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Verhasster Spiegel#

Thilo Sarrazin: Warum man sein neues Buch "Feindliche Übernahme" ernst nehmen sollte.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 30. August 2018

Von

Judith Belfkih


Symbolfote Clash of Cultures
Clash of Cultures: Thilo Sarrazin arbeitet sich in seinem neuen Buch wieder am Islam ab.
Foto: © Kachaev/studiostocks

Muslimische Staaten sind rückständig. Menschen, die aus ihnen kommen, ebenso: bildungsfern, unkultiviert bis gewaltbereit, von Clan-Strukturen geprägt und religiösen Gesetzen mehr verpflichtet als staatlichen. Schuld an dieser Rückständigkeit ist der Islam.

Er unterdrückt die Frau, reduziert sie auf ihre Rolle als Mutter. Muslime bekommen daher deutlich mehr Kinder. So ist es statistisch zwingend, dass eine derzeitige Minderheit in Europa durch massive Fortpflanzung demnächst die Mehrheit stellen wird. Ganz von selbst. Es wird zu einer feindlichen Übernahme aus dem Inneren der Gesellschaft kommen. Quasi gewaltfrei. Mit Kindern statt mit Kriegern.

Die knapp 500 Seiten, die Thilo Sarrazins neues Buch umfasst, sind schnell zusammengefasst. Viel Neues beinhalten sie nicht. Wer "Deutschland schafft sich ab" oder "Wunschdenken" kennt, ist mit den Kernaussagen des deutschen Provokateurs, der sich als Aufklärer im Namen der Fakten sieht, bereits bestens vertraut. In seinem eben erschienenen Werk "Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht" spitzt er seine Thesen noch expliziter auf den Islam zu. Titel und Untertitel sind Programm. Sarrazin hat dafür den Koran gelesen und fasst ihn für den Leser zusammen - ganz neutral, wie er betont.

Sein Fazit: Der Islam fördert technisch-zivilisatorischen Rückschritt und trägt eine "expansive Eroberungskraft" in sich. Kurz: Der Islam und Europa, das geht sich nicht aus.

Ungeklärte Schuldfrage#

Sarrazin unterfüttert seine Thesen mit Statistiken - von Wirtschaftsdaten, Demokratie- sowie Kriegs-Indizien islamischer Staaten über Pisa-Studien und Geburtenzahlen bis zu nach Religion aufgeschlüsselten Verbrechen. Ihre Rückständigkeit bringen Zuwanderer aus muslimischen Ländern - angelockt vom üppigen Sozialstaat - nicht nur mit nach Europa, sie beharren im Namen der Religionsfreiheit auch darauf, die damit verbundenen Verhaltensmuster beizubehalten. Sie wollen, so Sarrazin, das Unmögliche: Die Früchte einer säkularen Welt genießen, ohne die Geisteshaltung, aus der sie überhaupt entstehen habe können, zu verinnerlichen. Die Folgen sind Parallelgesellschaften, die den Rechtsstaat untergraben, Sozialhilfemissbrauch, organisierte Kriminalität und explosionsartiges Wachsen der Unterschicht.

An einen gemäßigten europäischen Islam glaubt Sarrazin nicht, er wäre nicht mehrheitsfähig. Dass es für die wirtschaftliche und politische Situation in der muslimischen Welt auch Gründe jenseits des Islam geben könnte, ignoriert Sarrazin. Kolonialzeit, Ausbeutung und Unterdrückung eines ganzen Kontinentes? Schnee von gestern. Wir haben uns unseren Wohlstand aus eigener Kraft aufgebaut und schulden niemanden etwas, ist Sarrazin sicher.

Auch bei den knappen Lösungsvorschlägen überrascht nichts: Grenzen zu, Einwanderung nur über Qualifikation, klare Regeln für Muslime, die in Europa leben wollen, konsequente Abschiebung bei Nichtbeachtung. Dazu eine Reform des Asylrechts, der Genfer Flüchtlingskonvention und des Islam - durch die Muslime. Auch wenn Sarrazin Hoffnungen auf Veränderungen des Islam aus sich selbst akribisch zerschlägt. Unter dem Stichwort "Fluchtursachen bekämpfen" plädiert Sarrazin für eine "der islamischen Welt zugewandte und ernsthafte Außen- und Entwicklungspolitik". Sie besteht für ihn darin, "mit gutem Rat zur Seite zu stehen. Das ist aber auch das Einzige, was wir tun können."

Innenpolitisch ruft Sarrazin nach mehr Staat: Assimilation statt Integration, staatliche Kontrolle von Moscheen, Ethikunterricht für alle statt diverser Religionsunterrichte, kein Kopftuch an Schulen, mehr Geld für staatliche Kinderbetreuung statt Kindergeld. Positive Szenarien zeichnet Sarrazin nicht, Gefahr ist im Verzug, eigentlich ist es eh schon zu spät. Schadensbegrenzung ist angesagt.

Das größte Problem an Thilo Sarrazin: Er sagt die Wahrheit. Vereinfacht, zugespitzt, überzeichnet und mit großen blinden Flecken. Aber nicht erfunden oder aus Verschwörungstheorien ersponnen. Wozu Sarrazin diese Wahrheit jedoch verwendet, wie er sie aus einem menschlichen Kontext löst und als Hymne eines neuen Posthumanismus glorifiziert, ist erschreckend. Das macht das Buch brandgefährlich: Es brüstet sich mit der Macht des Faktischen. Menschen, die den Islam schon bisher als Bedrohung gesehen haben, bekommen reichlich Material. Es schürt wahrscheinlich sogar unter Muslimen Islamophobie. Unter dem Mantel der Objektivität zementiert der frühere Berliner Finanzsenator existierende Gräben und bedeckt sie mit einer eisigen Glasdecke, damit man sie auch ja nicht mehr zuschütten kann.

Reflex für Denkfaule#

Das Problem sind weniger die Fakten oder Lösungsvorschläge, die Sarrazin in seinem Buch zusammenstellt. Die meisten sind sogar absolut sinnvoll. Es sind die Haltung dahinter und die Weltsicht, aus der sie präsentiert werden. Es ist ein kalter Blick der Zahlen, der nüchternen Rationalität. Sarrazins Weltbild ist dabei genauso starr wie das des von ihm kritisierten Islam. Seine Bedrohungsszenarien könnten mit anderen Vorzeichen auch von einem islamistischen Prediger stammen, der die Gefahren des westlichen Lebensstils für die eigenen Werte anprangert.

Das größte Problem des Thilo Sarrazin bleibt aber immer noch, dass er die Wahrheit sagt. Sie ist verführerisch, denn sie liefert einfache Antworten. Komplex ist hier nichts. Der Islam ist Schuld. Er bedroht uns und muss bekämpft werden. Was Sarrazins Wahrheit so treffsicher macht: Es gibt all diese Probleme und Herausforderungen eines sich verändernden Miteinanders. Und es gibt kaum jemanden, der sie jenseits des rechten Lagers anspricht, geschweige denn nach Lösungen sucht. Diese Leerstelle ist der fruchtbarste Boden für simple Antworten. Das Einzige, was verhindert, dass sich mit diesem Buch die Fronten noch mehr verhärten, ist, es nicht als Spinnerei abzutun, sondern es ernst zu nehmen. Also die darin umrissenen Problemfelder aufzugreifen und nach Lösungen zu suchen, die eines humanistischen und sich einer christlichen Tradition verpflichtet fühlenden Europas würdig sind.

Wer immer nur Schuld bei anderen sucht und nie danach fragt, was ein Thema mit einem selbst zu tun hat, der vergibt sich jede Chance auf Entwicklung. Diesen kapitalen Fehler begeht auch Sarrazin. Aus ihm spricht mit jedem Satz die Präpotenz Europas. Entwicklung ist hier eine Einbahnstraße, der europäische Weg der einzig mögliche. Stellt man sich jedoch die Frage, wieso der Islam aktuell derart polarisiert in Europa, sieht man: Der Islam zeigt Europa seine eigenen Schwachstellen auf. Er öffnet den Blick in eine gar nicht so vergangene gesellschaftliche Vergangenheit, die wir im Sinne des Fortschrittes folgenlos überwunden zu haben glauben. Doch so folgenlos war diese Überwindung nicht: Ein lückenhafter gemeinsamer Wertekodex ist dabei nur eine Folge der Säkularisierung, ebenso wie mangelnder gesellschaftlicher Zusammenhalt infolge der Delegation sozialer Verantwortung an den Staat. Familienstrukturen zerbröckeln, der Generationenvertrag wackelt, Menschen vereinsamen in einer technisierten Konsumwelt, verschanzen sich in digitalen Wirklichkeiten. Doch statt sich mit diesen Herausforderungen zu beschäftigen, wird der Islam zum Sündenbock für überhaupt alles. Das Fremde als Feindbild muss für die eigene Entfremdung herhalten. Ein menschlicher Reflex für Denkfaule.

Problemlösung nicht in Sicht#

Natürlich bietet der Islam nicht einfach die Lösung der Probleme Europas. Genauso wenig wie Europa die islamische Welt zu erlösen vermag. Was der Islam jedoch leisten kann, ist einem Europa, das selbst mit seiner Identität ringt, als Spiegel zu dienen. Im friedlichsten Falle, um dabei etwas über sich selbst zu erfahren, die eigene Sichtweise zu erweitern und daran zu wachsen. Oder sich zumindest in klarer Abgrenzung dazu selbst neu zu definieren. Ohne das Ringen mit oder gegeneinander werden beide zu keiner Lösung kommen, dazu sind sie bereits zu sehr verstrickt in einander. Den Spiegel zu zerschlagen oder abzumontieren, wird keine Probleme lösen. Nicht die der muslimischen Welt - aber auch nicht die Europas.

Sachbuch#

"Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht." Von Thilo Sarrazin, 2018: Finanzbuch Verlag, 450 S, 24,99 Euro.

Wiener Zeitung, 24. August 2018