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Helga Maria Wolf:

Wendefeste und Schwellenbräuche#

Der französische Ethnologe Arnold van Gennep (1873 - 1957) prägte vor 100 Jahren den Begriff "rites de passage" Er unterschied bei Übergangsbräuchen im Lebens- und Jahreslauf drei aufeinander folgende Zustände: (1) Trennung - die Phase der Ablösung vom vorherigen Zustand, (2) Schwelle / Zwischenstufe / Liminalität - die gefährliche Phase zwischen "schon" und "noch nicht", problematische Zeit der Rollenlosigkeit, in der die neue Identität angeeignet werden soll, (3) Umwandlung / Wiederaufnahme - die Phase der Neuintegration.

Der Jahreswechsel ist markant, aber nur eines von vielen Schwellenfesten im Lebens- und Jahreslauf. Lebensgeschichtliche Übergänge sind stets von gemischten Gefühlen begleitet. Es herrschen Hoffnung, Erwartung und Freude, Unsicherheit, Angst und Zweifel. Die eigene Person muss neu definiert werden. Forscher haben das Menschenleben als Aufeinanderfolge von sieben bis neun Entwicklungskurven bezeichnet, z.B. Kindheit, Jugend, Ausbildung, Suche nach Position, Familiengründung, Reifung, Sinnsuche, Ruhestand. Jede Phase hat ihre Zeit, Rituale am Anfang und Ende können bei der Umstellung helfen. In der christlichen Kultur begleiten Initiations-Sakramente wie Taufe, Firmung oder Hochzeit die Knotenpunkte des Lebens. Auch Erstkommunion, Konfirmation und die früher als "letzte Ölung" bezeichnete Krankensalbung markieren Übergänge.

Arnold van Gennep war ein interessierter Beobachter, nicht nur Mitbegründer der modernen französischen Ethnologie, sondern auch freiberuflicher Übersetzer und Journalist. Seine 1909 veröffentlichte Theorie wurde erst 1986 in deutscher Sprache publiziert. Um so bemerkenswerter, dass der deutsche Volkskundler Paul Sartori (1857-1936) schon 1910 über den Hochzeitsbrauch der "Haubung" - gegen Mitternacht nehmen Frauen der Braut den Kranz ab und versehen sie mit der angemessenen Kopftracht - schreibt: "Sie bildet einen der zahlreichen Übergangsriten." Die Hochzeit ist das klassische Beispiel für rites de passage. Auch in modernen Trauungszeremonien finden sich die Elemente davon.

Je komplexer die Gesellschaft wird, umso mehr Übergänge entstehen. Sie sind allerdings nicht mehr so einschneidend. Für ein Kind, das in die Schule kommt, ist dies kein Eintritt in eine völlig neue gesellschaftliche Sphäre, nur eine seiner vielen Lebenswelten ändert sich. Dennoch sind Übergangsriten als Bewältigungsstrategien wichtig. Viele neue Rituale - wie sie Lebenshilfeliteratur und -seminare empfehlen - sind Schwellenbräuche. Sie markieren Phasen, die im Leben früherer Generationen keine Rolle spielten, wie Führerscheinerhalt, Trennung von Partner oder Beruf, Berufswechsel oder Pensionierung. Hier ist auch das Feiern der "runden Geburtstage" zu nennen, obwohl sich das Leben dadurch nicht ändert. Rituale helfen, den Weg in eine offene Zukunft besser zu bewältigen.

Nicht zuletzt deshalb wurde wohl der Übergang ins 3. Jahrtausend so aufwändig begangen. Fast ein Jahrzehnt ist seit der - ebenso gefeierten wie gefürchteten - Jahrtausendwende vergangen. Jahraus, jahrein wiederholen sich die Bräuche zu Silvester - früher nicht das einzige Mittwinter-Wendefest. Der Weihnachtszyklus umfasste neun solche, oft waren sie mit Orakeln verbunden, von denen das Bleigießen populär blieb. Die positive Deutung soll(te) Hoffnung für zukünftige Ereignisse geben. Der winterliche Festzyklus erstreckte sich über 80 Tage, von Martini bis Lichtmess. In diesen fielen - regional unterschiedlich begangen - zwölf aufeinander folgende Tage zwischen 13. Dezember und 13. Jänner, die als die "zwölf heiligen Nächte" oder kurz "Zwölften" bezeichnet wurden. Dann suchte man vermeintlichem Spuk durch rituelle Handlungen zu begegnen. "Martini", der 11. November galt vielerorts als Abschluss bzw. Anfang des Wirtschaftsjahres und letztes großes Fest vor Weihnachten. Liebesorakel waren ebenso üblich wie Wetterprophezeiungen aufgrund des Brustbeins der Martinigans. War es weiß, sollte es schneien … Ab 14. November zählte man - analog zur vorösterlichen Bußzeit - die 40 Tage der Fastenzeit vor Weihnachten. Der Andreastag am 30. November war für heiratswillige junge Frauen "der" Orakeltermin, denn der Zukünftige sollte sich im Traum zeigen. Der Luzientag am 13. Dezember galt bis zur Einführung des Gregorianischen Kalenders (1582) als Wintersonnenwende. Diese Funktion übernahm der 21. Dezember (früher: Thomas), zugleich die erste der Rau(ch)nächte. Ebenso wie in dieser war in der Christnacht das "Lösseln" (Losen, Orakel) weit verbreitet. Auf Weihnachten folgte als Fest Silvester/Neujahr. Der 6. Jänner wurde "Epiphanie", "Erscheinung des Herrn" oder "Großneujahr" genannt. Den Abschluss der alten Weihnachtszeit bildete "Maria Lichtmess" . Bis zum 2. Vatikanischen Konzil war das seither "Darstellung des Herrn" genannte Fest der Termin zum Wegräumen der Krippen und Christbäume. Der 2. Februar bildete vor allem für das Gesinde, das den Arbeitsplatz wechselte, ein wichtiges Wendefest. Die Zeit zwischen altem und neuem Dienst zählte zu den wenigen freien Tagen der Knechte und Mägde.

So folgte auch dieser Brauch der vorindustriellen Arbeitswelt dem Dreischrittmodell der rites de passage: Trennung, Schwelle und Wiederaufnahme. Arnold van Gennep fand zahlreiche Beispiele für Wechsel zwischen Berufen, Gruppen, Religionen, Altersstufen … Er deutete solche Trennungen als Schwachstellen der Gesellschaft: Wer eine Grenze überschreitet, lebt gefährlich und "muss" in eine andere Ordnung eingebunden werden. Um Grenzüberschreitungen und Übergänge zu kontrollieren, schafft die Gesellschaft Symbole und Rituale, welche die neue Position ermöglichen und den Umgang mit Gefühlen regeln. Er unterschied Trennungs-, Umwandlungs- und Angliederungsriten, räumliche, soziale und biographische Übergänge.

Der Berliner Ethnologe Wolfgang Kaschuba nennt die Rituale des Übergangs "symbolisches Krisenmanagement". Gesellschaften in Umbruchs- und Krisensituationen könnten dadurch gefährliche Situationen überbrücken. Er erinnerte an ökologische und ökonomische Probleme der 1990er-Jahre und beobachtete einen "wesentlich erhöhten Symbol- und Ritualbedarf". Diese Symbolproduktion vollziehe sich in einem ungeheuer breiten Themenspektrum, bis hin zu individuellen Lebens- und Freizeitstilen, die nicht nur einfach gelebt, sondern ebenfalls inszeniert werden müssten: "Wir sind nicht nur von öffentlichen Symbolen und Zeichen umstellt, sondern wir umstellen unseren Alltag selbst mit immer dichteren Symbolkulissen, um uns darin unserer Räume, Wege und Rollen zu versichern."


Quellen:
Ausstellungskatalog "Zeiten - Übergänge" Österreichisches Museum für Volkskunde. Wien 1999
Wolfgang Kaschuba. Einführung in die Europäische Ethnologie. München 1999