!!!Textkompetenz am Beispiel der Chemie


Von

[Christa Koenne|AEIOU/Koenne,_Christa]

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C%%sub 6/% H %%sub 12/% O %%sub 6/% + 6 O%%sub 2/% -> 6 CO%%sub 2/% + 6 H%%sub 2/%O

Können Sie das lesen? Nämlich: Sinnerfassend lesen? Woran würden Sie erkennen, dass Sie “sinnerfassend gelesen haben”?
Die Naturwissenschaften haben eine fachspezifische Sprache entwickelt, die inzwischen so „sophisticated“ ist, dass PhysikerInnen und ChemikerInnen, BiologInnen und MathematikerInnen staunend die Texte der jeweils anderen Disziplinen betrachten.

Mehr noch:  Analytische und organische und physikalische und …Chemie haben auf Grund der Detailliertheit der Fragestellungen, der Ausdifferenzierung ihrer Forschungen, spezifische Darstellungen ihrer Themen entwickelt. Wer versteht da noch? Und was?

Was bedeutet das nun für die Schule? Was für das Bildungswesen?

Vereinfacht formuliert:  Es braucht eine Gegenbewegung zur Ausdifferenzierung in den Wissenschaften. Diese Aufgabe haben meiner Meinung nach die Fachdidaktiken – aber nicht nur sie.

Zurück zur Chemie:

Kann man „Chemie lesen“?

Ein Blick in die Schulbücher zeigt das Dilemma. Eigentlich müsste man [Chemie|Thema/Chemie] schon verstanden haben, um die Fachsprache (nicht nur die Formelsprache) mit dem Alltagsverständnis verbinden zu können.

Da geht es um die Beschreibung von Experimenten, die Definition von Begriffen, um ein bestimmtes Vokabular, das verwendet wird.

„Verstehen“ aber bedeutet, alles bisherige Wissen, das bisher als „verstanden“ Erkannte, mit dem Neuen verbinden und daher ein Infragestellen des Bekannten.

Der anspruchsvolle Prozess „Lernen“ setzt somit ein Sich-Ausliefern voraus, an den Lehrer/die Lehrerin, den Experten/die Expertin. Das geht nicht ohne Vertrauen. LehrerInnen aber müssen für ihre Arbeit gemeinsam Begründungen für Bildungsinhalte formulieren.

Die bildungspolitisch bedeutende Frager ist nämlich: Wie weit soll/muss überhaupt verstanden werden?

Allgemeinbildung in einer Expertengesellschaft besteht darin, zu erkennen, wer wofür ExpertIn ist  und wem man vertrauen soll. Das Bildungsziel muss es  daher sein,  jenes Wissen zu vermitteln, das nötig ist um sich gut zu orientieren und bewusste Entscheidungen treffen zu können.  Dazu ist ein Grundverständnis nötig, das im Erlernen von Detailwissen oft nicht erreicht wird.

Beispiel: SchulbuchautorInnen haben es schwer. Sie fühlen sich schon durch ihre [Ausbildung|Thema/Ausbildung] einer intellektuellen Redlichkeit verpflichtet und Schulbuchkommissionen verlangen wissenschaftliche Korrektheit der Texte. Der Spagat zur Verstehbarkeit für Laien gelingt nur schwer.

Beispiel: Das Lesen von Alltagstexten zu chemischen Themen rückt somit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. LehrerInnen sind gut beraten, diese Informationsquellen zu nutzen. Ein „atomfreies Österreich“ wäre aus der Sicht der Chemie ziemlich leer. Was also ist gemeint?

An aktuellen Themen können Lernende nicht nur lesen, welche Fragen aus einer Wissensdisziplin anstehen, sie können über die Inhalte diskutieren und damit ein nachhaltigeres Verständnis entwickeln. Sterben Bienen an Pestiziden? Und wenn, was sind die Konsequenzen? Für wen?

Kann man „Chemie schreiben“?

Meine Antwort auf die Frage: „Woran erkenne ich, dass jemand Chemie verstanden hat?“ lautet: „Wenn jemand sinnvolle Fragen stellen kann“. Sinnvoll in meinem Verständnis als Expertin. Diese Fragen zu verschriftlichen,  diszipliniert das Denken.

Wie aber kommen Lernende soweit?

Beispiel: Wenn Alltagstexte zu chemischen Fragen aus den Zeitungen herangezogen werden, kann das Schreiben von Leserbriefen eine Reflexion ermöglichen und Verstehen begleiten.

Beispiel: Wenn SchülerInnen das „Erlebnis eines Wassertropfens“ als Geschichte schreiben, wird  sie der Kreislauf des Wassers auch emotional berühren. (s. Anhang)

Beispiel: Wenn SchülerInnen einen Text zu den „Gefahren des Dihydrogeniumoxids“ verfassen und dann eine Unterschriftenaktion starten, werden die Schwierigkeiten des Verstehens der Fachsprache, die Bedeutung der Kommunikation mit ExpertInnen, die Problematik von Entscheidungsfindungen auch im politischen Prozess nachvollziehbar.

Kann das Wissen über Chemie durch Lesen und Schreiben überprüft werden?

Die PISA-Resultate unserer SchülerInnen kommen in Schockwellen ins Land. Der Hinweis auf „geringe Lesefähigkeit der SchülerInnen“ schließt sich postwendend an.

Die österreichische „Prüfungskultur“ (ein Thema im Projekt IMST des IUS der Univ. Klagenfurt) hat da und dort auch reagiert. Die Schlichtheit eines traditionellen Chemietests im Vergleich zur Komplexität einer PISA-Aufgabe ist als eine wichtige Ursache für das schlechte Abschneiden unserer SchülerInnen erkannt worden.

Konfrontiert mit diesen Befunden werden ergänzende Formen der Leistungserbringung der Lernenden vielfach erprobt.
Beispiel: Ein Lerntagebuch zu schreiben bedeutet eine vertiefte Auseinandersetzung mit Lerninhalten. Eigene Worte wählen holt das Erlebte näher an Lernende heran.

Beispiel: Eine Beschreibung eines Experiments, die die Beobachtungsebene und die fachspezifische Darstellungsebene deutlich trennt, ermöglicht Erkenntnisse zur Arbeitsweise der Naturwissenschaften. Was sind Modelle? Was sind Theorien? (s. Anhang)

Beispiel: Protokolle, die SchülerInnen verfassen, um den Arbeitsprozess einer Gruppe zu beschreiben, zeigen den Weg vom Lesen zum Tun zum Schreiben zum Lesen... Dieses Tun ist ein Spezifikum der Naturwissenschaften: Stichwort [Technik|Thema/Technik].

!Resümee

Die Beschäftigung mit Texten verschiedener Wissenschaftsdizipinen bereichert die Überlegungen zur Gestaltung des Lernprozesses.

Ein besseres Textverständnis bei Lernenden zu erreichen ist aber nicht nur ein Anliegen der Fachdidaktiken.

Auf allen Ebenen, insbesondere in einem Lehrerkollegium am Standort einer Schule, können Lehrende zu Lernenden werden, wenn sie sich der gemeinsamen Aufgabe stellen „Bildung“ bei SchülerInnen  zu erreichen.
 
Das Interesse an Texten, die KollegInnen in anderen Fächern einsetzen, und darüber gemeinsam zu kommunizieren hilft LehrerInnen, sich selbst als „gebildete Laien“ zu erleben. Damit sind sie Vorbilder für die Lernenden.

LehrerInnen, die sich in ihrem Professionsverständnis nicht nur dem eigenen Fach verpflichtet fühlen – darin sehe ich ein Erfolgsrezept für die Zukunft der Schule.



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