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GEDENK-ZEITEN#

Jänner 2010

Wir leben heute in einem gesellschaftlichen Umfeld einer immer dichter werdenden Erinnerungskultur. Wir feiern Jubiläen und Gedenktage. Wir erleben Gedenk- und „Bedenk“- Jahre. In Fortführung dieser Begrifflichkeit wird uns ein „Gedankenjahr“ verordnet. In Anlehnung an lebensgeschichtliche Zäsuren ist von „Geburtstagen“ bzw. „Namenstagen“ unserer staatlichen Gemeinschaft die Rede. Gedenk-Zeiten umgeben uns auf Schritt und Tritt in einer bisher noch nicht da gewesenen Vielfalt und Häufigkeit. Solche Gedenk-Zeiten betreffen das Phänomen Zeit in zweifacher Hinsicht – zunächst als Rückerinnerung an historische Zeiten, dann als zeitlicher Abstand, nach dem zurückerinnert wird bzw. zurückerinnert werden soll. Man spricht in diesem Zusammenhang oft von einem - vermeintlichen – „Zwang der runden Zahl“. Es kann kein Zweifel bestehen, dass diese quantitativ anwachsende und qualitativ sich ausdifferenzierende Erinnerungskultur unser Geschichtsbewusstsein beeinflusst – und mit unserem Geschichtsbewusstsein auch unsere Identität. So ist es sicher angebracht, über die Geschichte unserer Erinnerungskultur nachzudenken, um sie in der Gegenwart besser zu verstehen. Darum soll es in den folgenden Überlegungen gehen.

Das Jahr 2009 ist vor wenigen Tagen zu Ende gegangen. Hinsichtlich des Gedenkens an Personen und Ereignisse der Vergangenheit, hinsichtlich des Feierns von Geschichte war es keineswegs ein Ausnahmejahr. Eine eher zufällige Auswahl solcher Gedenk-Zeiten kann zeigen, dass neben viel Traditionellem dabei auch manches Unerwartete und Widersprüchliche zu finden ist.

Ganz der Tradition verbunden verlief das Haydn- bzw. das Schillerjahr 2009. Wie üblich blieb die Gedenkzeit nicht auf den Todes- bzw. Geburtstag beschränkt. Es wurde das ganze Jahr hindurch gefeiert. Und die Aufführung von Werken großer Komponisten und Dichter lässt das Wort „Jubel“, das in „Jubiläum“ steckt, durchaus angemessen erscheinen. – Das Paulus-Jahr begann schon am 28. Juni 2008 und endete bereits am 29. Juni 2009. Die Gedenk-Zeit erfasste hier also im Jahresabstand den Zeitraum zwischen zwei Gedenktagen an das Martyrium des Völkerapostels – nach der Konzeption katholischer Lehre seines „Geburtstags für den Himmel“. Dass der 2000. Geburtstag des heiligen Paulus den Anlass bot, wie es offiziell seitens des Vatikan hieß, war einerseits eine Anpassung an säkulare Jubiläumsbräuche, andererseits eine „invention of tradition“ – eine Erfindung von Überlieferung. Über die Geburt von Saulus/Paulus gibt es keinerlei gesicherte historische Information. Die Durchführung dieses Paulus-Jahres wurde im Wesentlichen nach dem Vorbild der Heiligen Jahre der Katholischen Kirche gestaltet: „Alle Gläubigen, die wirklich bußfertig, durch das Bußsakrament gereinigt und durch die heilige Kommunion gestärkt sind sowie ergeben in der Basilika Sankt Paul vor den Mauern und nach Meinung des Papstes beten, können demnach einen vollkommenen Ablass erlangen, der auch den armen Seelen im Fegefeuer gewidmet werden kann“. - Zum Unterschied vom Geburtstag des heiligen Paulus scheint der des großen Reformators Johann Calvin gesichert, dessen 500. Wiederkehr 2009 gefeiert wurde – auch in diesem Fall ein ganzes Jahr hindurch. Anders als auf internationaler Ebene fand dieses Jubiläum in Österreich keine allzu große Beachtung. – Eher als Kuriosität sei noch ein anderes 500-Jahr-Jubiläum des vergangenen Jahres erwähnt, nämlich das der Krönung König Heinrichs VIII. von England. „Die Presse“ titelte aus diesem Anlass: „Henry’s Desperate Housewifes. Sechs Frauen waren mit dem Womanizer Heinrich VIII. verheiratet – alle unglücklich: Drei starben für den berüchtigten Herrscher, zwei verloren auf seinen Befehl hin ihren Kopf, nur eine überlebte ihn, starb aber an Syphilis.“ Auch das ist heute eine mögliche Form, ein Jubiläum zu begehen: Geschichte im Stil von BoulevardJournalismus erzählen. – Das Gedenken an den Aufstand der Tiroler unter Andreas Hofer von 1809 ist im österreichischen Geschichtsbewusstsein fest verankert. Auch 2009 wurde der Anlass festlich begangen. Überraschend war allerdings die neue Ausrichtung der Feier. Tirols Landeshauptmann äußerte sich dazu in folgender Weise: „Im 200. Gedenkjahr des Aufstands unter Andreas Hofer will das Land bewusst nach vorn schauen. Entsprechend dem Motto ‚Geschichte trifft Zukunft’ wollen wir aber nicht nur unsere gemeinsame Geschichte erinnern, sondern auch unsere Stärken und Potenziale von heute aufzeigen.“ Ein solcher Aktualitätsbezug ist ja sicher eine gute Sache. Aber wie passt er zu Andreas Hofer? Jubiläumsgeschichtlich können wir hier eine deutliche Kehrtwendung beobachten. – „Deutschland hat Geburtstag!“ hieß es 2009 in unserem Nachbarland: „Deutschland feiert zwei große Jubiläen: vor 60 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland geboren – vor 20 Jahren ist die Mauer, die Berlin lange Jahre in zwei Teile zerschnitten hat, gefallen.“ Kann ein Staat in derselben Weise einen Geburtstag haben wie ein Mensch? Der Begriff „Geburtstag“ wird neuerdings oft metaphorisch vom individuellen Menschenleben auf die Geschichte größerer Gemeinschaften übertragen. Dem ist entgegenzuhalten: Persönliche Identität aus Geschichte ist etwas grundsätzlich anderes als staatliche. Wie weit persönliches Erleben und gesamtstaatliche Bedeutsamkeit auseinander liegen können, das ist gerade in den zahlreichen Zeitzeugenberichten deutlich geworden, die aus Anlass des Mauerfall-Jubiläums ausgestrahlt wurden. – Zu einem Gedenken besonderer Art führte im Vorjahr die Erinnerung an das Massaker am Tian’anmen-Platz vor 20 Jahren. In aller Welt wurde der Jahrestag memoriert. Im betroffenen Land selbst war das streng verboten. Nur wenige wagten es, aus diesem Anlass zu demonstrieren. Sich an Gräueltaten zu erinnern, lässt sich mit dem Begriff „Jubiläum“ wohl kaum in adäquater Weise erfassen. Unsere Memorialkultur erweitert sich zunehmend über Jubelanlässe im engeren Sinn hinaus. Mit Begriffen wie „Gedenktage“ oder „Gedenkzeiten“ können wir versuchen, dieser Ausweitung Rechnung zu tragen. – Ob die Terrororganisation ETA ihre Anschläge Ende Juli 2009 als „Jubiläum“ verstanden hat, darüber wissen wir nichts. Die Medien ordneten sie in dieser Weise ein. „Die baskische Separatistenorganisation ETA ist offenbar fest entschlossen, ihr 50jähriges Bestehen mit Terroranschlägen zu feiern“ hieß es in einer österreichischen Tageszeitung. Das Feiern im Zeitabstand von runden Jahren ist uns wohl schon so selbstverständlich geworden, dass wir selbst bei explodierenden Sprengsätzen an Jubiläen denken. Es gab Medien, die sogar noch zum 5. Jahrestag des Tsunami in Südostasien am 26. Dezember des vergangenen Jahrs von einem „Jubiläum“ sprachen, allerdings mit dem Zusatz „traurig“ oder „makaber“.

Schon zu Beginn des vergangenen Jahres wurde eine Liste unter dem Titel „Jubiläen und Gedenktage 2009“ publiziert. Sie stützt sich auf ein 1990 erschienenes Werk „Der große Kulturfahrplan. Die wichtigsten Daten der Weltgeschichte“. Von der Gegenwart rückwärtsschreitend wurden in dieser Gedenktagsliste als bedeutsam eingestufte Ereignisse der Vergangenheit angeführt – streng nach Zeitdistanzen von 10, 25, 100 Jahren und deren Vielfachen geordnet. Wer Jubiläen feiern wollte, fand da eine große Vielzahl von Anlässen in bunter Vielfalt vor. Als erinnerungswürdige Ereignisse vor 10 Jahren, also 1999, finden sich hier etwa nebeneinander der Rücktritt des deutschen Finanzministers Oskar Lafontaine und die im 18. Versuch gelungene Ballon-Weltumrundung erwähnt – von den Autoren offenbar in gleicher Weise als jubiläumswürdig angesehen. Für 1989 heißt es in unmittelbarer Abfolge: „Ceausescu erschossen“ und „Ajatollah Chomenej belegt Salman Rushdie mit Mordbefehl“, für 1979 „Vatikan entzieht Hans Küng die kirchliche Lehrerlaubnis“ und „Nicaragua: Sieg der Sandinisten über Diktator Somoza“. Der Katalog solcher Beliebigkeiten ließe sich fortsetzen. Was soll man bei allen diesen „Jubiläen und Gedenktagen“? Jubeln? Feiern? Gedenken? Trauern? Wer soll das, und warum? Ein solcher „Kulturfahrplan“ von Jubiläen hinterlässt wohl primär Ratlosigkeit und Verärgerung. Kann auf diesem Weg ein sinnvoller Zugang zur Bedeutsamkeit von Vergangenheit für die Gegenwart erschlossen werden?

Geschichte wird so auf bloße Ereignisgeschichte reduziert, diese wiederum in zusammenhanglose Detailbilder parzelliert. Das einzige, was ein solches Zerrbild von Geschichte vermittelt, ist der nahezu magische Glaube, an die Bedeutsamkeit der „runden Zahl“ im Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit.

Woher kommt diese Vorstellung eines „Zwangs der runden Zahl“? Wieso ist sie in unserer europäischen Memorialkultur so stark mit Jubiläen und Gedenktagen verbunden? Handelt es sich dabei um eine anthropologische Konstante, die Epochen und Kulturräume umspannend Geltung beanspruchen darf? Eine historische Analyse von Entstehung und Entwicklung der europäischen Gedenk-Zeiten spricht klar gegen eine solche Annahme. Relativiert man unsere traditionelle Memorialkultur aus ihrem historischen Gewordensein, so ermöglicht das, mit den überlieferten Formen von Jubiläen und Gedenktagen offener und ohne vermeintliche Zwänge umzugehen. Um solche Einsichten zu gewinnen, erscheint es notwendig, weit in die Vergangenheit zurückzublicken.

Zwei Entwicklungsstränge gilt es dabei zu verfolgen. Sie seien mit den Stichworten „Anniversarium“ und „Jubiläum“ charakterisiert. Anniversarium meint den jährlich wiederkehrenden Gedenktag, Jubiläum den in größeren Zeitabständen gefeierten, der auch ein ganzes Gedenkjahr prägend bestimmen kann. Beide gehören – historisch-genetisch betrachtet – zusammen. Beide wurzeln letztlich in der jüdisch-christlichen Sakralkultur. Der interkulturelle Vergleich zwischen Religionsgemeinschaften der Vergangenheit und der Gegenwart zeigt, dass es sich beim Feiern von historischen Anlässen zu bestimmten „heiligen Zeiten“ keineswegs um ein allgemein verbreitetes religiöses Grundphänomen handelt. Es hängt mit der spezifischen Bedeutung des Sich-Erinnerns in einer Religionsgemeinschaft zusammen, ob - und wenn ja - in welcher Form sich eine historisch orientierte Festkultur ausbildet. Im Christentum kommt der Erinnerung an Heilsgeschehen in der Vergangenheit ein hoher Stellenwert zu. Sehr treffend wurde diese Eigenart als „Memorialcharakter des Christentums“ charakterisiert. In dieser Eigenart hat die gesamte europäische Memorialkultur – durchaus auch noch in säkularisierten Formen – ihre maßgebliche Wurzel. Das Konzept der Heilsgeschichte – und damit eine besondere Kultur der religiös-historischen Erinnerung – ist Christentum und Judentum gemeinsam. Während sich im Christentum diese Erinnerungskultur zunächst auf die Lebensgeschichte des Erlösers beschränkt, erfasst sie im Judentum die Geschichte des „auserwählten Volkes“ in ihrer Gesamtheit. Der Gedanke eines Bündnisses zwischen Gott und seinem Volk führt hier zu einer Theologisierung der Geschichte. Dementsprechend ist der Festkalender des Judentums sehr stark von religiösen Gedenkzeiten geprägt, die sich auf historische Ereignisse beziehen: Pessach als Erinnerungsfest an den Auszug aus Ägypten, Schawuot in Erinnerung an die Gesetzgebung auf dem Berg Sinai, später dann das Chanukka-Fest, bei dem man der Reinigung des von den Syrern entweihten Tempels durch Judas Makkabäus im Jahre 164 v. Chr. gedachte, der Nikanor-Tag, der an den Sieg des Judas Makkabäus über den syrischen Feldherren vier Jahre danach erinnerte, oder das Purim-Fest, bei dem die persischen Juden die Errettung vor den Anschlägen des Haman durch Esther und Mordechai feierten. Insbesondere beim Purim-Fest handelte es sich um einen ausgesprochenen Freudentag. Den gegenteiligen Charakter hatte der Trauertag am 9. Tag des Monats Aw, der an die Zerstörung des ersten Tempels durch Nebukadnezar II. im Jahr 586 v. Chr. erinnerte. Mit diesen an historischen Anlässen orientierten jüdischen Festen erscheint in wesentlichen Zügen die spätere Typologie europäischer Gedenk-Zeiten vorgezeichnet. Vor allem in den letzten beiden vorchristlichen Jahrhunderten setzten sich solche ereignisbezogene Gedenktage in der jüdischen Festkultur durch.

Am Anfang des christlichen Erinnerns an Festtagen steht das wöchentliche Gedenken, nicht das im Jahresabstand wiederkehrende, und schon gar nicht das Feiern von Geschichte über größere zeitliche Distanzen, wie es dem modernen Jubiläum zugrunde liegt. Die Gemeinde trifft sich am ersten Tag der Woche – am Sonntag als dem „Tag des Herrn“, an dem sie seine Auferstehung feiert. Der Sonntag ist der christliche Fest- und Gedenktag schlechthin. An ihm wird die Eucharistie als Gedächtnismahl gefeiert – nach dem Bericht der Evangelien beim Letzten Abendmahl von Jesus zu seinem Gedenken gestiftet. Das Gedenken der Auferstehung Jesu bestimmt dann im Christentum auch die Anfänge der jährlichen Gedenkzeiten. Das älteste im Jahreszyklus begangene Hochfest ist Ostern. Andere Erinnerungsfeste an das Erlösungsgeschehen schließen an. Auf das Leben Jesu bezogene, jährlich gefeierte Anniversarien bilden die Grundstruktur des christlichen Festkalenders. Mit den Anfängen der Heiligenfeste, die bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. zurückreichen, kommt ein neuer Typ von Anniversarien hinzu. Nicht nur das Leben Jesu allein ist nun heilsgeschichtlicher Bezugspunkt der christlichen Gedenkkultur. Auch die Todestage der Märtyrer – als deren Geburtstag für den Himmel gedeutet – und später auch die der Bekenner werden im Jahresrhythmus gefeiert. Dasselbe gilt für die Kirchweihfeste der großen Hauptkirchen im Heiligen Land und in Rom, die im vierten Jahrhundert entstanden. Der Rahmen der jährlich begangenen Gedenkanlässe weitet sich aus, er bleibt aber auf Heilsgeschichte in einem sehr umfassenden Verständnis beschränkt. Der Weg vom heilsgeschichtlichen zum politischen Gedenkfest war weit. Entscheidende Schritte auf diesem Weg wurden im byzantinischen Kaiserreich vollzogen. Den Heiligenfesten kam dabei eine wichtige Vermittlerfunktion zu. Besonders früh, nämlich schon im 7. Jahrhundert, feierte man in Byzanz Herrschersiege mit jährlichen Dankfesten an Heilige. Es lag dabei die Vorstellung zugrunde, dass ein militärischer Erfolg der Hilfe des jeweiligen Tagesheiligen zu verdanken sei, der an seinem Festtag nach dem Glauben der Zeit über besondere Kraft verfügte. So konnte sich im Rahmen christlicher Heiligenverehrung eine politische Gedenktagskultur entwickeln. Vom byzantinischen Reich übernahmen die italienischen Seerepubliken dieses Modell. Die Pisaner erfochten im 11. Jahrhundert mehrere bedeutende Seesiege am 6. August, dem Festtag des heiligen Sixtus. Zu seinen Ehren errichteten sie im Zentrum der Stadt eine Kirche und begingen jährlich seinen Festtag mit großen Feiern. In Venedig entwickelte sich auf der Grundlage der kirchlichen Heiligenkalenders eine elaborierte Staatsliturgie, in der das politisch-historische Gedenken immer stärker in den Vordergrund trat. Die Markusrepublik wurde diesbezüglich für andere italienische Staaten zum Vorbild. Aber auch in der Schweiz und in Deutschland finden sich bereits im Spätmittelalter Schlachtengedenktage an den Festtagen von Heiligen als eine weit verbreitete Erscheinung. Gelegentlich trat schon damals das Heiligengedenken völlig in den Hintergrund. Damit zeichnet sich eine Form des Feierns von Geschichte ab, wie sie in den National- und Staatfeiertagen der Moderne uns vertraute Züge annimmt. Sowohl im historischen Bezugspunkt – Siege, Erlangung der Unabhängigkeit oder andere für die Existenz des Gemeinwesens grundlegende Ereignisse – als auch in der Durchführung der Festveranstaltungen sind bei solchen säkularen Anniversarien deutliche Zusammenhänge mit ihren religiösen Vorläufern erkennbar.

Zum Unterschied vom Anniversarium, dem jährlich wiederkehrenden Gedenktag, war das Jubiläum als historisches Erinnerungsfest dem Mittelalter fremd. Das verdient besondere Erwähnung, weil unser Begriff „Jubiläum“ aus dem Mittelalter stammt und auch mit einer Zeitspanne verbunden ist, die bis heute für die Abstände zwischen Jubiläumsfeiern wichtig ist. Um historisches Gedenken ging es allerdings damals nicht. Im Jahr 1300 erließ Papst Bonifaz VIII. eine Bulle, durch die er dieses Jahr zum „annus iubilaeus“, also zum Jubeljahr, erklärte. Es sollte die Gelegenheit geben, unter bestimmten Bedingungen in Rom den Nachlass der Sündenstrafen zu gewinnen. Aus diesem speziellen Gnadenjahr entstand das Heilige Jahr der römischen Kirche. Mit der Bezeichnung „annus iubilaeus“ knüpfte Bonifaz an das biblische Vorbild des Jubeljahres an, das sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament begegnet. Im Buch Levitikus (25, 8-10) heißt es: „Du sollst sieben Jahreswochen, siebenmal sieben Jahre, zählen; die Zeit von sieben Jahreswochen ergibt für dich neunundvierzig Jahre. Im siebenten Monat, am zehnten Tag des Monats, sollst du das Signalhorn ertönen lassen; am Versöhnungstag sollt ihr das Horn im ganzen Land ertönen lassen. Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr.“ Und weiter (12): „…es ist ein Jubeljahr, es soll euch als etwas Heiliges gelten.“ Das Widderhorn, mit dem in jedem 50. Jahr die heilige Zeit angekündigt wurde, hieß „jobel“. Von ihm ist die Bezeichnung „Jobeljahr“, „Jubeljahr“ bzw. Jubiläum“ abgeleitet. Das Zeitintervall von 50 Jahren lebt in den Abständen moderner Jubiläen fort. Es leitet sich nicht aus dem Dezimalsystem ab, sondern aus einem Siebenerschema, dem die Heiligkeit des Sabbats zugrunde liegt und das damit letztlich auf den Schöpfungsbericht zurückgeht. Obwohl Papst Bonifaz sich auf das biblische Jobeljahr berief, hatte sein Jubeljahr einen ganz anderen Charakter. Es ging um die Gewährung einer besonderen Form des Ablasses. Mit dem Feiern von Geschichte hatte ursprünglich weder das eine noch das andere zu tun.

Wesentliche Wurzeln für das Entstehen von Jubiläen in unserem heutigen Verständnis gehen auf das Zeitalter der Reformation zurück. Vom jährlich gefeierten Reformationsfest – also einem Anniversarium, das an den Ursprung des erneuerten Glaubens erinnert – führt eine direkte Entwicklungslinie über das nach 50 bzw. 100 Jahren gefeierte Reformationsjubiläum zu den nationalstaatlichen Jubiläen der Moderne. Die Bezeichnung „Jubiläum“ verweist auf die biblischen Vorbilder, stellt aber wohl auch einen Zusammenhang zu den römischen Jubeljahren her. Diese wurden im Spätmittelalter von den Päpsten nicht regelmäßig nach 50 Jahren ausgerufen. Einmal wurde ein Intervall von 100 Jahren bis zum nächsten Jubeljahr festgelegt, das aber nicht eingehalten wurde, dann wieder eines von 33 Jahren entsprechend der Lebenszeit Christi. Schließlich setzte sich der Abstand von 25 Jahren als die Hälfte von 50 für die Heiligen Jahre der römischen Kirche durch. Ausschließlich aus dieser Tradition lässt sich allerdings das Aufkommen historischer Jubiläen im Protestantismus seit dem 16.Jahrhundert sicher nicht erklären. Zumindest drei Faktoren dürften hinzugekommen sein: Zunächst die Verbreitung des Rechnens nach dem Dezimalsystem in immer mehr Lebensbereichen während des Spätmittelalters. Dann ein neues Denken in Zeiteinheiten von hundert Jahren, denen das Aufkommen der neuen Begriffe „centuria“/century bzw. „Jahrhundert“ entspricht - vielleicht aus Einflüssen des Humanismus erklärbar. Schließlich die Historisierung von Religion in den protestantischen Konfessionen durch ihre Rückbesinnung auf heils- und kirchengeschichtliche Anfänge, wie sie vor allem in den seit 1559 publizierten „Magdeburger Zenturien“ zum Ausdruck kommt. Die Vorstellung, im christlichen Erlösungswerk einen neuen Anfang gesetzt zu haben, bestimmte – sehr zum Unterschied von den Heiligen Jahren der Päpste – die protestantischen Jubiläen. Sie konnten auf Ereignisse bezogen sein wie den Thesenanschlag von Wittenberg oder den Augsburger Religionsfrieden, ebenso aber auch auf Personen wie den Reformator Luther oder den als Vorläufer der Reformation verstandenen Erfinder des Buchdrucks Johann Gutenberg. Sowohl die Feier von Ereignissen als auch die von Personen wurde bis in die Moderne fortgesetzt. In den protestantischen Ländern kam dem Landesfürsten die Kirchenhoheit zu, und damit – anders als in den katholischen – die Festsetzung von religiösen Festen. Unter dem Einfluss von dynastischen und dann auch von nationalen Interessen kam es hier früher zu einer Verweltlichung des Festkalenders. Anniversarien und Jubiläen waren davon in gleicher Weise betroffen. Unterschiede zwischen ihnen hatten keine grundsätzliche Bedeutung. In größeren zeitlichen Abständen wurden allerdings die jährlich gefeierten Anlässe noch festlicher begangen. Auch die Grenzen zwischen religiöser und politischer Bedeutsamkeit solcher Feiern waren fließend. Symptomatisch dafür ist etwa das Wartburgfest von 1817, bei dem das 300-Jahr-Jubiläum der Reformation und zugleich der vierte Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig gefeiert wurde. Es ging also in doppelter Weise um einen „heiligen Anfang“ – den der erneuerten Religion und den der von der Fremdherrschaft befreiten Nation. Aus heilsgeschichtlich-christlichen Wurzeln kommend setzt sich dieses Feiern des „heiligen Anfangs“ wie ein Leitmotiv in den Gedenktagen und Jubiläen des nationalistischen Zeitalters fort. Nur die Ereignisse, auf die man sich jetzt bezieht, sind andere: Freiheitskampf, Revolution, Proklamation der Verfassung. Ebenso stehen die historischen Gedenkfeste in Erinnerung an bedeutsame Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Geistesleben in der heilsgeschichtlichen Tradition des Heiligenkults. Solche Kontinuitätszusammenhänge beantworten uns die Frage: Warum feiern wir Geschichte? Jubiläen und historische Gedenktage haben ihren Ursprung im religiösen Fest. Spezifische Gestaltungsformen des religiösen Feierns leben in ihnen auch noch in säkularisierter Form weiter. Bei religiösen Festen aber steht – vereinfacht gesprochen – nicht rationaler Diskurs und wissenschaftliche Analyse im Vordergrund – sondern emotionales Erleben. Geschichte denken und Geschichte feiern stellen zwei Formen des Umgangs mit Vergangenheit dar, die nur schwierig miteinander zu vereinbaren sind.

Elemente des religiösen Feierns leben in der europäischen Gedenkkultur sehr lange weiter. Das gilt vor allem für das Kernstück christlicher Liturgie, nämlich die Eucharistiefeier. Ob evangelisch oder katholisch – der Festgottesdienst stand bis weit ins 20. Jahrhundert hinein im Mittelpunkt des Festablaufs von Jubiläen und Gedenktagen. Die aus der Festpredigt weiterentwickelte Festansprache gehört auch in diesen Zusammenhang. Festspiel und Theater, die ebenfalls auf christlich-liturgische Wurzeln zurückgehen, konnten hinzukommen. Das liturgische Element der Hymne bietet in der Moderne die Grundlage für die Nationalhymne. Kaum eine andere Form bringt die Weihestimmung des Feierns von Geschichte so sinnenfällig zum Ausdruck wie das gemeinsame Singen von Hymnen. Im 19. Jahrhundert spielten bei Jubiläen historische Festzüge eine große Rolle, die auf das christliche Prozessionswesen zurückgehen. Alle diese Ausdrucksformen waren geeignet, eine sakrale Feierstimmung zu bewirken. Mit der Säkularisierung und Nationalisierung der historischen Gedenkkultur wurde solches Instrumentarium der Stimmungsbildung auf neue Inhalte bezogen.

In dieser Tradition stehende Jubiläen und Gedenktage hatte ich vor Augen, als ich im Jahr 1982 eine grundsätzliche Kritik an überkommenen Formen des Feierns von Geschichte aus solchen Anlässen publizierte. Obwohl in einer kleinen Lehrerfortbildungszeitschrift veröffentlicht, hat dieser Artikel damals sogar vom „Osservatore Romano“ eine scharfe Gegenäußerung zur Folge gehabt. Unmittelbarer Anlass war die bevorstehende 300-Jahr-Feier der Befreiung Wiens 1683 verbunden mit Papstbesuch und Katholikentag. Ich erwähne die kritischen Überlegungen von damals, weil sie inzwischen selbst historisch sind. In Gegenüberstellung zu den eingangs genannten Jubiläen und Gedenktagen von 2009 zeigen sie einen deutlichen Wandel der Gedenktagskultur innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne. Manche der damaligen Kritikpunkte haben allerdings – so meine ich – bis heue nicht ihre Aktualität verloren.Ein erster Kritikpunkt betrifft die Möglichkeit, durch das Feiern von Jubiläen Bewusstsein zu manipulieren. Die Gestaltung von öffentlichen Gedenktagen wird von den jeweiligen Machthabern in Auftrag gegeben. Sie können die bei den Festveranstaltungen vermittelten Geschichtsbilder nach ihren Interessen beeinflussen. Von den Anfängen der historischen Jubiläen an lassen sich solche Tendenzen verfolgen. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Vergangenheitspolitik“ bzw. von „Geschichtspolitik“. Die in Anschluss an die Türkenbelagerung von 1683 gefeierten Jubiläen sind ein anschauliches Beispiel dafür. 1783 wurde verkündet, wie damals vor 100 Jahren gegen die Türken müsse man heute gegen die Aufklärer kämpfen, 1883 gegen die Liberalen, 1933 allgemein gegen die „Feinde aus dem Osten“ , was sich eher auf die Bolschewiken als auf die Türken bezog. Aber das kann sich sehr rasch wieder ändern. Solche Übertragungen lassen den Satz berechtigt erscheinen, dass manche Jubiläen mehr über die jeweilige Gegenwart der Feiernden aussagen als über die gefeierte Vergangenheit.

Der zweite Kritikpunkt betrifft das statische Geschichtsbewusstsein, das durch die Feier von Jubiläen bewirkt wird. Das stereotype Leitmotiv von Jubiläumsfeiern ist die Formel: „So wie damals so auch heute“. Es wird den Feiernden zur Aufgabe gemacht, einen überzeitlich gleich bleibenden historischen Auftrag zu erfüllen, einer Sendung gerecht zu werden, eine Mission zu erfüllen. Aus der Tradition von heilsgeschichtlichem Feiern sind solche Formulierungen erklärbar. Diesen lag ja das Konzept eines überzeitlich gleich bleibenden religiösen Auftrags zu Grunde – etwa bei den Festen des christlichen Kalenders oder bei den Reformationsjubiläen. In einer säkularen Gedenkkultur sind sie aber wohl nicht mehr am Platz. Sie bedeuten vielleicht in der jeweiligen Gegenwart noch ein politisches Postulat, keinesfalls aber eine wissenschaftlich ableitbare „Lehre aus der Geschichte“. Sie gehören in den Kontext des Geschichte-Feierns, nicht des Geschichte-Denkens. Das Resultat eines solchen Feierns ist eine strukturell konservative Grundhaltung, die sich notwendigen Veränderungen entgegenstellt. Die Berufung auf den „Zwang der runden Zahl“ verfestigt ein derart statisches Geschichtsbewusstsein.

Der dritte Kritikpunkt betrifft das identifikatorische Geschichtsbild, zu dem die traditionelle Jubiläumskultur führt. Öffentliche Gedenktage wurden stets mit dem Ziel eingerichtet, das Zusammengehörigkeitsgefühl der eigenen Gruppe zu stärken. Das gemeinsame Feiern von Geschichte hat eine starke integrative Kraft. Das war schon beim Sixtus-Tag der Pisaner im 11. Jahrhundert so und ist bis heute an den Nationalfeiertagen das Programm.Dementsprechend hat die Gedenktagskultur im Zeitalter des Nationalismus ihre Blütezeit erlebt. Aus dieser Tradition sind Jubiläen strukturell ethnozentrisch mit der Gefahr, nationalistisches und chauvinistisches Bewusstsein zu stärken.

Korrespondierend dazu ist ein vierter Kritikpunkt zu formulieren, nämlich die Produktion von Feindbildern. Das Gedenken an siegreiche Kämpfe durchzieht die Geschichte des Gedenkwesens vom Alten Testament bis in die Moderne. Mit dem Sieg als Element der eigenen Identität wird der einstige Gegner zum Erbfeind. Mit dem Feiern aus - vermeintlichem – „Zwang der runden Zahl“ wird das einmal geschaffene Feindbild immer wieder erneuert. Das Franzosenfeindbild der Deutschen, das Türkenfeindbild der Österreicher wurde in hohem Maß durch solche Gedenkfeiern gestärkt. Darüber hinaus schafft ein aus siegreichen Schlachten gewonnenes Selbstbild die Vorstellung eines historischen Auftrags, stets gegen Feinde kämpfen zu müssen, und damit generell ein militaristisches bzw. aggressives Weltbild.

Fünftens schließlich fördern traditionelle Gedenktage ein Geschichtsbild, das stärker dem Mythos verbunden ist als der Geschichtswissenschaft. Gerade die „heiligen Anfänge“ sind oft von Ursprungslegenden umrankt. Ein klassisches Beispiel dafür ist der historisch nicht belegbare Rütlischwur, auf den in der Schweiz sowohl der jährlich gefeierte Nationalfeiertag am 1. August als auch die jeweiligen Gründungsjubiläen der Eidgenossenschaft Bezug nehmen. Entmythologisieren ist aus Anlass von Jubiläen wenig gefragt. Durch lange Tradition geheiligte und emotional tief verankerte Bilder lassen sich nur schwer durch wissenschaftliche Erkenntnisse relativieren. Historikerinnen und Historiker, die ein Lernen aus Geschichte für möglich halten, werden daher mit dieser vorwissenschaftlichen Form der Beschäftigung mit Geschichte nicht viel Freude haben.

Im Rückblick auf eine solche Jubiläums- und Gedenktagekritik aus dem Jahr 1982 lässt sich 28 Jahre später wohl sagen, dass sich in unserer Gedenkkultur seither manches geändert hat. Die eingangs gebotenen Beispiele bieten einige Ansätze, solche Tendenzen der Veränderung anzusprechen.

Unter den vielen für das Jahr 2009 als gedenktagswürdig beurteilten Ereignissen waren es nur wenige, die auch als öffentliche Gedenktage aufgegriffen und gefeiert wurden. Als politisches Instrument hat die Gedenktagskultur offenbar an Bedeutung verloren. Das erübrigt nicht dieFrage, wer denn heute das Gedenkwesen bestimmt. Kann man von einer Demokratisierung unserer Memorialkultur sprechen? Ein zunehmender Einfluss der Medien ist unverkennbar, aber bedeutet das ein Mehr an Partizipation? Die maßgeblichen Entscheidungsstrukturen sind jeweils schwierig zu fassen, und damit auch die Urheber möglicher Manipulation durch Geschichte-Feiern. Als die Fürsten das noch im Rahmen ihrer Kirchenhoheit betrieben, waren die Verhältnisse klarer. Bei den besprochenen Jubiläen des vergangenen Jahr ist eine derart eindeutige Autorität wohl nur für das Paulus-Jahr in Rom auszumachen.

Strukturell geändert haben sich bei öffentlichen Gedenktagen die Formen der Durchführung In Österreich etwa spielen diesbezüglich die großen Landesausstellungen der Bundesländer mit ihren wissenschaftlich ausgearbeiteten Katalogen eine tragende Rolle. Geschichte-Feiern und Wissenschaft sind einander dadurch näher gerückt. Jubiläumstermine schaffen nun Ansatzpunkte für den Kulturtourismus. Die gleichgestimmte Öffentlichkeit, die gemeinsam feiert, tritt mehr und mehr in den Hintergrund. Wer die Emotionalisierung durch das Feiern von Geschichte für bedenklich hält, wird diese Entwicklung begrüßen.

Gegenüber der Feier von „heiligen Anfängen“ staatlicher oder kirchlicher Gemeinschaften, die Jahrhunderte zurückliegen, treten zeitgeschichtliche Ereignisse deutlich in den Vordergrund. Bei aller Beliebigkeit in der Zusammenstellung von Jubiläen- und Gedenktagslisten in der Gegenwart – eine Tendenz zur Erinnerung an die Geschichte der Mitlebenden ist unverkennbar. Das kann ein Element der Spannung bedeuten. Über die Ostarrichi-Urkunde von 996 lässt sich leichter eine einheitliche Meinung verordnen als über das von vielen noch miterlebte Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Eigensinn der Mitlebenden kann bezüglich der gefeierten Ereignisse und Personen auch zu widerständigen Meinungen führen. Die verstärkte zeithistorische Orientierung könnte so aus Anlass von Jubiläen und Gedenktagen verstärkt zu einem individualistischen Umgang mit Geschichte führen. Veranstalter sind sicher gut beraten, das zu berücksichtigen.

Eine inhaltliche Verschiebung der Gedenktagskultur zeichnet sich bei zeithistorischen Anlässen bezüglich der Art des Gedenkens ab. Verfolgung, Vertreibung und Ermordung lassen sich nicht mit den traditionellen Veranstaltungsformen von Jubiläen begehen. Vieles, woran gedacht werden soll, gibt keinen Anlass zu Jubel. Die Geschichte der Jubiläumskultur bietet wenige Ansätze, um sich an tragische Ereignisse zu erinnern. Bewältigungsarbeit erfordert neue Formen sowohl auf kollektiver wie auf individueller Ebene.Relativ problemlos dürfte sich die Entheroisierung der Gedenktagskultur gestalten. Wenn Andreas Hofer nicht mehr als heroischer Anführer eines heldenhaften Freiheitskampfes gefeiert werde muss und der traditionelle Gedenktagstermin für einen Blick in die wirtschaftliche Zukunft benutzt wird, so deutet das auf einen grundsätzlichen Einstellungswandel. Auch andere traditionelle Identifikationsfiguren des Landesbewusstseins haben ihren Kultstatus eingebüsst. Auf dem Hintergrund überkommener Jubiläumskultur erscheint es sehr überraschend, dass Erzherzog Johann in der Steiermark 2009 eine Posse in zwei Akten gewidmet bekam.

Die Zahl der Anlässe für Gedenktage und Jubiläen hat in den letzten Jahrzehnten inflationär zugenommen. Firmen feiern Jubiläen genauso wie lokale Fußballvereine, die erste Publikation früherer Kultbücher wird genauso erinnert wie die Premiere einstmals beliebter Filme, Persönlichkeiten aus Unterhaltung und Showbusiness treten an die Seite historisch bedeutsamer Politiker und Künstler – nahezu alles und alle können Objekt des modernen Gedenkwesens werden. Mit dieser zunehmenden Beliebigkeit verliert die Memorialkultur ihre Prägekraft für kollektive Identitäten. Jubiläen haben weniger gesellschaftliche Bindekraft als früher. Man kann sich ihrer Feier entziehen. Es geht bei ihnen vielfach nicht mehr um die „heiligen Anfänge“ des Gemeinwesens und auch nicht um existenziell geglaubte Wendepunkte seiner Entwicklung. Jubiläen sind dadurch harmloser geworden, zugleich aber auch überflüssiger.

Kann diese Vielfalt gedenktagswürdiger Personen und Ereignisse die Basis für ein sinnvolles Geschichtsbild bieten? In der heute angebotenen Beliebigkeit wohl kaum. Über das Wissen um Personen- und Ereignisgeschichte allein ist das sicher überhaupt nicht zu erreichen. In den letzten Jahrzehnten haben sich in der Geschichtswissenschaft tiefgreifende Schwerpunktverschiebungen abgespielt. Aus meiner Sicht betreffen die wichtigsten strukturgeschichtliche, sozialgeschichtliche bzw. historisch-anthropologische Neuansätze. Das Verstehen heutiger gesellschaftlicher Probleme aus ihrem Gewordensein ist aus einer an Gedenktagen orientierten Personen- und Ereignisgeschichte gewiss nicht zu leisten. Wo ein von Gegenwartsfragen geleiteter Blick zurück in die Vergangenheit nötig wäre, herrscht sinnlose Zahlenspielerei. Auch wenn die traditionelle Jubiläums- und Gedenktagskultur heute nicht mehr dieselben Gefahren in sich birgt wie im Zeitalter des Nationalismus – für eine gesellschaftlich relevante Geschichtswissenschaft verstellt sie den Weg.

Literaturhinweise: Der Vortrag basiert in seinen Grundgedanken auf:
Michael Mitterauer, Millennien und andere Jubeljahre. Warum feiern wir Geschichte?
(Wiener Vorlesungen im Rathaus 65 vom 24. Oktober 1996), Wien 1998. Erweiterte Fassung mit ausführlichen Literaturhinweisen: Derselbe, Anniversarium und Jubiläum. Zur Entstehung und Entwicklung öffentlicher Gedenktage, in: Emil Brix und Hannes Stekl (Hg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien 1997, S. 23-90.

Die im Vortrag aufgegriffene Grundsatzkritik des Autors an traditionellen Formen des Feierns von Jubiläen von 1982 findet sich in: Derselbe: Politischer Katholizismus, Österreichbewusstsein und Türkenfeindbild, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 12/4, 1982, S. 111-120.

Die Gedenktage des Jahres 2009 nach „Jubiläen und Gedenktage 2009“: http://www.meinekirche.de/downloads/Gedenktage_2009.pdf sowie „Die Presse“ vom 31.5.,9.6.,13./14.6., 27.6., 30.6. und 31.7.