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Neue Unruhe um Sellafield#

Europas größte atomare Lagerstätte weist schwerwiegende Sicherheitsmängel auf.#


Von der Wiener Zeitung (Mittwoch, 7. September 2016) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher


Nuklearkomplex Sellafield
Auf dem Nuklearkomplex Sellafield befindet sich auch das Kernkraftwerk Calder Hall. Als erstes westliches AKW speiste es Strom in ein kommerzielles Netz.
Foto: © odd andersen/afp

London. Der BBC zufolge bildet der nordwestenglische Sellafield-Komplex eine ernste und permanente Gefahrenquelle - wegen bröckelnder Gebäude, rissig gewordener Tanks, leichtfertiger Aufbewahrungs-Praktiken und notorischen Personalmangels im Notfall-Dienst.

Das Gelände, auf dem eines der ersten Atomkraftwerke der Welt angesiedelt war und das heute als Wiederaufbereitungs- und nationale Lagerstätte dient, ist wegen Überalterung der Anlagen und gelegentlicher Betriebsstörungen von Forschern und Atomkraft-Gegnern seit langem als besonderer Risiko-Bereich betrachtet worden. Erst vor zwei Jahren hatten an die Öffentlichkeit geschmuggelte Fotos aus Sellafield aufbrechenden Beton an zwei offenen Wasserbecken dokumentiert, in denen hunderte hoch radioaktive Brennstäbe aufbewahrt werden. Möwen badeten im Wasser beider Becken, und überall rundherum wucherte Unkraut unter rostigen Rohren - doch die Sellafield-Betreiber stritten alle Gefahren ab.

Uranhaltige Flüssigkeit in Plastikflaschen#

Bei seinen neuen Nachforschungen stieß ein "Panorama"-Team der BBC nun auf "eine ganze Fülle" alarmierender Probleme auf dem Gelände, auf dem fast aller Atommüll aus dem Vereinigten Königreich anlandet. Unter anderem finden sich den BBC-Informationen zufolge "hunderte von Rissen" in Gebäuden und Wassertanks, die teils aus den 50er Jahren stammen.

Ein ehemaliger Sellafield-Direktor, der ungenannt bleiben wollte, erklärte der BBC, die größte Gefahr bestehe darin, dass einer der Behälter einmal in Flammen aufgehen würde: "Falls es zu einem Brand kommt, könnte das zu einer Wolke mit radioaktiven Abfallstoffen führen, die über ganz Westeuropa ziehen könnte." Das "Panorama"-Team fand außerdem heraus, dass an einer Stelle auf dem Gelände nach Jahren noch immer uran- und plutoniumhaltige Flüssigkeit in rund 2000 Plastikflaschen aufbewahrt wird. Diese Aufbewahrung war einmal, in Ermangelung besserer Lagerplätze, als kurzfristige Zwischenlösung gedacht. Mittlerweile beginnen sich einige der Plastikflaschen offenbar zu zersetzen.

Sellafield, meint der Sicherheits-Chef des Nuklearlagers, Rex Strong, zu den Vorwürfen, sei eben "eine äußerst komplexe Anlage, die eine Menge gefährlicher radioaktiver Materialien enthält". In der Vergangenheit, räumt Strong ein, habe es wohl schon mal "einen gewissen Mangel an Investitionen" gegeben, was man nun "richtigzustellen" suche. Man habe jedenfalls "in vergangenen Jahren enorm und stetig in die Infrastruktur investiert", und heute drohe von Sellafield niemandem eine Gefahr.

Dem BBC-Bericht zufolge ist die Anlage allerdings häufig unterbesetzt. Allein im Zeitraum vom Sommer 2012 zum Sommer 2013 soll es 97 Mal vorgekommen sein, dass weniger als das erforderliche Minimum an Mitarbeitern im Dienst war. In einem Notfall würde es womöglich an Personal fehlen, um eine Krise in den Griff zu bekommen, fürchten Experten.

Es sei "geradezu unglaublich", dass in Sellafield "irgendwo unterhalb der erforderlichen Sicherheits-Personalschwelle gearbeitet" würde, findet die Labour-Abgeordnete Meg Hillier, Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Kostenprüfung in London. Regelmäßig würden auch Alarmsignale ignoriert oder Alarmzeichen wieder abgeschaltet, ohne dass die betreffenden Aufsichtspersonen den Grund für den Alarm überhaupt herauszufinden suchten, heißt es außerdem in dem BBC-Bericht.

Nuklearkomplex mit katastrophaler Geschichte#

Sellafield, das anfangs noch Windscale hieß, stand in der Frühzeit der Atomkraft-Nutzung für einen der schlimmsten Vorfälle der ganzen Branche. Ein außer Kontrolle geratener Reaktor-Brand hatte im Jahr 1957 drei Tage lang gewütet und zur Verbreitung hochradioaktiver Isotope weit über die britischen Küsten hinaus geführt. Der Vorfall wurde später als Gefahren-Stufe fünf der insgesamt sieben Stufen der internationalen Nuklearskala eingeordnet. Er soll seinerzeit mehr als 200 Fälle von Schilddrüsen-Krebs mitverursacht haben.

Auch in späteren Jahren tauchte Sellafield regelmäßig in den Schlagzeilen auf: Mal wegen interner Unfälle, mal wegen radioaktiver Verseuchung der Irischen See über Jahre hinweg. Mittlerweile ist die Atomkraft-Produktion dort eingestellt worden. Die Wiederaufbereitung soll vor Ort aber noch vier Jahre lang betrieben werden. Danach soll der Komplex auf unbestimmte Zeit hin als nukleare Lagerstätte dienen - falls nicht noch ein nagelneuer Atommeiler auf dem Sellafield-Gelände gebaut wird - was die Regierung nicht ausgeschlossen hat.

Wiener Zeitung, Mittwoch, 7. September 2016