[{Image src='flocke064.jpg' align='right' width='500' caption='Ich hab als Siebzehnjähriger meine Kraft lieber auf der Rennstrecke eingesetzt, als auf einen Sportplatz.' height='375'}]
!!!Flocke: Alter Mann VIII
!!(Paradigmenwechsel)
von __[Martin Krusche|Kunst_und_Kultur/Volkskultur_und_Mythen/kru]__\\
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Nun war im Rückblick diese Markierung zu unterstreichen: der 60. Geburtstag. In unseren Breitengraden und mit dem hier möglichen Lebensstandard ist diese Geburtstag wie ein Portal zu einem essenziell neuen Lebensabschnitt.
Das variiert individuell und spätestens ab dem Fünfziger kündigt sich jene Laune der Natur deutlich an. Sie greift massiv verändernd auf unsere Körper zu. Ja, ich kenne die gängigen Sprüchlein, wonach ab dem Dreißigsten etc., während mir ganz schlaue Leute zurufen: Das Altern beginnt mit der Geburt.
Nehme ich sowas genau, darf ich festhalten: Es geht im mütterlichen Uterus mit der ersten Zellteilung los. Sie merken, ich neige zu sanfter Ironie. Larmoyanz ginge mir zu sehr auf den Geist. Ich versichere Ihnen, da werde ich keine Bitterkeit daruntermischen, auch kein Klagen.
Es käme mir so unpassend vor, denn klar ist, daß ich in unverschämt guter Verfassung dasitze, während sich mein siebzigstes Jahr rundet. Ich hab erstens bis dato meinem Körper ein paar Mal sehr viel aufgebürdet, abverlangt. Ich hab mich zweitens nicht gerade engagiert um Gesundheitsfragen gekümmert; am wenigsten um Sportlichkeit.
Ich bin der Sohn eines Kriegskrüppels. Sie kennen das Bonmot? Im Haus des Henkers spricht man nicht von Seil. Meine Sache war daher keinesfalls Körperertüchtigung, sondern Motorisierung. Aber nun ist klar, daß alle meine Reserven verbraucht sind, alle Gutschriften eingelöst wurden.
Das bedeutet unter anderem, ich muß in der Verständigung mit mir selbst ein paar Themen recht ernst nehmen, die ich bisher eher ignorieren durfte. Ich suche darüber auch die Verständigung mit anderen Menschen, mit Männern wie mit Frauen. Das gestaltet sich immer noch etwas zäh. Aber es kommt neuerdings voran.
Ich bestaune, daß es in dieser Sache ein überaus bewegtes Leben hinter Kulissen gibt. Noch vor wenigen Jahren wäre mir gar nicht eingefallen, daß am Offensichtlichen vieles nicht stimmt, beziehungsweise fehlt. Ich habe nun schon so viele Jahre mit Menschen zu tun, die zwischen Ende 50 und Anfang 90 sind. Erst jetzt erkenne ich durch Nachfragen, das ganz Alltäglich vorkommt, was man am Alltag an anderen Leuten nicht so leicht bemerken kann.
Ich nehme mich selbst als Beispiel. Dies ist die 45. Kalenderwoche 2025. Ich hatte endlich wieder eine ganze Serie sehr guter Nächte. Das bedeutet: In Summe gut sieben Stunden Schlaf mit jeweils maximal zwei Unterbrechungen. Ich kann aber nun nicht mehr, wie früher, meine Vorhaben mühelos durch den folgenden Tag ziehen, um dann abends zur Ruhe zu kommen. Auch nicht nach so guten Nächten.
Heute brauche ich nach einem ersten Set Arbeit von maximal fünf Stunden eine Pause, eventuell auch etwas Schlaf, denn dieser Durchgang kann mich so ermüden, daß ich manchmal wackelige Beine habe. Vorhaben für den Nachmittag oder Abend verlangen in der Anbahnung eine entsprechende Berücksichtigung.
Ich mußte erst herausfinden, daß dies altersgemäß ist, daß es anderen Leuten ebenso geht, daß daran nichts Ungewöhnliches ist. Im Fall meines Metiers übrigens dadurch gewürzt, daß ich – wenn es läuft – so produktiv bin wie nie zuvor. Meine Kopfarbeit trägt mühelos sehr weit, so lange sie mein Körper nicht in Ermüdung hüllt.
Endlich habe ich es nicht nur verstanden, sondern auch akzeptiert. Der Rückblick zeigt, daß ich spätestens im sechzigsten Jahr das neue Terrain betreten hab, um nun, im siebzigstens Jahr, diesen Paradigmenwechsel anzunehmen und mitzugestalten.
Ich mißtraue Menschen, die sagen: ''„Man baut ab.“'' Denn der Punkt ist: Man baut um. Die Kraft junger Leute ist dabei nicht mein Referenzsystem. Mein heute schon recht langes Leben ist der Bezugsrahmen.
Was dann aber euphemistisch als „Abbauen“ gedeutet wird und etwa der Anti-Aging-Branche ein Milliardengeschäft beschert, ist etwas ganz Anderes. Der Beginn meines Verlöschens, das sich als Prozeß zu meinem Tod hin entfaltet, falls mich nicht morgen irgendetwas aus dem Leben kegelt. Dieses nun greifbare Verlöschen soll ruhig Jahre dauern. Ich möchte es aber nicht kostümieren, bemänteln, verdecken.
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