiv enthält, ist eindeutig darzulegen. Selbst wenn das sogenannte »Recht der ersten Nacht« als wirkliches Recht nicht voll bewiesen sein sollte, so wurde es doch wohl oft genug gehandhabt. Die Feudalherren meinten, wenn sie ihren Anspruch ungehemmt zum Ausdruck brachten, alle Frauen wären ihr Eigentum, so wie oft Besatzungstruppen auf die Frauen der Unterworfenen Anspruch erheben. Das ödipale Schema wird wieder aktiviert:

Bild 'Bauer'

Dem Untertanen wird die künftige Frau wenigstens defloriert, die Herrenfrau jedoch gehört dem Herrn allein. Man sagt dem Bauern nach, er sei, weil er »auf der Scholle« sitzt, »konservativ«. Die schrecklichen, wilden Bauernaufstände zeigen das Gegenteil. Die Bauern sind in Westeuropa nur deshalb konservativ, weil sie rechtzeitig befreit wurden. Der aufständische Bauer vergewaltigte oft, als Dokumentation seines Sieges, die Herrenfrau und kastrierte oder tötete den Herrn. Im Roman »Der Aufstand« von Liviu Rebreanu schildert der Verfasser unter ausgezeichneter Einfühlung in das Geschehen einen Aufstand der rumänischen Bauern gegen die Bojaren (63). Der Sohn des Bojaren wird dabei vom Sauschneider des Dorfes kastriert und die Bojarenfrau vergewaltigt. Die Leibeigenschaft näherte sich sicherlich der Sklaverei im Vollsinn. Wir können auch bemerken, daß der »schmutzige Bauer« der »Gscherte«, Geschorene, bei seinen Aufständen natürlich primitive, oft aber recht wirksame Waffen besaß, die jedoch gegenüber denen der Ritter unedel waren, ähnlich wie der Spieß des Spießbürgers.

Die Assimilierung von Bildung durch den Adel ist nicht ursprünglicher Natur, denn die Bildung konzentrierte sich z. B. auf den Schreiber. Dieser Intellektuelle war jedoch abhängig; es kam vor, daß er von seinem analphabetischen Ritter geprügelt wurde (64).

Natürlich gab es auch einen verantwortungsvollen Adel, ohne Sohnkomplexe, der sich um das Heraufziehen der unteren Schichten bemühte. Daß es sich dabei eher um den höheren Adel handelt, ist auf Grund des Gesetzes der sozialen Nah- und Ferndistanzen naheliegend. So ist wohl auch die Bauernbefreiung durch Maria Theresia und Josef II. auf Grund einer überspringenden Identifikation nach unten zu verstehen.

Ein positiv sich nach unten wendender Niederadel entsteht nur entweder aus intensiver Vateraggression oder auf Grund einer hohen moralischen Qualifikation. Dem hohen Adel oder einem König fällt eine positive Haltung nach unten naturgemäß leichter. Nach dem frontalen Sieg des Bürgertums und dem partiellen des Proletariats hatte der Adel durch Verlust seiner ursprünglichen Position zunächst als Ganzes einen Abstieg mitgemacht. Dieser Vorgang hatte eine Art von Vergrämung zur Folge. Zurückgezogen pflegten die Adeligen, wenn sie es sich leisten konnten, ein Leben patinierter Ästhetik und kühler gesellschaftlicher Distanzierung. Dazu kam eine abgeschlossene Welt interner gegenseitiger Anerkennung. In einer Art von Edelressentiment gegen die bestehende Gesellschaft lehnte der Adel ein Engagement innerhalb der Gesellschaft ab. Wie bei entthronten Herrschern meist der Wunsch entsteht, der Staat möge ohne sie keinen Bestand haben, fand sich eine analoge Haltung im Raum des Edelressentiments beim Adel.

Das ist alles natürlich nur sehr allgemein gesagt, denn es gibt große Differenzierungen. Diese Ressentimenthaltung fand sich am akzentuiertesten im betonten Adelsraum, und der ist natürlich wieder vor allem im sekundären Adel zu finden, also in dem, dessen Titel relativ jungen Datums sind, und auch bei jenem, dessen Adelsgrad relativ niedrig ist. Die sogenannten »Vons« befinden sich ja in einer entsprechenden Zwischenposition, entweder identifizieren sie sich aggressiv gegen den oberen Adel mit den »Bürgerlichen« oder geben sich betont adelig. Wir dürfen mit Recht annehmen, daß sich gerade der Sekundäradel im weiteren Sinn schwerer adaptiert als der ursprüngliche. Der Trend ist eindeutig.

Gerade der Zweite Weltkrieg, ähnlich wie der erste ein tiefer Erlebniseinschnitt, scheint die Bewegung zu einem neuen Engagement in der Gesellschaft intensiv gefördert zu haben. Die doch sehr weite Kreise des Adels umfassende Identifikation mit dem sekundärfeudalen Nationalsozialismus muß nach einem Zusammenbruch auch tiefgreifende seelische Wirkungen ausgelöst haben. Das neue Engagement des Adels, der, wie wir an Hand von Äußerungen Adeliger schon zeigten, intensiv bürgerliche Leistungswertungen aufgenommen hat, kann für die seelische Situation der Gesellschaft und des Adels nur von Nutzen sein. Für die Gesellschaft ist es erfreulich, wenn an ihrer Gestaltung alle Begabungen teilnehmen, und es ist nicht einzusehen, warum sie gerade auf die aus dem Adel Kommenden verzichten sollte.

In diesem Zusammenhang könnte zum Beispiel in Österreich der ernst gemeinte Verzicht Otto von Habsburgs auf seine Rechte, die ihm auf Grund der Herkunftswertung zukämen (Legitimismus), und ein bürgerliches Engagement, das sich auf seine persönlichen Leistungen gründet, ähnlich normalisierende Wirkungen auf den Adel haben wie das Verhalten des neuen Papstes auf den Klerus.

Das heißt natürlich nicht, daß der Feudalismus keine psychologischen Wirkungen mehr auf die Gesellschaft ausübt. Reiterklubs, das »edle Waidwerk« (deutsche Wirtschaftskapitäne zahlen in Österreich für den Abschuß eines Hirsches bis zu öS 50.000.-), Kronen und Wappen auf Kognakflaschen, auf Flaschen mit teurem Bier, ja auf Kasetten von elektrischen Rasierapparaten und ähnliche Dinge gelten als oberkastig und formen innerhalb des Bürgertums noch Gesellschaftsideale.

DER BAUER - STADT UND LAND#

Wir sprachen schon vom Bauern, der eine Leibeigenen-Position besaß. Diese Tatsache äußert sich einerseits in heute noch bestehender Bewunderung für den Gutsherrn, zugleich in intensiven Aggressionen gegen den Adel, der noch als Sklavenhalter angesehen wird. Zugleich aber färbt der Bauer und die Sozialtradition, die ihn als infantilen Typus sieht, intensiv die Affekte zwischen Stadt und Land. Denn auch zwischen Stadt und Land besteht eine Schranke, die sich aus mehreren besprochenen Momenten zusammensetzt und sehr differenzierte Abstufungen hat - Kleinstädte, Provinzhauptstädte usw. Tatsächlich genieß etwa ein Wiener im Ausland leicht ein höheres Ansehen als ein Grazer, Klagenfurter usw. Die Ausdrücke »Gscherter«, »Provinzler« enthalten ein deutlich abwertendes Urteil, ja schon der Ausdruck »Provinz« hat etwas Abwertendes,- im wohlwollenden innerpolitischen Sprachgebrauch in Österreich wurde er deshalb durch »die Bundesländer« ersetzt. In den Bundesländern gibt es umgekehrt ein antiwienerisches Ressentiment. Dieses scheint in den Landeshauptstädten größer zu sein, da zwische jenen und der Bundeshauptstadt die soziale Differenz am geringsten ist. Dazu können noch spezielle historische Akzent kommen, die sich in Österreich zwischen Salzburg und Wien oder zwischen Graz und Wien am leichtesten nachweisen lassen Der Großstädter besitzt ein allgemeines Bild vom »Gscherten« das eingeschränkten Horizont beinhaltet, eine Art von Intelligenzdefekt. Das ist natürlich extrem gesagt.

Umgekehrt hat die Bevölkerung in den Bundesländern den Eindruck, daß der Großstädter »großmaulig« und »arrogant« ist. Tatsache ist, daß die Großstadt durch den Reichtum an Eindrücken, die sie vermittelt, und durch deren Differenzierung einen den Anforderungen der modernen Zivilisation entsprechenden weiteren Horizont bei sonst gleichen Voraussetzungen bietet. So ist der Großstädter unter sonst vergleichbaren Umständen auch gewandter und geschmeidiger. Das Provinzielle hat demgegenüber eher etwas Schwerfälligeres, ihm fehlt häufig die Beziehung zu kulturellen Spitzenleistungen. Da in Kleinstädten und Dörfern die einzelnen Personen mehr der Kontrolle der anderen unterworfen sind, mag es sein, daß auch ein gewisses äußerliches moralisches Gefälle - das natürlich nichts mit der echten Moralität zu tun hat - zwischen Stadt und Land besteht. Die »Unschuld vom Land« ist die Karikatur dieser Biederkeit.

Die effektiv bestehenden Unterschiede werden natürlich individuell durchbrochen. Andererseits werden sie häufig stark dramatisiert, so daß sich auch hier eine kastenhafte Tendenz bemerkbar macht, die Unterschiede zur Kluft zu vertiefen. Das Ressentiment zwischen Klein- und Großstädtern hat natürlich mit den Bauern nichts zu tun.

DAS BÜRGERTUM#

Die Worte »Bürger« und »bürgerlich« fluktuieren in ihrer Bedeutung. Der Bürger steht einerseits im Gegensatz zum Adel, andererseits zum Proletariat, wobei es wieder Überschichtungen gibt. Er verkörpert gegenüber dem Adel, der auf dem Herkunftsprinzip basiert, das persönliche Leistungsprinzip. Insofern umfaßt der Begriff Bürger das Proletariat, den Arbeiter, den Angestellten. Insoweit die meisten Titel (mit Ausnahme der Adelsprädikate) auf dem Leistungsprinzip beruhen, besitzen sie alle bürgerliche Akzente.

Eine gewisse Ausnahme bilden die auf Grund von Gnadenakten verliehenen Titel, die keine bestimmt umrissenen Leistungen zur Grundlage haben. Sie sind zwar nicht vererbbar - bürgerliches Prinzip -, doch ist - sehr extrem gedacht - das Gnadenprinzip auch unbürgerlich. Auch Vererbungspositiva, Umweltspositiva der frühen Kindheit, sind erlebnismäßig Gnadengeschenke, die nichts mit dem persönlichen Verdienst zu tun haben. Wird nun von oben geschenkt, so besitzt diese Gnade Verwandtschaft mit jener, die das Schicksal dem Träger eines Adelsprädikats schenkt. Extrem formuliert, würde das bürgerliche Prinzip lauten: Lebensberechtigung und Recht auf Achtung besitzt nur jener, der persönlich arbeitet. Des Apostels Wort: »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen« (2 Thess 3, n), jenes Bibelwort (!), das in die Sowjetverfassung Eingang fand, vermag hier als eine gewisse Basis zu dienen.

Beim Bürgertum handelt es sich, historisch gesehen, um Handwerker und Kaufleute, die sich hinter den Mauern der Städte schützten. Diese vom Adel zunächst verachtete Gruppe wurde mit der Zeit sehr mächtig. Das Bürgertum kaufte sich schließlich Söldner, war aber auch selbst kampfbereit, allerdings in weniger »edlen« Formen.

Persönlicher Fleiß, Geld und Kapital waren Aufstiegsmittel des Bürgertums. Hierher gehörte die freie Verfügbarkeit über das Eigentum, - im Gegensatz zum feudalen Lehenseigentum, zu dem in etwa der Sozialismus zurückkehrte. Die große Rolle, die das Eigentum im Leben des Bürgers spielt, wird aus der Möglichkeit verständlich, die dieses ihm bietet. Es gibt die Chance, hinaufzukommen. Das Eigentum ermöglicht auch, andere Kastenpositiva zu akkumulieren. Es stellt einerseits selbst einen Wert dar, andererseits bietet es die Möglichkeit, die Herkunftswertung des Feudalismus zu umgehen und zu bekämpfen und ihr das Ideal des Selfmademan gegenüberzustellen, der seine Position aus sich und nicht aus der Herkunft bezieht. Da das Eigentum den Aufstieg ermöglicht, ist es im bürgerlichen Bewußtsein natürlich stark akzentuiert und stellt eine intensive Fundicrung des Selbstbewußtseins dar. Umgekehrt wird der Bürger aus dem gleichen Grund in seinem Selbstbewußtsein vom Eigentum abhängig; daher verschmerzt er den Verlust von Eigentum viel schwerer als der Aristokrat. Der Geldprotz ist eine typisch bourgeoise, niemals aristokratische Erscheinung. Ludwig Thoma schildert einen solchen sehr anschaulich:

»Zum Scheckbauern ist im Sommer eine Familie gekommen. Die war sehr vornehm, und sie ist aus Preußen gewesen. Wie ihr Gepäck gekommen ist, war ich auf der Bahn, und der Stationsdiener hat gesagt, es ist lauter Juchtenleder, die müssen viel Gerstl haben. Und meine Mutter hat gesagt, es sind feine Leute, und du mußt sie immer grüßen, Ludwig. Er hat einen weißen Bart gehabt, und seine Stiefel haben laut geknarrt. Sie hat immer Handschuhe angehabt, und wenn es wo naß war auf dem Boden, hat sie Huh! geschrien und hat ihr Kleid aufgehoben.

Wie sie den ersten Tag da waren, sind sie im Dorf herumgegangen. Er hat die Häuser angeschaut und ist stehengeblieben. Da habe ich gehört, wie er gesagt hat: ,Ich möchte nur wissen, von was diese Leute leben.« ... Dann hat er meine Mutter gefragt, wieviel sie Geld kriegt im Monat, und sie ist ganz rot geworden und hat gesagt, daß sie hundertzehn Mark kriegt.

Er hat zu seiner Frau hinübergeschaut, und hat gesagt: ,Emilie, noch nicht vierzig Taler.' Und sie hat wieder ihren Zwicker vor die Augen gehalten. Dann sind sie gegangen, und er hat gesagt, daß man es noch gehört hat: ,lch macht bloß wissen, von was diese Leute leben.'« (65)

Man sieht deutlich, in welcher Weise hier die finanzielle Stärke als Wertfundierung innerhalb der Gesellschaft dient. Ebenso wird eine Deklassierung der Ärmeren auf diesem Hintergrund möglich gemacht. Die Sparsamkeit dieses neuen Typus steht mit dem selbstbehauptenden Trotz im Zusammenhang. Der »Haufen Geld«, der angehäufte »Besitz«, den man behalten konnte, wird zum Symbol der isolierten Selbstbehauptung gegenüber einer Autorität und zu dem einer Freiheit von dieser Autorität. Wir sehen, inwiefern die bürgerliche Problematik oral oder anal ist. Denn das orale Habenwollen und das anale Ansammeln wird jeweils durch die bürgerliche Situation aktiviert. Vermögen, Reinlichkeit, Disziplin und Sparsamkeit werden zum Leitbild. Durch persönliche Leistung, die sich im materiellen Erfolg dokumentiert, erkämpft sich der Bürger den Aufstieg in der Gesellschaft.

So berechtigt die Durchsetzungstendenzen des Bürgertums nach oben sind, so unberechtigt sein Verhalten nach unten. Gegen das feudale Gnadenprinzip hat es das persönliche Leistungsprinzip gesetzt. Es wird nun verständnislos gegenüber denjenigen, denen es nicht gelang, nach oben zu kommen. Der Kalvinismus z.B., der die bürgerlichen Tugenden besonders akzentuierte, wurde zur typisch bourgeoisen christlichen Häresie (66). Genauer gesagt: Im Kalvinismus wird Gnade gleichgesetzt mit dem persönlichen Leistungserfolg. Und hier zeigt sich, daß das bürgerliche Leistungsprinzip mit dem feudalen Gnadenprinzip identifiziert wurde. Die Identifikation von Leistungserfolg mit Gnadenerweis beinhaltet auch Gleichsetzung von gut und reich, von gut und rein (67). Unrein und schmutzig ist gleich böse. Affektiv ist es im Marxismus umgekehrt. Positiv an der Wirkung der kalvinistisch-bürgerlichen Prinzipien ist der unternehmerische Elan, den sie erzeugen.

Nun besitzen wir auch einen Schlüssel zu dem, was man »satte Bürgerlichkeit« nennt oder abwertend »bürgerlich« oder »spießbürgerlich«. Wenn auch in der zuletzt gebrauchten Vokabel aristokratisches Ressentiment mitspielt, so ist doch im Affektgehalt unbedingt etwas Wahres. Leon Bloy (68) hat, wenn er vom Bürger spricht, den satten und antigeistigen Menschen vor Augen, für den Geld und Genuß Selbstzweck wurden, ja, für den das Geld Selbstrechtfertigung ist.

Die Beschränkung des Horizonts auf ökonomische Werte vermag zu einer direkt antigeistigen, antiintellektuellen, antiidealistischen Haltung zu führen (69). Die Abhängigkeit der Selbstbewertung auf Grund von ökonomischen Werten ist zudem häufig mit einem Mangel an Risikobereitschaft verbunden, der den Typus schwer beweglich macht. Hierbei handelt es sich jedoch schon um eine spätbourgeoise Haltung, es geht schon primär um die Fixierung des Erreichten. Diese Form der Bürgerlichkeit ist zwar eine Entartung, jedoch eine, die eher für das Bürgertum als für den Adel typisch ist. Die Verabsolutierung des Leistungsprinzips bzw. der ökonomischen Werte ist ebenso falsch wie die Herkunftswertung.

DER KAMPF ZWISCHEN FEUDALISMUS UND BÜRGERTUM#

Im Kampf um die väterliche Position entstand dem Feudalsystem im Typus des Bürgers der entscheidende Feind - gefährlicher als im Typus des Bauern. Dem Bürger gelang es schließlich, die geistigen Grundlagen und später in vielen Staaten auch das konkrete Herrschaftssystem des Adels zu sprengen. So hat das Bürgertum der Städte schon sehr früh den Bauern und Leibeigenen auf dem flachen Lande den Rücken gestärkt und flüchtende Bauern aufgenommen. »Stadtluft macht frei.« Der Feudalismus hat verschiedentlich langsam Boden freigegeben und ist Schritt für Schritt zurückgewichen. Er hat sich im Kampf gegen das Bürgertum teilweise des Mittels der Wegadelung bürgerlicher Spitzenköpfe bedient. Wenn wir hier vom Kampf einzelner Prinzipien sprechen, so müssen wir uns natürlich bewußt sein, daß echtes Menschentum durch kein Kastenprinzip völlig verdrängt zu werden vermag.

Wie die hochfeudale Elisabeth von Thüringen alle Kastenschranken durchbrach, durchbrachen sie auch Kaiser und Könige. So wurde die Kapuzinergruft in Wien von einem Habsburger gegründet, der sie nicht zufällig den innerhalb der Kirche als schmutzig verschrieenen Kapuzinern anvertraute. Sein Sarg steht dort ebenso wie der Josefs II. in demonstrativer Einfachheit. In der Steiermark wurde aus dem Habsburger Erzherzog Johann, der eine Bürgerliche heiratete und damit einen Sprung nach unten vollzog, eine fast mythologische Figur. Auch das schrittweise Zurückweichen des Feudalismus war nicht nur eine Abwehrreaktion, sondern zum Großteil echtes Einsehen de Unrichtigkeit starrer Feudalprinzipien. In der französischen Revolution lief ein Teil des Adels zu den Revolutionären über ja befand sich schon vorher auf Seiten der Freimaurerei, und zwar wiederum, weil dieser Teil bereits die bürgerlichen Prinzipien akzeptierte (70). Schließlich hemmten die Schuldgefühle auch die Maßnahmen gegen die Revolution. Dies alles zeigt, daß der einzelne Mensch immer mehr ist als seine Ideologie und seine Kaste.

Umgekehrt sehen wir auch innerhalb des Bürgertums intensive Identifikationsprozesse mit dem Adel. Das gibt unter anderem zu sekundärfeudalen Ideologien Anlaß (zum Beispiel zum Nationalsozialismus). Alle diese Oszillationen lassen jedoch nicht die primären Unterschiede zwischen den Prinzipien verschwinden und damit auch nicht die Spannungen, die sich zwischen jenen Personen ergeben, die sich mit den jeweils gegensätzlichen Prinzipien identifizieren.

Nach bestimmten Feudalprinzipien werden nichtfeudale Menschen als infantil betrachtet. Sie sind demnach keine richtigen Menschen und haben »keine Familie«. 2/107, der von einem Elternteil her aus dem Adel stammt, sagt dazu:

»Es wird einem gesagt: ,Du darfst einen andern das nicht spüren lassen. Aber du bist der und der und mit dir kann sich niemand vergleichen, und es steht keiner ober dir als vielleicht der liebe Gott. - Und der andere hat eben keine Familie und Schluß. Ein richtiger Aristokrat zeigt es nie, er ist vielleicht äußerst demokratisch, a vielleicht, wenn man ihn beleidigt, kommt es zum Vorschein.«

Als man der heiligen Hildegard von Bingen zumutete, eine niederständische Frau in ihr Stift aufzunehmen, sagte sie: "Wer wird denn Böcke, Ziegen, Schafe zusammen mit edlen Pferden in einen Stall sperren!"

Das feudale Leitbild im Blick auf die Frau zielt auf die Vaterposition im ödipalen Dreieck. Dabei entwickelt der Feudale Angst, daß er vom Unterkastigen überwunden wird, und eine entsprechende Aggression nach unten. Daß diese mit einem Ödipalinvestment durchdrungene Kampfkonstellation nicht nur, wie oben dargetan, in Richtung auf das Bauerntum, sondern auch gegenüber dem Bürgertum bestand, läßt sich sehr gut an dem »Sturmvogel der französischen Revolution«, der »Hochzeit des Figaro« von Beaumarchais erkennen. In der »Hochzeit des Figaro« trifft die bürgerliche, personale Leistungswertung zunächst frontal auf die feudale Herkunftswertung. Crane Brinton hat hier sehr vieles klar gesehen, daher wollen wir ihn ausführlich zu Wort kommen lassen:

»Figaro selbst ist der fähige junge Mann, den ein auf Vorrechten beruhendes altes System ungerechterweise niederhält. Beim Aufgehen des Vorhangs wartet er im Dunkel, um seine Braut und seinen Herrn, den Grafen Almaviva, bei einem Stelldichein zu überraschen. Seine anfänglichen Gedanken über die weibliche Unbeständigkeit gehen schnell in einen heftigen Angriff auf seinen vornehmen Herrn über. "Weil Ihr ein großer Herr seid, haltet Ihr Euch für ein Genie! ... Adel, Vermögen, Rang, Stellung - all das macht den Menschen so stolz. Aber was habt Ihr getan, um all diese schönen Dinge zu verdienen! Ihr habt Euch die Mühe gemacht, auf die Welt zu kommen."

Dann blickt er auf die Kämpfe seines Lebens zurück: seine obskure Geburt, seine chemischen, pharmazeutischen, medizinischen Studien, die ihm mangels vornehmer Geburt nur zu einer Berechtigung verhalfen, die Tierheilkunde auszuüben, dann das Schreiben eines Stückes mit dem unvermeidlichen Konflikt mit der Zensur. Dann schrieb er über die Staatsfinanzen und wurde dafür eingesperrt. Später schrieb er in der Zeitung und wurde von neuem zum Schweigen gebracht. Eine Beamtenstelle bekam er nicht, weil er unglücklicherweise die Qualifikation dafür besaß. Dann versuchte er es mit dem Glücksspiel, aber seine vornehmen Schutzherrn zogen ihm das Geld aus der Tasche. Schließlich mußte er zu seinem alten Beruf als Bader zurückkehren. Das ist zum Teil eine Autobiographie von Beaumarchais, einem Krämersohn. Der Autor war aber unter dem ancien regime reich und berühmt geworden; er hatte Anteil an der französischen Hilfe für die amerikanischen Revolutionäre. Es war ihm jedenfalls im ancien regime recht gut gegangen. Durch den Monolog sind berühmte Stellen verstreut, die das vornehme Publikum entzückten und im ganzen Land zitiert wurden. Ganze Familien kamen aus der Provinz nach Paris, um ,Figaros Hochzeit' zu sehen und die Angriffe brillanten französischen Geistes gegen eine schlechte Regierung zu hören.

Hier einige der bekanntesten Seitenhiebe von Beaumarchais: ,Sie können den menschlichen Geist nicht unterkriegen; sie rächen sich, indem sie ihn mißhandeln. ... Nur kleine Leute haben Angst vor kleinen Schriften ... Für diese Stelle brauchte man einen Buchhalter; es bekam sie ein Tänzer... Um in dieser Welt vorwärts zu kommen, ist ,savoir faire' wichtiger als 'savoir'.

In dieser einen Rede sind so viele Anzeichen der kommenden Revolution, daß wir mit dem Hernachwissen des Historikers sagen dürfen, daß die Revolution im ,Figaro' schon fast voll entwickelt vorliegt. Dazu gehört natürlich auch die Tatsache, daß die Zensur nach langem Schwanken das Stück von Beaumarchais nicht verbot.«(71)

Der Vorwurf des Figaro, der Graf hätte nichts getan, um »all diese schönen Dinge zu verdienen«, und sich bloß die Mühe gemacht, »auf die Welt zu kommen«, enthält die grundideologischen Gegensätze von Feudalismus und Bürgertum. Daß die Zensur das Stück nicht verbot, zeigte, daß die Aristokratie nicht mehr an ihre Ideologie glaubte, sondern entsprechende Schuldgefühle und Strafbedürfnisse hatte. Ein großer Teil von Aristokraten lief, wie schon gesagt, über, ein anderer nicht mehr adaptionsfähiger Teil wartete offenbar schon darauf, getötet zu werden. Der übergelaufene Teil der Aristokratie tat dies sicher nur zu einem Teil aus Angst. Im übrigen sah er ein, daß seine Geburtsvorrechte nicht berechtigt waren.

Brinton übersieht jedoch das affektdynamisch so sehr wichtige Moment des Frauenkampfes. Denn die Wunschvorstellung des Grafen geht dahin, das Recht der ersten Nacht wieder einzuführen. Und gerade die siegreiche Abwehr des reaktionären Versuchs durch den listenreichen Bürger Figaro ist das zentrale Thema des Stückes. Die ödipale Wunschvorstellung des Grafen sieht hier so aus:

Bild 'Bauer'

Figaro ist zudem viel moralischer als der Graf, denn er erhebt keinerlei Anspruch auf die Frau des Grafen. Das Stück, das hier den Bürger propagandistisch siegreich zeigt, mußte eine gewaltige Rückenstärkung für das revolutionäre Bürgertum darstellen, die Aggressionen gegen das Feudalregime stärken und umgekehrt die Abwehrkraft der Herrenkaste lähmen. Die »Hochzeit des Figaro« stellt eine besonders instruktive Propagandakonzentration dar und ist für die revolutionäre Affektkonstellation außerordentlich instruktiv.

DAS PROLETARIAT - DIE ARBEITER#

Wenn wir sowohl vom Adel als auch vom Bürgertum sprachen, so haben wir die Problematik, da es um die Grundprinzipien geht, stark vereinfachen müssen. Denn schon im Mittelalter gab es heftige Spannungen zwischen den armen und reichen Bürgern in den Städten.

So verständlich es war, daß der Bürger Besitz und Kapital als Anzeichen seiner persönlichen Leistung, als Waffe gegen die feudalen Geburtsvorrechte benützte, so gefährlich war dann doch in der Folge die Verabsolutierung des Prinzips der persönlichen Leistung, denn sie bedeutete ein Fallenlassen jener Mitglieder der Gesellschaft, die aus inneren oder äußeren Gründen nicht imstande waren, entsprechende Leistungen zu erbringen.

Die unbeschränkte, absolute Verfügungsgewalt über das persönliche Eigentum ermöglichte auch eine Akkumulierung der verschiedensten Kastenpositiva. Das Leistungsprinzip schürt die Konkurrenz und den psychologisch sehr zweifelhaften Konkurrenzkampf. Das bedeutet wiederum, daß gefährliche Aggressivität in der Gesellschaft investiert wird.

Schließlich wird das Eigentum zu einem _Kastenzentralwert, der mit anderen oberkastigen Attributen zusammen die Grundlage zu einer neuen Kastenbildung legt. Das Bürgertum übernimmt nun zum Teil feudale Herrentümlichkeit (Reitklubs usw.) und distanziert sich von jenen, die in Abhängigkeit von den neuen Herren gerieten. So verrieten sie den weniger glücklichen Teil des Bürgertums an den Feudalismus. Eine neue Pariakaste entsteht - das Proletariat, die alle Sozialunwerte auf sich vereinigt. Die ursprüngliche Abhängigkeit des Arbeiters von seinem »Dienstgeber« war so groß, daß sie der Sklaverei sehr nahe kam. Der Arbeiter ist »schmutzig«, weil er gewöhnlich schmutzige Arbeit macht, er ist untergeordnet und hat niemanden mehr unter sich. Sein ursprünglich meist sehr geringer Verdienst machte ihn arm und daher um so abhängiger. Seine Bildung war gering, besonders die der Hilfsarbeiter. Die ursprüngliche Maschinisierung bedeutete ein Hinsteuern auf das monotone Fließband, das keine Intelligenz vom Arbeiter verlangte. Die Infantilposition des Arbeiters gegenüber dem Großbürger war ähnlich wie die der Leibeigenen gegenüber den Feudalherren.

Wir verstehen den Proletarier mit Berdjajew als einen quasi 'verunglückten' Bürger, dem es nicht möglich war, durch persönliche Leistung hinaufzukommen, und der damit in eine arge Infantilposition geriet (72).

DER KAMPF ZWISCHEN BÜRGERTUM UND PROLETARIAT#

Wiederum gilt, daß in den verschiedenen Ländern mehr oder weniger sogenannte Unternehmer ihr Eigentum nicht nur für sich beanspruchten, sondern auch die Verpflichtung spürten, die Arbeiter zu sich hinaufzuziehen. Aber ähnlich wie im Adel war der größere Teil so eingestellt, daß ihm der Aufstieg der unteren Schichten abgezwungen werden mußte; dadurch verzögerte sich der natürliche Entwicklungsprozeß. Bestanden von Seiten der Bürger Aggressionen nach unten, so von Seiten der Proletarier solche nach oben. Wieder sind die Aggressionen letzterer reaktiver Natur, der Vaterkomplex folgt dem Sohnkomplex. Und wieder finden wir das ganze Arsenal von Infantilinvestments.

Daß der Proletarier »schmutzig« und damit ekelerregend ist, wissen wir schon. Die Umdeutung des Wortes »schmutzig«, bei Sublimierung des Begriffsinhalts - »Wir halten die Kapitalisten für schmutzig« (73) -, erfolgt bei den Proletariern auf Grund einer Abwehrreaktion.

Hat der Feudalismus das Recht auf die unterkastigen Frauen auf Grund göttlicher Gnade - mythologischer Herkunft oder von Gottes Gnaden im »Gottesgericht« -, so der Großbürger, weil er Geld hat. Er kauft sich die unterkastigen Frauen auf mehr oder weniger subtile Art. Und nun entsteht das neue Ödipal-Dreieck:

Bild 'Proletarier'

Im Zurückweichen der »Kapitalisten« vor den »Proletariern«, ebenso wie in revolutionären Umbrüchen, spielen die Schuldgefühle und bewußten und uneingestandenen Aufstiegsbejahungen eine analoge Rolle wie die entsprechenden Affekte der Feudalherren gegenüber den Bürgern. Dort, wo die Verhältnisse zu einer weitgehenderen Bejahung der Aufstiegstendenzen veranlaßten, vollzog sich der Aufstiegsprozeß des Proletariats zwar mit Spannungen, aber ohne sadistische Exzesse. Wiederum finden wir unter den Proletariatsführem Kapitalisten und Kapitalistensöhne, die sich nach unten identifizieren (zum Beispiel Viktor Adler), aber auch Aristokraten (Freiherr von Vogelsang), die das Bürgertum, sich nach unten identifizierend, übersprangen.

Zum größeren Teil jedoch mußten Rechte, die im Grunde nichts anders bedeuten als Einschränkungen der bürgerlichen Verfügungsgewalt über das Eigentum, abgetrotzt werden. Dort, wo es zu Revolutionen kam, gab es Enteignungen, als Entmachtung des Bürgertums gedacht (Rußland, Jugoslawien) oder, maßvoller, einschneidende Beschränkungen des Bürgertums (China). Daß die Probleme des Proletariats nicht gelöst werden, sondern daß eigentlich ein Rückfall in das feudale Lehenseigentum erfolgt - Fabriksdirektor aus der Parteielite erhält die Verfügungsgewalt über die Betriebe - , entspricht der Revolutionsgesetzlichkeit.

Der Staatskapitalismus kann sehr viel drückendere Formen annehmen. Der richtige Weg stellt offenbar einerseits Beschränkung, andererseits die breite Streuung des Eigentums dar. Man sollte die befreiende Funktion des bürgerlichen Eigentums gegenüber dem Feudalismus ebensowenig vergessen wie die Gefährlichkeit schrankenloser Verfügung über das Eigentum. Die Überheblichkeiten gegenüber Arbeitern sind noch sehr groß. Wenn die Hausfrau 2/510 zum Beispiel erklärt, daß es »auch unter den Arbeitern sehr nette Menschen« gäbe, so besagt das Wort »auch«: Selbst unter den Arbeitern, wo man es offenbar gar nicht vermutet, gibt es »sehr nette Menschen«. Die gleiche Versuchsperson meinte zu »Straßenkehrer«, daß dieser ein »ganz gewöhnlicher Arbeiter und geistig tiefstehend, aber auch ein Mensch« sei. Und der Finanzbeamte 2/302 assoziiert zu »Proletarier« stotternd:

»Hat einen üblen Mitgeschmack bekommen, der nicht absolut... der nicht im Wort selbst liegt.«

Hier ist der Affekt so stark, daß die Versuchsperson den Satz gemäß der affektiven Einstellung formuliert, ohne es zu merken. Die Rationalisierung gelingt überhaupt nicht mehr, denn diese würde sinngemäß lauten: Der üble »Mitgeschmack« liegt im Wort und nicht im Menschen. Er sagt jedoch das, was er wirklich meint: Der üble Beigeschmack liegt im Menschen und nicht im Wort. Schon die Worte »der nicht absolut« zeigen von der ambivalenten Affektstruktur, die ihn infolge des Reizwortes beherrscht. Wenn wir solche Affekte feststellen müssen, dann wird es erklärlich, daß die uneingestandenen, latenten Spannungen zwischen den einzelnen Gruppen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft noch sehr tiefgehend sind. Daß sie zum Großteil unbewußt sind, macht die Problematik noch schwerwiegender, da die offiziellen Auseinandersetzungen dann über Ersatzproblemc geführt werden, ohne daß man an den Kern der affektiven Problematik herankommt.

KASTE UND KLASSE#

Bei aller Verwandtschaft der Begriffe besitzt das Wort »Klasse« affektiv nicht die Enge und Abgeschlossenheit des Wortes »Kaste«. Weiterhin besitzt das Wort »Klasse« einen eindeutig ökonomischen Akzent.

Bei Karl Marx handelt es sich dabei speziell um die Problematik des Eigentums an den Produktionsmitteln, doch darüber hinaus um die Problematik des Vermögens und des Eigentums schlechthin. Die Trennungslinie verläuft zwischen den Besitzenden und Nichtbesitzenden. Gerade hier ist es sehr schwer, eine präzise Trennungslinie zu ziehen, weil es keinen institutionellen Unterschied gibt. Es gibt Ärzte, deren Produktionsmittel in ihrer Schreibmaschine bestehen. Ihre Hilfskraft benützt sie und verschafft ihnen damit einen Mehrwert. Und es gibt andererseits gigantische Industriekonzerne. Karl Marx verlegte die endgültige Trennungslinie in die Zukunft. Nach seiner Prophetie, denn im Grunde handelt es sich um eine solche, würden sowohl das Kleinbauerntum als auch alle industriellen Mittelbetriebe und das Kleingewerbe verschwinden, so daß schließlich nur noch Großkapitalistcn und Großagrarier auf der einen und Hilfsarbeiter auf der anderen Seite übrigbleiben würden. Natürlich haben wir etwas vereinfacht. Damit wäre eine endgültige Scheidung der Geister sehr einfach möglich: hier einige wenige Kapitalisten und dort die große Masse der Proletarier. Der Trend verlief einige Zeit hindurch während der ersten industriellen Revolution, in der von Marx angegebenen Richtung.

Aber gerade jetzt, im Verlauf der zweiten industriellen Revolution, verläuft er völlig anders. Wie wir zeigten, bedeuten Vermögen und Besitz von Produktionsmitteln nur einen Unterschied innerhalb der Gesellschaft. Das Vermögen erweist sich ohne Zweifel als eine sehr wichtige Sache, doch als eine, die nur in den Extremlagen alleinige Bedeutung besitzt. Dies traf allerdings in der frühkapitalistischen Zeit oftmals zu.

Es gibt auch eine Reihe von Personen, die primär von ökonomischen Tendenzen bestimmt werden, doch ist dies nur selten vollgültig der Fall. Wohl führen gleiche Vermögensverhältnisse gern zu einem verwandten Lebensstil, doch trifft auch dies nur sehr oberflächlich zu. Zum Beispiel geben Intellektuelle bei gleichem Einkommen über die Grunderfordernisse hinaus ihr Geld für wesentlich andere Güter aus als etwa Bauern oder Arbeiter mit dem gleichen Vermögen.

Der primär ökonomisch bestimmte Klassenbegriff leistet daher, von ganz bestimmten historischen Situationen abgesehen, recht wenig für das Verständnis der seelischen Gegebenheiten in der Gesellschaft. Sicher ist jedoch, daß der Klassenbegriff sich dem Kastenbegriff am meisten in der Dialektik zwischen dem historischen Bürgertum und dem Proletariat nähert. Denn gerade in dieser Dialektik spielt das Eigentum schlechthin eine bedeutende Rolle. Die Spannungen zwischen den Intellektuellen und Nichtintellektuellen jedoch werden durch den Klassenbegriff überhaupt nicht erfaßt.

Der Kastenbegriff erweist sich für die Erfassung der Spannungen innerhalb der Gesellschaft als viel adäquater. Ja, wir können sogar mit guten Gründen sagen, daß der Klassenbegriff eine Rationalisierung des Kastenaffektes darstellt. Denn in Wahrheit ist es ein Kastenkampf der Parias gegen die Oberkasten, der mit dem Wort »Klassenkampf« gemeint ist.

Im tieferen Anliegen geht dieser Kampf um die Hereinnahme der Parias in die Gesellschaft. Und das Ziel der Entmachtung, womöglich Rechtlosmachung und Ausstoßung der Reichen aus der Gesellschaft, ist die Realisierung eines durchaus verständlichen jedoch eindeutigen Racheaffekts. Nach dem Taliongesetz (»Aug' um Aug', Zahn um Zahn«) sollen nunmehr die Positionen verkehrt werden. Daß der Racheaffekt keine geeignete Grundlage für wirtschaftliche Vernunft darstellt, ist psychologisch sehr naheliegend.

Gemeint ist also affektiv nicht der Unterschied zwischen Besitzern und Nichtbesitzern von Produktionsmitteln - eine höchst abstrakte Angelegenheit -, sondern der Unterschied zwischen den konzentriert Unterkastigen, Schmutzigen, Armen, Dummen, Abhängigen, kurz, geballt Infantilen, und den konzentriert Oberkastigen, den Reinen, Gescheiten, Reichen, Unabhängigen, Vaterpositionellen. Die Aggression entsteht nicht deshalb, weil es diese Unterschiede gibt, sondern weil sie zu einem Wesensunterschied zwischen den Menschen gemacht wurden und weil sich das Bürgertum ähnlich nach unten verschloss wie vorher die Feudalhierarchie. Ähnlich wie die Feudalen unter dem dynamischen Entwicklungsdruck bereit waren, Spitzenbürger in die eigene Kaste hereinzunehmen, waren auch die Bürger bereit, einzelne Spitzen des Proletariats zu integrieren. Sie waren aber nicht bereit, mit der Arbeiterschaft insgesamt Tisch- und Lebensgemeinschaft zu pflegen und die Arbeiter zu sich hinaufzuziehen.

Gerade das jedoch, die Verkastung der Bourgeoisie - und ihr Sohnkomplex -, provozierte die Vateraggressionen und alle reaktiven Sadismen im Proletariat. Die Lösung liegt in der Entkastung beider Seiten.