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Helga Maria Wolf

Läutbräuche#

Das Glockenspiel am Rathaus ist ein Wahrzeichen von München. Foto: H. M. Wolf, 2019

"Fest gemauert in der Erden / Steht die Form aus Lehm gebrannt. / Heute muss die Glocke werden / Frisch, Gesellen! Seid zur Hand …" Generationen von Schülern erinnern sich an Friedrich Schillers "Lied von der Glocke".

Sein längstes Gedicht erzählt, wie Glockenklang das Leben von der Wiege bis zur Bahre begleitet. Die Ballade erschien 1799, seit dem ersten Konzept war mehr als ein Jahrzehnt vergangen. Als Bestandteil des deutschen Bildungskanons ist sie das meist zitierte - und parodierte - lyrische Werk. Der Dichter verbindet die Schilderung des handwerklichen Glockengusses mit Reflexionen über das Menschenleben.

"… mit der Freude Feierklange begrüßt sie das geliebte Kind … " Manche Vorarlberger Pfarren läuten um 12.00 Uhr die Hauptglocke drei Minuten lang, wenn Eltern eine Geburt melden. So wird die Ankunft des neuen Erdenbürgers sprichwörtlich "an die große Glocke gehängt." Mit dem Sakrament der Taufe nimmt ihn die Kirche in ihre Gemeinschaft auf. In Deutschland gab es eigene Taufglocken.

Die nächste Zäsur im Lebenslauf, die Hochzeit, umschreibt der Dichter: "Lieblich in der Bräute Locken / Spielt der jungfräuliche Kranz / Wenn die hellen Kirchenglocken / Laden zu des Festes Glanz". Beim Ein- und Auszug in die Kirche erklingt das Vollgeläut. Auch die "Hochzeitsglocken" werden gerne redensartlich gebraucht.

Wie in Schillers "Lied" beschrieben, ertönen Glocken nicht nur zu festlichen Anlässen: "Vivos voco, mortuos plango, fulgura frango“ (Die Lebenden rufe ich, die Toten beklage ich, die Blitze breche ich) lauten Inschriften. Das Wetterläuten bei nahenden Gewittern sollte Hagel und Blitzschlag verhindern, der oft zu Bränden führte. Viele Städte hatten ihre eigenen Sturm- oder Feuerglocken in den Stadttürmen. Profane Läutedienste signalisierten Anlässe wie die Eröffnung des Marktes, Hinrichtungen oder die Sperrstunde (Bierglocke).

Die Höhen und Tiefen der Biographie enden mit dem Klang der Totenglocke: "Von dem Dome / schwer und bang / Tönt der Glocke / Grabgesang." Wenn ein Pfarrmitglied verstorben ist, läutet die kleine "Zügenglocke" - so genannt, weil jemand in den letzten Zügen gelegen ist. Andere Bezeichnungen sind Sterbe-, Toten- oder Armenseelenglocke. An der Art des Signals erkannten die Dorfbewohner, ob sie von einem Mann oder einer Frau Abschied nehmen mussten.

Das Glockengießerlied schließt erfreulich. Die "Concordia" wird auf den Turm gezogen: "Freude dieser Stadt bedeute / Friede sei ihr erst Geläute." Ein Friedensläuten besonderer Art fand am 8. Mai 2015 - 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - in Erlauf statt. Um 11.45 erklangen die Glocken in der Marktgemeinde, alle Kirchenglocken Niederösterreichs stimmten in die "Klangwelle" ein.

Kirchenglocken erhalten vor dem Aufziehen eine zeremonielle Weihe. Wie und wann sie zu hören sind, ist durch Läuteordnungen geregelt. Eine der umfangreichsten besitzt Stift Göttweig. Bedeutend ist die - 2013 aktualisierte - Ordnung des Wiener Stephansdoms. Zu Ostern 2017 kehrte das aus dem 13. Jahrhundert stammende Chorglöcklein restauriert und funktionsfähig auf den Glockenstuhl zurück. Wie viele andere sollte es zu Rüstungszwecken eingeschmolzen werden, kam aber 1946 wieder in den Dom, wo es lange unbeachtet in der Nähe der Pummerin im Nordturm lagerte. Den Klöppel fand man zufällig in einer Mauerritze. Die Pummerin selbst, 1951 in St. Florian (Oberösterreich) gegossen, ist mit 314 cm Durchmesser und einem Gewicht von mehr als 20 Tonnen die drittgrößte Glocke Europas. Sie ertönt zu Feiertagen und besonderen Anlässen, wie zum Jahreswechsel. Während der Radio- und Fernsehübertragung finden sich Tausende Menschen auf dem Stephansplatz zum Feierbrauch ein.

Zahlreiche Bräuche, Redensarten, Sagen und Vorstellungen sind mit Glocken verbunden. Neben der religiösen Funktion strukturieren sie den Tagesablauf. Eine viertel oder halbe Stunde vor der Heiligen Messe ruft vielerorts das Vorläuten mit einer Glocke zum Gottesdienstbesuch. Beim Zusammenläuten am Beginn oder bei Feierlichkeiten wie Prozessionen und Beerdigungen sind mehrere (Teilgeläute) oder alle Glocken (Vollgeläute) im Einsatz. Eine spezielle Form des Zeichenläutens stellt - besonders in den Stiften - das feierliche Vesperläuten am Vorabend hoher Festtage dar. Zuerst werden kurz alle Glocken geläutet, anschließend mit jeder Glocke einzeln kurz und dann wieder mit allen zusammen.

Das Zeichenläuten während der Messe geschieht zum Einzug mit der Sakristeiklingel, zu den Lesungen, zum Evangelium und zur Wandlung (mit Altarschellen, oft in 3 Sätzen). Am Donnerstagabend erinnerte das "Angstläuten" an die Todesangst Christi am Ölberg, am Freitag um 15 Uhr das "Scheidungsläuten" an seine Todesstunde, das "Hinscheiden". Das Elfuhrläuten markierte den Mittag. Untertags konnte man die Zeit am Anschlagen einer Glocke mit dem Hammer erkennen, die kleinere gab die Viertelstunden, die größere die ganzen Stunden an. Klöster, deren Tagesablauf durch das Chorgebet (Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet, Matutin) strukturiert ist, verfügen über eigene kleine Chorglocken, wie Prim-, Komplet- und Kapitelglocken.

Für die Laien war das Angelusläuten um 6, 12 und 18 Uhr Zeitsignal und Gebetseinladung. Den Schriftzitaten "Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft und sie empfing vom Heiligen Geist" - "Maria sprach: Siehe ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort" - "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt" folgen jeweils ein Ave Maria, eine kurze Anrufung und das Schlussgebet. Im 13. Jahrhundert pflegten die Franziskaner den abendlichen Gruß der Gottesmutter, 1318 verpflichtete der Papst alle Gläubigen dazu. Anschließend ertönte eine kleine Glocke zum Gedenken an die Armen Seelen. Im 14. Jahrhundert wurde das Morgenläuten eingeführt, die "Mittagsglocken" unter Calixtus III. anno 1456.

Das abendliche Gebetläuten markierte das Ende des bäuerlichen Arbeitstages. Notburga von Eben sollte aber noch länger Getreide schneiden. Um die Gebetszeit nicht zu versäumen, warf sie ihre Sichel in die Luft, wo das Gerät stehen blieb. Darstellungen der Heiligen zeigen die legendäre Begebenheit. Im Marchfeld mussten die Kinder zum Angelus daheim sein. Wenn sie nicht pünktlich wären, sagten die Eltern, würde die Hexe Klakanitza sie holen. Strenge Väter ließen es nicht bei der Drohung bewenden, sondern standen mit der Peitsche strafend im Hoftor.

Mythologisch stehen Glocken für die Kommunikation mit übersinnlichen Wesen (Arme Seelen), ihr Klang sollte Dämonen und Hexen abwehren. Daher nähte man Glöckchen an Kinderkleidung, dem Vergnügen der Erwachsenen dienten sie auf den Schellengurten der Pferde bei Kutschen- und Schlittenfahrten. Sagen zeichnen das Bild der Kirchenglocke als beseeltes Wesen, das sich wehren, den Klang verweigern oder von selbst läuten kann. Sie ist fähig, zu fliegen - z.B. in der Karwoche nach Rom. Dann treten zu den Gebetszeiten Kinder mit Ratschen in Aktion. Während bei diesem Brauch Lärmgeräte die Glocken ersetzen, spielen sie bei profanen Bräuchen eine Rolle, wie die Kuhglocken beim Almauftrieb oder bei den Umzügen der Glöckler, Scheller oder Roller. Glockenspiele betonen den musikalischen Effekt und viele namhafte Musiker ließen den melodischen Glockenklang in ihre Kompositionen einfließen.

Erschienen in der Zeitschrit "Schaufenster Kultur Region", 2017