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Barrikaden und Bücher #

Am Vorabend von Italiens nationaler Einheit, vor 150 Jahren, starb einer seiner größten Dichter: Ippolito Nievo. Seine Romane werden eben für den deutschen Sprachraum wiederentdeckt.#


Mit freundlicher Genehmigung der Wochenzeitung DIE FURCHE (März 2011).

Von

Oliver vom Hove


Foto: Die Furche
Foto: Die Furche

„Vor 150 Jahren waren die Italiener in Oberitalien nicht mehr bereit, sich auf ewig von den Österreichern regieren zu lassen.“#

Der Glaube muss etwas Unerschütterliches sein. Davon ist zumindest der Gerichtsschreiber Chirichillo in Venedig überzeugt, der felsenfest an die Seelenwanderung glaubt. Das gegenwärtige Dasein ist für ihn nichts als die Belohnung oder Buße für ein früheres Leben. Die Frage beharrlicher Zweifler, weshalb man sich denn an all die früheren, möglicherweise äußerst wechselvollen Aufenthalte hier auf Erden so gar nicht erinnern kann, pariert er gelassen mit dem Hinweis auf die höchst mangelhafte Beschaffenheit des menschlichen Gedächtnisses. Wer aber meint, darüber besserwisserisch lächeln zu müssen, erntet nur Chirichillos Nachsicht: Solch ein Ungläubiger ist sichtlich zur Strafe früherer Missetaten wiedergeboren worden.

Ippolito Nievo
Ippolito Nievo
Foto: Die Furche

Von sich selbst indessen glaubt der Schreiber zu wissen, dass er einst seinen letzten Auftritt auf der Lebensbühne als Kardinal absolviert hat. Seine jetzige Existenz als niederer Gerichtsskribent muss somit einem Fehltritt mit Folgen geschuldet sein, den er einst während eines Konklaves begangen hat. Indes, Chirichillo, der in dem Roman „Ein Engel an Güte“ gleichsam den Jolly Joker oder guten Geist der Titelheldin darstellt, setzt alle Hoffnung auf sein künftiges Leben: Ist er doch überzeugt, nach der nächsten irdischen Wiedergeburt den Glanz der Welt als Kaiser genießen zu dürfen. Und tatsächlich: „Ich kann ja nichts verbürgen“, berichtet der Erzähler am Ende des Romans über Chirichillos Tod im November 1768, „aber neun Monate später kam in Ajaccio Napoleon Bonaparte zur Welt.“

Bestrickend genaue Übersetzungen#

Der skurrile Gerichtsschreiber ist nur eine der zahlreichen, ebenso wundersamen wie unvergesslichen Figuren, die der großartige italienische Romancier Ippolito Nievo geschaffen hat. 150 Jahre nach seinem mysteriösen Tod im tyrrhenischen Meer ist dieser in seiner Heimat längst zum Klassiker erhobene Meister der subtilen Erzählkunst noch immer nicht beim deutschsprachigen Leser angekommen. Das könnte sich nun gründlich ändern: Im noblen Manesse Verlag sind Barbara Kleiners bestrickend genaue Übersetzungen jener beiden Hauptwerke erschienen, die der in Italien auch wegen seines Einsatzes für die nationale Einheit hochverehrte Dichter in seinem nur 29 Jahre kurzen Leben verfasst hat.

Denn vor 150 Jahren waren die Italiener in Oberitalien nicht mehr bereit, sich für immer und ewig von den Österreichern regieren zu lassen. Volksversammlungen, Protestmärsche, Aufstände machten schon seit Jahren der habsburgischen Besatzungsmacht schwer zu schaffen. Der 1831 geborene Ippolito Nievo, Sohn eines Advokaten und einer venezianischen Patrizierin, war bereits 1848/49 mit glühendem Herzen unter der Aufrührerschar, die in Sprechchören den Abzug der Habsburger forderten. In seiner Heimatstadt Mantua wurde er Zeuge, wie General Gorzkowsky, der Kommandant der Zitadelle, die österreichische Kavallerie gegenüber den Demonstranten in Stellung brachte. Später schloss sich Nievo der Befreiungsbewegung Garibaldis an und wurde einer ihrer führenden Strategen. Im Frühjahr 1860 zog er mit Garibaldis „Zug der Tausend“ nach Sizilien, um die Insel der Herrschaft der Bourbonen zu entwinden.

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Venedig, eine Stadt im Niedergang#

Vor allem aber hatte er sich bereits als Doktorand der Rechte in Padua ganz in den Dienst der patriotischen Aufgabe gestellt, als Erzähler den verlorenen Glanz der Republik Venedig in allen Farben der Literatur wieder erstrahlen zu lassen: „Am ersten Sonntag im Mai des Jahres 1749 gab es ein dichtes Gedränge von Gondeln an der Riva di San Pieretto: In der Abenddämmerung war der Kanal dann gänzlich verstopft, Ruder wirbelten durcheinander, Bug stieß an Bug, Rufe schollen von Boot zu Boot, kurzum, es herrschte ein Tumult, wie ihn nur die Bootsführer von Venedig zu veranstalten wissen.“

So beginnt Nievos Romanerstling „Ein Engel an Güte“, der 1856 erstmals erschien. Freilich: Sein Venedig der Mitte des Settecento ist unverkennbar eine Stadt im Niedergang. Der Inquisitor Formiani, Statthalter der Macht in der Dogenrepublik, stemmt sich mit der ganzen verbleibenden Kraft seines über siebzigjährigen Lebens dem urbanen Verfall entgegen. Indes, auch im damaligen Venedig war der Vermählungswunsch alter Männer mit jungen Frauen beliebt, mit allen Nachwirkungen wie Lendenschwäche und Pflegebedürfnis im Greisenstand. Ausschließlich für Samariterdienste versichert sich Formiani durch Heirat der engelhaften Güte seiner Patentochter Morosina, ohne indes ihrer liebevollen Zuneigung zu ihrem Jugendfreund Celio Schranken setzen zu wollen. Morosina aber legt, als Gattin des Staatsinquisitors, selber diese Schranken fest: Ehre stellt sie über Eigennutz, eheliche Treue über Leidenschaft, Barmherzigkeit über Leichtsinn. Ihre tugendsame Langmut wird schließlich belohnt: Nach Formianis Tod gründet sie mit Celio eine kinderreiche Familie.

War Morosina noch, nach dem Vorbild der Lucia in Alessandro Manzonis berühmtem Klassiker-Roman „Die Verlobten“, wahrhaft „Ein Engel an Güte“, so erscheint Pisana, die kapriziöse Heldin in Nievos zentralem Erzählwerk „Bekenntnisse eines Italieners“, vollends als Liebesengel, der kraft der ungezügelt eingesetzten Verführungsmacht von Schönheit, Ehrgeiz und Leidenschaft aller Männerwelt den Kopf verdreht. Auch der Ich-Erzähler Carlo Altoviti ist Pisana seit gemeinsamen Jugendzeiten verfallen. Als Achtzigjähriger blickt er auf eine lebenslange Liebestollheit zurück und den Leser fesselt gleich ihm die so beherrschende wie unberechenbare Gestalt der Pisana als eine der betörendsten Frauenfiguren der Weltliteratur. Venedigs Historie seit dem ancien régime bildet bei dieser Entwicklungsgeschichte einer großen, auch zerstörerischen amour fou die aufrüttelnd vorrevolutionäre Gesellschaftskulisse.

Reichtum des Wortschatzes#

4. 3. 1861 Vor 150 Jahren, am 4. März 1861, schiffte sich der von Garibaldi als Finanzstatthalter in Sizilien eingesetzte Nievo in Palermo ein. Doch der alte Dampfer kam nie in Neapel an … Knapp zwei Wochen später, am 17. März 1861, wurde Viktor Emanuel II. von Sardinien zum König von Italien proklamiert., Foto: ANRVG/Associazione Nazionale Reduci e Veterani Garibaldini (3)
4. 3. 1861 Vor 150 Jahren, am 4. März 1861, schiffte sich der von Garibaldi als Finanzstatthalter in Sizilien eingesetzte Nievo in Palermo ein. Doch der alte Dampfer kam nie in Neapel an … Knapp zwei Wochen später, am 17. März 1861, wurde Viktor Emanuel II. von Sardinien zum König von Italien proklamiert.
Foto: ANRVG/Associazione Nazionale Reduci e Veterani Garibaldini (3)

Ein ruhig zwischen den Ufern Romantik und Realismus dahinfließender Erzählstrom, ausgreifend und zuweilen in allerlei Seitenarme und Erzählbuchten abdriftend: Barbara Kleiners Übersetzung gibt die elegante Struktur von Nievos Erzählbau ebenso kongenial wieder wie den Reichtum des Wortschatzes und des Autors frühvollendete Kunst, in überraschungsreichen Beschreibungen farbenprächtige pastorale Landszenen der Terraferma und unübertreffliche venezianische Stadtveduten entstehen zu lassen.

Das junge, so vielversprechende Leben des Erzählers indes endete tragisch: Am 4. März 1861, als die Einigung Italiens bevorstand, schiffte sich der von Garibaldi mittlerweile als Finanzstatthalter in Sizilien eingesetzte Nievo in Palermo zur Überfahrt nach Norden ein. Doch der alte, morsche Dampfer „Ercole“, den er bestiegen hatte, kam nie in Neapel an, blieb verschollen: mutmaßlich versunken in der stürmischen See vor Ischia. Nicht einmal zwei Wochen später, am 17. März 1861, wurde Viktor Emanuel II. von Sardinien zum König von Italien proklamiert. Venedig freilich, dem Nievos unerschütterliche Liebe gegolten hatte, wurde erst 1866 dem italienischen Nationalstaat zugeschlagen.

Und Italien heute? Wer sich dort beispielsweise bei einem standesbewussten Figaro zum Haareschneiden niederlässt, der mag etwa erleben, wie ein leichtsinniger Lehrbub beim Versuch, ein Kreuzworträtsel zu lösen, den Namen des Erschaffers von Pisana mit fünf Buchstaben nicht kennt, weshalb ihm der empörte Zuruf des Meisters in die Ohren fährt: NIEVO, du Bengel! So ehrt ein noch immer stolzes Volk seine unsterblichen Dichter.

DIE FURCHE (März 2011)