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2. Almwirtschaft, Transhumanz und Nomadismus #

Dr. Franz Greif#

Eine Zusammenstellung von beweidbaren Flächen, Weidevieh und der diesen Formen des Primärwirtschaftens zugehörenden Bevölkerung stößt auf große Schwierigkeiten, denn allein schon die ungefähre Datenerfassung über räumlich bewegliches Weidevieh birgt große Unsicherheiten, weil jenem Teil der Weidewirtschaft, der Subsistenzcharakter aufweist, von "offizieller" datenverarbeitender Seite in vielen Teilen der Welt nur sehr wenig Bedeutung beigemessen wird. Im zweiten Teil stellt der Autor den weltweiten Bestand an Weidetieren dar und geht auf die Charakteristika marginaler Viehwirtschaftssysteme ein.

Talweide in rund 2200 m Seehöhe im Altaigebirge der Westmongolei zu Frühlingsbeginn Anfang Juni
Talweide in rund 2200 m Seehöhe im Altaigebirge der Westmongolei zu Frühlingsbeginn Anfang Juni
Die in diesem Beitrag versuchte Datensammlung (Tabellen 1 bis 3) beruht auf eigenen Schätzungen mit Hilfe von Quellen aus den letzten 5 bis 10 Jahren; eine methodisch überlegte statistische Bearbeitung (z.B. in Form einer Diplomarbeit) wäre sehr verdienstvoll und für verschiedene entwicklungspolitische Überlegungen in vielen Ländern sehr nützlich.

2.1 Der Bestand an Weidetieren im Weltmaßstab#

Bild 'Teil 2_Seite 21'
Der Großviehbestand der Welt beläuft sich auf 1,4 bis 1,5 Milliarden Tiere, zu 95% aus Rindern (inkl. Yaks) bestehend; mit 500 bzw. 300 Millionen Tieren sind Asien und Südamerika die beiden Hauptverbreitungsgebiete, was allerdings nichts über die tatsächliche viehwirtschaftliche Leistung aussagt und auch den auf eigentliche Weidehaltung entfallenden Anteil nicht wiedergeben kann. Etwa 4% macht die Zahl der Pferde aus, nur etwa ein bis zwei Prozent stellen heute noch Kamele, von denen drei Viertel in Afrika leben.

Unter den kleineren Tieren erreicht die Anzahl der Schafe und Ziegen ebenfalls je etwa eine Milliarde, wobei die Hälfte (und mehr) auf Asien und ein Viertel der Bestände auf Europa entfallen, von den Schafen noch rund 15% auf Australien. Die restlichen Weidevieharten sind 8 Millionen oder etwas mehr Kleinkamele in Südamerika sowie an die drei Millionen domestizierte Rentiere, die am Nordrand der Ökumene Eurasiens und Nordamerikas wandern.

Und weiters zeigt Tabelle 3 noch eine Standardisierung der verschiedenen Vieharten zu vergleichbaren Vieheinheiten[2], wonach sich ein "weltweiter Gesamtstapel" von 1,7 Milliarden Großvieheinheiten ergibt. 84% davon entfallen auf Rinder aller Rassen (inkl. Yaks), 7 bis 8% auf Schafe und Ziegen, 5% der GVE machen die Pferde der Welt aus. Nach Großregionen stehen 38% des Viehs in Asien, je 18 bis 20% in Südamerika und Afrika, und je etwa 10% in Europa und Nordamerika, der Rest entfällt auf Australien.

2.2 Almwirtschaft, Transhumanz und Nomadismus im Vergleich#

Nun zielt dieser Beitrag auf einen Vergleich der drei "Stammformen" marginaler Viehhaltung, nämlich der Almwirtschaft in Mitteleuropa, der Fernweidewirtschaft oder Transhumanz, vornehmlich im südeuropäischen und vorderasiatischen Trockengürtel, sowie des Nomadismus ab - oder was von ihnen im Zuge der territorialen Einteilung der Landlebensräume noch übrig geblieben ist. Damit soll dargelegt werden, wie sich marginale Viehwirtschaft auf der Welt von heute behaupten konnte und insbesondere, wie ihre Gestalt, ihr Aufbau und ihre Funktionen aktuell aussehen. Um dies möglichst anschaulich und auch systematisch anzugehen, sollen derartige viehwirtschaftliche Grenzstrukturen anhand von drei sozialwirtschaftlichen Entwicklungstypen vorgestellt und diskutiert werden, nämlich die Almwirtschaft am Beispiel Österreichs, die Transhumanz im Falle Bulgariens, sowie der Nomadismus in der heutigen Republik Mongolei.

2.3 Charakteristika von "marginalen Viehwirtschaftssystemen"#

Der Begriff "marginal" drückt grundsätzlich aus, dass es sich um Nutzungssysteme in Grenzertragsbereichen handelt, deren Bedeutung früher weit größer war, als sie heute ist. Neben der naturräumlichen Ausstattung der genutzten Gebiete (wichtig sind dabei Höhenlage und Klimaverhältnisse, die insbesondere die jährliche Nutzungsdauer bestimmen), spielt auch deren Lage zu den Märkten eine Rolle; marktferne Regionen sind zumeist extensiver genutzt als marktnah gelegene.

Marginale Viehwirtschaftssysteme sind generell auch sozialwirtschaftliche Typen von primären Lebensformgruppen:

• im Falle der Almen in Form saisonaler Bewirtschaftung von zumeist hochgelegenen Nutzflächen (Viehweide für 70 bis 120 Tage); Heimgüter und Almbetriebe bilden ungeachtet verschiedener Besitzformen eine Einheit; die futterwirtschaftliche Ergänzungsfunktion ist für viele Bauernhöfe immer noch betriebserhaltend, in manchen Fällen allerdings wird die Bewirtschaftung von Höhenlagen nur noch aus traditionellen (oder "nostalgischen") Erwägungen aufrecht erhalten. Dazu kommt heute die zusätzliche Bedeutung durch die Nutzbarkeit der Almen für Tourismuszwecke; jedenfalls ist die "Almgesellschaft" dort, wo sie verbreitet ist, mit der bäuerlichen Gesellschaft identisch;

370.000 zweihöckerige Trampeltiere wandern in der Mongolei; im Frühling erfolgt ein mitunter abrupter Fellwechsel zur Anpassung an die Temperatur der Jahreszeit
370.000 zweihöckerige Trampeltiere wandern in der Mongolei; im Frühling erfolgt ein mitunter abrupter Fellwechsel zur Anpassung an die Temperatur der Jahreszeit
Kleinschlägige, robuste Pferde sind das Verkehrsmittel der asiatischen Steppen, in der Mongolei derzeit 3,4 Millionen; die Milch der Stuten wird zum Nationalgetränk 'Ayrag' vergoren, das den Nomaden als Vitaminquelle dient
Kleinschlägige, robuste Pferde sind das Verkehrsmittel der asiatischen Steppen, in der Mongolei derzeit 3,4 Millionen; die Milch der Stuten wird zum Nationalgetränk "Ayrag" vergoren, das den Nomaden als Vitaminquelle dient

• unter Transhumanz ist ganzjährige Weidewirtschaft außerhalb der Heimsiedlungen zu verstehen, meist in Hochlagen; es findet saisonale Wanderung der Viehherden zwischen Gebieten statt, die sich in Bezug auf Klima und Vegetation ergänzen; die Viehherden gehören z.T. einer sesshaften Agrarbevölkerung, die vorwiegend Ackerbau betreibt, werden aber nicht unmittelbar von dieser, sondern von Hirten (mit oder ohne deren Familien) betreut; auch die Transhumanz trägt so einerseits zur sommerlichen Entlastung der Dörfer vom Vieh bei, früher auch zur Entwicklung von überregionalen Wirtschaftsweisen, etwa durch die Haltung von Lasttieren als Grundlage des Güterverkehrs in weiten Teilen der alten Welt; die zugehörige Hirtengesellschaft ist als soziale Gruppe vielfach eigenständig und kooperiert selbstverantwortlich mit der übrigen Agrargesellschaft;

Nomadismus ist demgegenüber ein ganzjähriger Weidebetrieb in Trockenräumen und Kältesteppen, der schon seit sehr langer Zeit mit saisonalen Wanderungen einhergeht; der Wechsel der Viehweiden erfolgt zwischen Gebieten, die sich in Bezug auf Klima und Vegetation ergänzen; der Viehbestand gehört den Nomadenfamilien selbst, die mit allem Hab und Gut mit den Herden wandern. Doch auch Ackerbau und Winterfutterbereitung werden betrieben, meist jedoch nur in geringem Umfang. Auch beim Nomadismus gibt es heute keine Wanderung "im unbegrenzten Raum" mehr, sondern er führt in noch großen Regionen die überkommene Subsistenzwirtschaft alter Kulturreiche weiter, oft in seit alters her geregelten zeitlichen und räumlichen Rhythmen, daneben aber auch in vielerlei Abwandlung nach Jahrzehnten wirtschaftspolitischer Lenkung, wie etwa in sozialistischen Staaten. Die Nomadengesellschaft fußt auf (generell unantastbaren) Nutzungsrechten, ohne jedoch ein "Eigentum an Grund und Boden" zu kennen.

Diese drei agrargeographischen Sammelbegriffe stehen nun für ein weltweites agrarsoziales Dilemma, denn Gesellschaften mit Almwirtschaft, Transhumanz und Nomadismus sind fast überall vor wirtschaftspolitisch ernste Probleme gestellt. Diese bestehen darin, dass heute selbst größte Mühe und Einsatzbereitschaft bei der Bodennutzung nicht mehr genügen, um jenen Arbeitsertrag zu erzielen, der "primären Lebensformgruppen" eine existenz- und kultursichernde Lebensweise ermöglicht. Dieses Dilemma zeigt sich insbesondere darin,

  • dass eine Ausrichtung der Agrarproduktion nach "Effizienzfaktoren" (Mengen, Kosten und/oder Qualität) nur schwer möglich ist,
  • dass Teilnahmemöglichkeit und Konkurrenzfähigkeit auf Märkten nur schwer erreichbar sind, eine "Marktmacht" praktisch überhaupt nicht,
  • dass somit auch eine Standortkonkurrenz (regional mit kapitalstarken Bauern, oder auch mit nichtagrarischen Nutzungsinteressen, global mit Produzenten in Gunstlagen) zumeist nicht möglich ist,
  • und dass eine Vielzahl von Interessenskonflikten - zwischen Viehbesitzern, Hirten, Nachbarn, Generationen und Staaten - Leben und Wirtschaften dieser Gruppen erschwert.

2.4 Nutzungsgründe und Grundlagen marginaler Viehwirtschaft#

Österreich

Die futterwirtschaftliche Ergänzungsfunktion der Almen ist für viele Bauernhöfe immer noch betriebserhaltend. Hinzu kommt heute vielfach die Nutzbarkeit für Tourismuszwecke.
Die futterwirtschaftliche Ergänzungsfunktion der Almen ist für viele Bauernhöfe immer noch betriebserhaltend. Hinzu kommt heute vielfach die Nutzbarkeit für Tourismuszwecke.
In Zeiten wachsender Bevölkerung war die Ernährungsbasis in Berggebieten nur dadurch zu verbreitern, dass die Bodennutzung auf marginale Standorte ausgedehnt wurde. In klimatischen Gunstperioden, wie z.B. dem Hochmittelalter und der frühen Neuzeit war die alpine Hochregion über Jahrhunderte auch Dauersiedlungsraum, gebietsweise sogar bevorzugt wegen der größeren Sicherheit in abgelegener, schwer erreichbarer Lage. Und seit langem schon kennen auch viehhaltende Gesellschaften die gesundheitliche Bedeutung des Aufenthalts von Tier (und Mensch!) in höheren Regionen, was sich in einer besseren Kondition, verbessertem Immunstatus u.a.m. äußert. Dazu tritt heute noch der Aspekt, dass eine "multifunktionelle" Nutzung von Almen soweit wie möglich auch traditionelle Wirtschaftsweisen pflegen und erhalten soll ("verschwundene Arbeit").

Das österreichische Agrarsystem kennt sowohl Einzel- und Gemeinschaftsalmen im Eigentum (Gesamtfläche rund 1,7 Millionen ha), als auch Agrargemeinschaften mit Weideanteilsrechten, sowie auch individuelle Nutzungsrechte auf fremdem Grund. Die sogenannten Anteils- und Nutzungsrechte auf fremdem Grund und Boden, auch als "landwirtschaftliche Servitute" bezeichnet, machen an Fläche noch einmal 1 Million ha (inkl. Einforstungsrechte) aus. Dazu kommen weiters noch Dienstbarkeiten für die Almen (Wasser, Wege, Schneefluchten), und anderseits auch Dienstbarkeiten der Almen für andere Interessenten, z.B. für Leitungsinfrastruktur, Aufstiegshilfen oder Schiabfahrten.

Bulgarien

Die Notwendigkeit der Verbreiterung der Ernährungsbasis galt grundsätzlich auch hier, doch nicht allein. Oft waren weniger die geographische Natur, als vielmehr politische Unsicherheit, Bevölkerungszunahmen besonders durch Zuwanderung nach Eroberungen, aber auch steuerliche Belastungen die Gründe für die Ausbildung von Lebensformen der "Fernweidewirtschaft" auf dem Balkan - dies schon in byzantinischer wie später in osmanischer Zeit. In diesem Teil der Welt sind Grenzertragsregionen die Rückzugsgebiete der Hirtengesellschaften. Zugleich half die "Fernweide", intensiv nutzbare Flächen von Beweidung freizuhalten (Ausnahme ist Beweidung von Brachland im Winter).

Bulgarien ist historisch ein Raum für alle drei Marginalwirtschaftsformen, mit vielen gemeinschaftsrechtlichen Wurzeln. Das Weideland in Gemarkungen der Viehbesitzer ist deren Eigentum, im Saisonwandergebiet sind es Rechts- oder Pachtflächen. Sehr wichtig sind die für Herdenwanderungen erforderlichen Wegefreiheiten und die Wassernutzungsrechte, die es früher z.T. auch in genossenschaftlicher Form gab. Gewisse Unterschiede bestehen auch zwischen "aufsteigender" und "absteigender" Transhumanz, je nachdem, in welcher Höhenlage sich die viehhaltenden und dort Ackerbau treibenden Bauern befinden.

Mongolei

Praktisch der gesamte zentralasiatische Steppenraum - und mittendrin die Mongolei - ist nach seiner naturräumlichen Ausstattung eine "agrarische Grenzertragsregion". Nur in wenigen ziemlich linear verlaufenden Niederungen sind Flächen intensiver nutzbar. Eine wirkliche Intensivierung der Bodennutzung durch halbwegs ertragreichen Ackerbau erfolgte dort erstmals während der sozialistischen Epoche im 20. Jahrhundert.

Sowohl individuelles als auch gemeinschaftliches Eigentum von Weideland ist in der dortigen Nomadengesellschaft unbekannt. Es ist Recht jedes mongolischen Staatsbürgers, Weidewirtschaft zur Schaffung des Unterhaltes (für seine Familie) zu betreiben. Das die Weide begründende Nutzungsrecht hatte er (vorsozialistisch) auf dem Land seines Lehensherrn, bzw. hat er heute auf Staatsland. Es herrscht "Weidefreiheit" in bestimmten Raumeinheiten (früher im Bereich des "Banners", heute in einem Verwaltungsbezirk, dem "Sum"). Bei besonderem Bedarf, etwa bei Naturkatastrophen wie sommerlicher Dürre oder winterlichen Kälteextremen ("Dzud" mit oder ohne Schnee und Temperaturen unter -40°C) können aus Überlebensgründen auch nationale Grenzen überschritten werden. Gesetzlich vorgesehen ist in der Mongolei individueller Grundbesitz im Ausmaß von lediglich 700 m² für jeden Mongolen als Eigentum und auch in Form gemieteter kleiner Parzellen für die Errichtung einer Behausung. Für wirtschaftliche Zwecke können jedoch auch größere Flächen auf die Dauer von 60 Jahren gepachtet werden[3].

[2]Großvieheinheiten (GVE) oder Livestock units (LSU).

[3]Zweimalige Verlängerung der Pachtdauer ist möglich.

Marginale Viehwirtschaft in 4 Teilen:
1. Marginale Viehwirtschaft in der Welt von heute
2. Almwirtschaft, Transhumanz und Nomadismus
3. Volkswirtschaftliche Stellung der Weidewirtschaft
4. Chancen marginaler Viehwirtschaftssysteme