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Starke, Schwache, Moralität#

Die Starken und die Schwachen#

Alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will. (Gewerkschaftsslogan)

Das Moment körperlicher Kraft spielt im Autostereotyp des Bauern, noch mehr aber in dem des Arbeiters eine große Rolle. Umgekehrt werden, wie wir eben sagten, verschiedene Ober-kastige, darunter die Akademiker, häufig als Schwächlinge hingestellt. Natürlich wird auch der Begriff der Stärke einer Sublimation unterzogen, so daß wir ebenfalls die psychische oder zahlenmäßige Stärke als wesentlich ansehen müssen. Der schwerarbeitende Schlosser 1/508 ist ein Kraftmeier, der auch im übertragenen Sinn die Kraft schätzt. Er lehnt die Mitglieder der FPÖ als Schwächlinge ab, während er bei der KPÖ immerhin eine starke Macht im Hintergrund sieht.

Der für viele Punkte so aufschlußreiche Hilfsarbeiter mit Matura 2/308 hat wegen seiner körperlichen Schwäche innerhalb eines Arbeitsmilieus Schwierigkeiten und entwickelt Minderwertigkeitsgefühle.

2/217 meint zu »Arbeiter«:

»Einen kräftigen, starken Menschen, mit großen Händen, denen man die manuelle Arbeit ansehen kann.«

2/220 assoziiert zu »der Überlegene« — »Kraft«, was doppelsinnig ist, denn es kann damit physische oder psychische Kraft gemeint sein.

In den im vorigen Kapitel zitierten Stellen aus Ludwig Thomas »Lausbubengeschichten« haben wir erkennen können, in welcher Weise zwei verschiedene Normensysteme zusammentreffen, und daß gerade dadurch ein sehr komischer Effekt erzielt wird. Dem Lausbuben imponiert es, wenn einer einen anderen »hinschmeißen« kann, während dies den Erwachsenen gar nichts Wesentliches bedeutet. Wir haben gesehen, daß der Lausbub Ludwig den Bildungsprotzen die körperliche Kraft seines Freundes Franz, der »alle Bräuburschen hinschmeißen« kann, gegenüberstellt. Als Mittel gegen den Bildungsprotz empfiehlt er: »Man muß den Seitz hauen, dann ist es besser.« Auch hier wird die körperliche Kraft der Ungebildeten gegen die demonstrative Überlegenheit der Gebildeten gesetzt. Der Dialog, den Thoma den Sohn eines demonstrativ Oberkastigen mit dem Lausbuben führen läßt, ist typisch für die Schranke der körperlichen Kraft, die zwischen den beiden verläuft: »Der Arthur fragte mich: ,Gelt, du bist stark?' Ich sagte, daß ich ihn leicht hinschmeißen kann, wenn er es probieren will. Aber er traute sich nicht und sagte, er wäre auch gerne so stark, daß er sich von seiner Schwester nichts mehr gefallen lassen muß.«

Es ist auch typisch, den Oberkastigen als Schwächling anzusehen. Zur Zeit der Ritter war dies wahrscheinlich anders. Diese verachteten ja ihrerseits die Intellektuellen, wie etwa die Schreiber. Die körperliche Kraft spielt heute eine relativ unbewußte Rolle, da sie kollektiv stark abgewertet wurde. Bei vielen Berufen wurde die körperliche Anstrengung mit Hilfe von Maschinen bedeutend reduziert, so daß die Kraftentfaltung nicht mehr in der gleichen Weise den Arbeiter charakterisiert wie früher.

Wenn 2/107 zu »schwach« assoziiert:

»Na ja, mit dem Maschinengewehr tut sich das ganz aufheben«, so hat er die Relativierung der Kraft im Auge, vor allem im Kampf.

Eine bedeutende Rolle spielt die körperliche Kraft allerdings im Kampf um die Frau. Denn die masochistische Komponente im Rahmen der weiblichen Sexualität tendiert auf einen starken Mann. Das Umkämpftwerden reizt das weibliche Selbstgefühl. Neben der körperlichen Stärke fallen dabei selbstverständlich auch alle anderen Kastenpositiva in die Waagschale.

Wohl mit bezweifelbarem Recht wird angenommen, daß starke Männer eine große sexuelle Potenz besitzen. Die Angestellte 2/305 sagt ganz deutlich in dieser Richtung: »An Holzknecht möcht i hab'n.« Reichlich ungeschminkt wird hier herausgestellt, daß sie von einem Holzknecht unmittelbare, intensiv kräftige Potenzen erwartet. Die Erwähnung des Maschinengewehrs oben als Relativierung der körperlichen Kraft zeigt uns aber auch die Sublimationsmöglichkeit des Kraftbegriffes. Der Mann mit der Waffe ist gewissermaßen »stärker« geworden. Seine Macht zu töten wertet ihn auf, wie alle Macht aufwertet. Die Frauen, die von Generaldirektoren fasziniert werden, sind dies nicht nur wegen seines Geldes, sondern auch wegen seiner Macht, wegen seiner sublimierten Kraft und Stärke. Hier wächst Kraft mit Herrentum, schließlich mit Überlegenheit als solcher zusammen. So wird auch die Stärke etwas, das zwar verbindet, aber trotzdem sehr relativ ist.

Die Wenigen und die Vielen#

»Wo wir sind, da ist immer oben« (Aus dem Lied der Legion 'Condor')

Die kleine und die große Zahl stellt häufig zusätzlich einen kastenbildenden Faktor dar. In der gegenwärtigen Gesellschaft gibt es Ansätze zur Kastenbildung, die die geringe Zahl, das »Elitäre«, ins Zentrum zu rücken versuchen. Dabei ist allerdings nicht recht klar, was denn diese Wenigen vor den »Allzu-vielen« auszeichnet, außer der Tatsache, daß sie eben wenige sind.

Das in geringerer Menge Vorhandene pflegt wertvoll zu sein, doch ist dies im Grunde ein relativer Aspekt. So war das Gold in den indianischen Hochkulturen nicht sehr geschätzt, wohl aber bei den Konquistadoren. Und das Wasser ist in den afrikanischen und asiatischen Wüsten etwas sehr Wertvolles, in Europa jedoch keineswegs, hier ist es gewöhnlich reichlich vorhanden. Die Bananen sind in Europa wesentlich teurer als auf den Kanarischen Inseln. Eine deutsche Firma inserierte, ganz bewußt an den Snobismus appellierend, ihr Produkt mit folgenden Worten:

»Abseits vom Alltäglichen ein hochgezüchtetes Steckenpferd zu reiten — dazu gehört der ausgeprägte Sinn für den Wert des Seltenen. Alles wahrhaft Wertvolle ist selten...« und daher ist das Produkt »wegen seiner besonderen Vorzüge nicht gerade billig«.

Das Seltene ist zwar teuer und das Häufige billig, doch heißt dies nicht, daß die geringe Zahl auch schon ein Maßstab für den hohen Wert wäre. Sollte es gelingen, Diamanten künstlich zu erzeugen, dann werden sie viel von ihrer Kaufkraft verlieren, doch ihre Eigenschaften deshalb keineswegs einbüßen. Erst die Kombination von Seltenheit und besonderen Qualitäten macht Menschen zur Elite.

Unter »Wenige« versteht man häufig kleine Gruppen ohne besondere Wertvorzüge, oft Minoritäten genannt. Die Minorität ist vielfach verachtet, weil sie nicht die Eigenschaften besitzt, auf die die Majorität glaubt stolz sein zu müssen. Man muß jedoch sehr vorsichtig sein und darf die Problematik nicht zu einfach sehen. Denn was bewußt als minderwertige Minorität erscheint, kann in tieferen Schichten als überwertige Elite erlebt werden. Wir werden dies in besonderer Weise bei den Relationen Antisemiten - Juden und Kommunisten - Kapitalisten erkennen.

Eine Gruppe kann einerseits als herausgehobene Elite, andererseits als Minorität angesehen werden. Im revolutionären Kastenwechsel schließlich wandelt sich oft die Wertschätzung einer Gruppe schlagartig, und das, was bewußt war, wird unbewußt, und was unbewußt war, wird bewußt. In Leopold Szondis Terminologie würde dies heißen:

Die Drehbühne »bewußt« - »unbewußt« läßt den »Hintergänger« »Vordergänger« und den »Vordergänger« »Hintergänger« werden (12). Wenn etwa in Frankreich der Adel im Vordergrund der öffentlichen Meinung zunächst hoch gewertet wurde, wurde er im Hintergrund gleichzeitig abgewertet. Nach den antifeudalen Revolutionen wurde dann der Adel in der Öffentlichkeit abgewertet, insgeheim jedoch weiter hoch-gewertet. Diese komplizierten Beziehungen müssen wir im Auge behalten.

In den Reaktionen auf das Wort »Elite« zeigt sich, daß mit diesem Wort heute noch bei vielen »Adel« verstanden wird.

In den negativen Reaktionen beziehen sich die Versuchspersonen auf das »Cliquenhafte« kleiner Gruppen, in denen sich einzelne gegenseitig Vorteile verschaffen. Im Gegensatz zur »Elite« steht die sogenannte »Masse«, Heideggers anonymes »Man«. Eine Kennzeichnung der »Masse« ist unter anderm, daß sie aus den Vielen besteht, die angeblich so wenig wert sind. So sagt 1/9 zu Akademiker:

»Akademiker kann man heute kiloweis kaufen.«

2/502 sagt zu »Masse«:

»Gleichförmigkeit«, womit er zu erkennen gibt, daß die Mitglieder der aus zahlreichen einzelnen bestehenden »Masse« kein persönliches Profil haben und einer wie der andere ist. Die Masse ist das, was sich außerhalb der Auserwählten, außerhalb dieser »Elite« befindet. Und die Elite ist wenn sie sich zu organisieren versucht, gleichsam herausgeschnitten aus der Masse.

Ein Beispiel zeigt uns, wie sehr das Bewußtsein, zu einer Gruppe Weniger zu gehören, geeignet ist das Selbstbewußtsein aufzublähen. Der reichlich snobistische Künstler 2/309 meint nach 16 Sekunden zu »arbeitender Mensch«:

..ja, das ist etwas entsetzlich Allgemeines... auch nicht... also nichts Unsympathisches, eher etwas... eher etwas Sauberes, hat eher etwas sag ma...« (Rechnen Sie sich zu den arbeitenden Menschen?) »Manchmal« (zum Begriff arbeitender Mensch?) »Ja, sicher, sicher.« Er ekelt sich deutlich vor dem »entsetzlich Allgemeinen«. In die gleiche Richtung geht seine Assoziation zu »die Werktätigen«, die nach 15 Sekunden folgt:

»Ja, es ... das berührt mich nicht so sympathisch wie die arbeitenden Menschen; die Werktätigen, das hat etwas von, von, von... Flohzirkus an sich, an wimmelnde Haufen, an irgend was Wimmelndes oder...«

Als Angehöriger einer kleineren und zugleich qualifizierteren Gruppe fühlt er sich also über die »Vielen« erhaben. Im allgemeinen geschieht dies jedoch nicht ohne Angst, denn auch das Gefühl, Mitglied einer »starken« Gruppe, einer großen Gruppe zu sein, vermittelt das Gefühl von Kraft.

Im kommunistischen Jargon hat das Wort »die Massen« einen ganz anderen Klang, es vermittelt das Gefühl von unaufhaltsamen Sturmwind, von Überschwemmung und Überflutung. Wenn dagegen der Kastenstolze und Elitäre von der »Masse« spricht, von »Massenzeitalter«, dann hat er die Vorstellung einer großen Zahl von Menschen, die sich nach dumpfen Affektregungen bewegen und dabei jede differenzierte Kultur zerstören.

Beide Vorstellungen werden den Wirklichkeiten der menschlichen Gesellschaft keineswegs gerecht. Die Vorstellung von der »blinden Masse« ist eine snobistische Mythologie. Gerade die oben zitierten Worte des Künstlers zeigen dies deutlich. Ein Gruppe, die sich als »Elite« betrachtet, sich hochmütig von der »Masse« abschließt und glaubt, genau zu wissen, wer zur »Elite« und wer zur »Masse« gehört, erliegt einer großen Selbsttäuschung.

Die Moralitätsdistanz#

Die ethische Qualifikation, das Gutsein oder das Bösesein, dient meist als zusätzlicher Kastenwert, wenn die Beurteilung ethischer Qualifikationen auch sehr problematisch ist. Denn häufig ist die moralische Abwertung nichts als eine Rationalisierung ganz andersartiger Abwertungen. Wie sehr unter Umständen die moralische Negativeinschätzung zur Deckung ganz andersartiger Wertungen Verwendung findet, zeigt der Begriff des »guten Hauses«.

Wenn man nämlich von jemandem sagt, er sei aus gutem Haus, dann fließen mit den Vorstellungen von qualitativer Moralität auch noch die von gewissem materiellem Wohlstand und konventionellem Benehmen mit ein. Ja, oftmals stehen gerade dies im Vordergrund, während die moralische Qualifikation in den Hintergrund tritt. Interessant ist in dieser Hinsicht die Aussage, die, weit über eine Assoziation hinausgehend, der Industrielle 2/217 zu dem Stichwort »aus gutem Haus« macht:

»Von jemandem, der aus soliden und geordneten Verhältnissen kommt, aus einem guten Haus mit einem anständigen Milieu. Wenn die Eltern nicht in Zerwürfnis leben und in finanzieller Zerrüttung. (Hat es mit Geld zu tun?) Der üblen Auffassung nach bzw. der üblichen Gewohnheit nach ja. (Vom Beruf abhängig?) Wenn Sie mich speziell gefragt haben, ist es nicht so abhängig... Sowas ist schwer zu beantworten, denn jeder ist an die hergebrachten Begriffe irgendwie... mit den helgebrachten Begriffen vertraut und damit aufgewachsen und hergebrachtermaßen, wenn man von jemand sagt, er kommt aus einem guten Haus, stellt man sich das Übliche vor, aber wenn man sich persönlich fragt, so verwende ich dieses Wort möglichst überhaupt nicht. Wenn es einem mitunter ausrutscht, sozusagen, kann es natürlich auch vorkommen, daß man das Übliche meint. Weil es ein antiquierter Begriff ist, weil die sozialen Wertungen heute in kolossalem Fluß sind und man heute mit diesem Wort mehr Unheil anrichten kann, als man damit Richtiges ausdrückt... man sagt ,aus gutem Haus' und postuliert damit etwas, was gar nicht mehr den Tatsachen entspricht. Er kann aus einem Haus kommen, von dem man früher gesagt hätte, das ist ein gutes Haus, heute erfüllt dieses Haus aber gar nicht mehr das, was man sich eigentlich darunter vorstellen würde. Es kann jemand aus bescheidenen Verhältnissen kommen, die aber bestens geordnet sind, wo man eben im wahren Sinne des Wortes sagen könnte: ,ein gutes Haus'!«

Diese Aussage schlägt sich mit dem Problem der Moralität herum, die mit dem Ausdruck »aus gutem Haus« mitangepeilt wird. Das »Zerwürfnis« der Eltern wird als Charakteristikum des »unanständigen« Milieus angesehen. Im ersten Absatz bleibt er also zunächst im Rahmen eines Bildes gutbürgerlicher Zustände. Auf die Frage, ob das »gute Haus« etwas mit der Finanzkraft zu tun hätte, gleitet er jedoch im folgenden Absatz mit einer Fehlleistung aus. Er wollte sagen, der »üblichen Auffassung nach«, sagt aber »der üblen Auffassung nach«, womit er in einer tieferen Seelenschicht eben diese übliche Auffassung als übel und böse dokumentiert. Die übliche Auffassung vom »guten Haus« ist vom Übel, ist nicht in Ordnung.

In der Folge, als die Psychologin nachstößt und ihn fragt, ob das »gute Haus« vom Beruf abhängt, stellt er sich auf den Standpunkt, das sei nicht der Fall, vertritt jedoch diesen Standpunkt nicht mit Sicherheit. Denn zunächst sagt er: »Wenn Sie mich speziell gefragt haben«, das heißt, daß seine Antwort anders ausgefallen wäre, wenn er nicht speziell sondern generell gefragt worden wäre. Außerdem meint er, daß es »nicht so« abhängig ist, also nicht in so hohem Grad sondern in geringerem. r manövriert unsicher weiter. Mehrmals gebraucht er das Wort »hergebracht«« und macht deutlich, daß »hergebracht« das ist, was er vorher unbewußt mit »üblen« meinte. Weil er mit einem bestimmt geprägten Begriff aufgewachsen ist, »stellt man sich das übliche vor«. Mit dieser Wendung beginnt er sich bereits davon zu distanzieren. Wenn »man sich persönlich fragt«, das heißt, wenn man die eigene zentrale Persönlichkeit angeht und nicht die Kastenperson, dann verwendet man das Wort »möglichst überhaupt nicht", weil es eben vom Standpunkt des Persönlichen her gesehen ungut ist.

Der darauffolgende Satz ist wieder sehr interessant: »Wenn es einem mitunter ausrutscht« (das heißt, wenn man sich nicht genügend kontrolliert) »sozusagen« (ein eigentümliches, wieder unsicher relativierendes Wort), kann es »natürlich auch" vorkommen, »daß man das übliche meint.« Der »antiquierte Begriff« kann heute, wo die »sozialen Wertungen in kolossalem Fluß sind« — das heißt, es bedeutet für die herkömmliche Wertung etwas Ungeheures, was sich heute vollzieht —, »Unheil anrichten«, das bedeutet wohl, abstoßend wirken, Ressentiments wecken, usw. Mit dem »guten Haus« wird »etwas postuliert«, »was gar nicht mehr den Tatsachen entspricht«. Schließlich setzt die Versuchsperson die entscheidenden Relativierungen: Das »gute Haus« von ehedem erfüllt nicht mehr seine Aufgabe, jemand aus »bescheidenen Verhältnissen« kann aus bestens geordneten Verhältnissen kommen. Hier verdichten sich zwei Gedankengänge: das gute Haus, wie es früher verstanden wurde, erfüllt nicht mehr seine Aufgabe, das »gute Haus« im heutigen Sinn erfüllt sie. Das »gute Haus« von ehedem kann schlecht geordnete Verhältnisse, das »gute Haus« von heute bestens geordnete haben. Das erstere ist ein »gutes Haus« im unwahren Sinn, während das heutige eines im wahren Sinn ist, das »seine Aufgabe« erfüllen wird, das zum entscheidenden Kriterium der Moralität wird.

Das innere ehrliche Ringen des Mannes zeugt von dem Versuch, einen Anpassungsprozeß zu vollziehen, alte Wcrtungs- skalen abzustoßen, neue zu gewinnen. Die Verbindung traditioneller Lebensform mit Moralität erscheint zweifelhaft, nachdem das traditionelle »gute Haus« seine Aufgabe oft nicht erfüllt hat. Das heißt, da es sich nicht in entsprechender Weise in der Gegenwart engagiert, sondern in der Vergangenheit steckenbleibt, muß es sich diese Abwertung gefallen lassen.

Wir erkennen also, daß die Verknüpfung der Vorstellung von Moralität mit andern »herkömmlichen« Wertungen als unglücklich und nicht mehr den realen Gegebenheiten entsprechend erlebt wird.

Unterkastigkeit ist nach den herkömmlichen Begriffen mit Unmoralität verbunden. Dies bestätigen viele Äußerungen. Wenn etwa 2/316 zu »dreckiger Prolet« assoziiert, »das is a ganz a gemeiner Mensch«, zielt er in diese Richtung. 2/407 durfte mit »Gassenkindern«, »schlimmen Kindern« nicht spielen. Auf »anständige« Familien wurde Wert gelegt, auf Familien, die dem »sozialen Stand entsprachen«. Und 2/102 erzählt:

»Mein mütterlicher Großvater hat es aufs strengste vermieden, seine Kinder - er war als junger Mensch Wagner und Hufschmied und hat es in ganz kurzer Zeit durch seinen außerordentlichen Fleiß zu einem Vermögen gebracht, und hat eine sogenannte kleine Fabrik betrieben —, und der hat es aufs strengste angeordnet, daß seine Kinder absolut nicht in den Betrieb hineinkommen solange sie noch klein waren, und daß sie mit den Lehrlingen und Arbeitern zusammenkommen, weil er es vermeiden wollte, daß die Leute, die ja bei dem Beruf an und für sich — Hufschmiede sind ja sicherlich etwas ... sind gröbere Gesellen und er wollte nicht haben, daß seine Kinder mit ihnen zusammenkommen. Es war so, daß der Werkhof abgesondert war vom Garten, und wenn die Kinder durchgehen mußten, hat er immer, er war sehr temperamentvoll, ist er wie eine Furie hingeschossen und hat sie hinausgeschmissen.«

Wir wollen hier nicht im Detail analysieren: die Kinder sollten »absolut nicht« in den Betrieb kommen. Der Großvater ist »wie eine Furie hingeschossen«, wenn sie doch einmal mit den Schmieden, die »ja sicherlich etwas . ..« sind, zusammenkamen. Die Moralität scheint nicht ausschlaggebend zu sein, denn es geht offenbar um ganz andere Dinge; aber sicherlich wurde die Trennungslinie mit der unmoralischen Infektion motiviert, die von den »gröberen Gesellen« ausgehen könnte. In welcher Weise die Versuchsperson affektiv Moralität versteht — nämlich als konservativen Standeskodex, der mit ihrem christlichen Bekenntnis gar nichts zu tun hat —, zeigt auch eine andere Aussage.

»Die Adeligen mokieren sich bestimmt, wenn die Leute sich nicht »anständig« benehmen. Aber das Einheiraten... da machen sie doch Unterschiede. Es gibt natürlich Leute, die enoim großzügig sind. Die Tochter von Kronprinz Rudolf zum Beispiel, die war von einer Skrupellosigkeit, die geradezu rührend war, und ihre Enkelin hat ja jetzt einen Tankstellenwärter, einen ganz ungebildeten, ich weiß nicht ob gebildeten oder ungebildeten, aber das ist direkt traditionsgemäß in dieser Linie. Es haben auch etliche Erzherzoginnen Bürgerliche geheiratet. Das ist aber alles durch den Umsturz gewesen.«

Aus diesen Worten geht zunächst nicht klar hervor, ob jene »Skrupellosigkeit« der Tochter von Kronprinz Rudolf deshalb »rührend« war, weil sie Verhältnisse mit Unterkastigen anfing. Doch dann hält die Versuchsperson auch jene Erzherzoginnen für »enorm großzügig«, die »Bürgerliche geheiratet« haben. Der »Umsturz« hat dies leider möglich gemacht. Eindeutig geht es hier nicht um die christliche Moral. Denn soll man das Gebot, das die Enkelin von Kronprinz Rudolf verpflichtet, keinen Tankstellenwärter (er ist ein Besitzer!) — »einen ganz ungebildeten, ich weiß nicht ob gebildeten oder ungebildeten« — zu heiraten (ob „sie gebildet oder ungebildet ist, ist unbekannt!), aus dem christlichen Liebesgebot ableiten?

Hier ist eine Gesellschaftsmoral am Werk, die mit der christlichen überhaupt nichts zu tun hat. Es handelt sich um einen Kastenkodex. Das soll nun nicht heißen, daß es keine echte Unmoral gäbe, doch muß man sich darüber im klaren sein, daß die üblichen Bezüge hier sehr verschoben sind. Gerade aber die falschen Moralitätswertungen hindern oft daran, die echte Unmoral auch bei den Unterkastigen zur Diskussion zu stellen.

Die angeführten Beispiele zeigen wohl eindeutig, daß die mangelnde Moral häufig nur als ein mehr oder weniger uneingestandener Vorwand zur Abkapselung von bestimmten Personenkreisen dient.

Dennoch spielt die Frage der Moralität in den Abschirmungstendenzen zweifellos eine gewisse Rolle, denn von verurteilten Verbrechern (abgesehen von Nobelverbrechern) distanziert mau sich gewöhnlich, allerdings auch mit bezweifelbarem Recht. Die moralische Einschätzung dient jedoch sicherlich auch zur Stützung von Zentralwerten der Kasten.