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„Zum Elend noch die Schande“#

Für viele k.u.k. Offiziere endete das Jahr 1918 traumatisch. Bei ihrer Rückkehr in die Heimat wurden die abgekämpften Soldaten mit Verachtung und Existenznot konfrontiert.#


Von der Wiener Zeitung (30. Mai 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Brigitte Biwald


Erster Weltkrieg: Infanteristen mit Gasmasken. Photographie. Um 1916.
Erster Weltkrieg: Infanteristen mit Gasmasken. Photographie. Um 1916.
Foto: © IMAGNO/Austrian Archives

Es gab keinen ehrenvollen Empfang für diese Heimkehrer. „Zum Elend noch die Schande“: Treffender hätte es Wolfgang Doppelbauer nicht formulieren können. Er beschäftigte sich in seiner militär- und sozialhistorischen Publikation mit dem altösterreichischen Offizierskorps nach dem Ersten Weltkrieg sowie mit den Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg und den daraus resultierenden Strafprozessen in den Anfangsjahren der Ersten Republik. Doppelbauers Publikation von 1988 und der fundierte, quellenmäßig erweiterte Beitrag von Claudia Kuretsidis-Haider aus dem Jahr 2014 sind grundlegend.

Das altösterreichische Offizierskorps hatte nicht nur nach Kriegsende mit Gewalttätigkeiten und Anfeindungen der demoralisierten, hungernden Zivilbevölkerung fertig zu werden, sondern es wurde auch im Rahmen einer „Kommission zur Untersuchung militärischer Pflichtverletzungen im Kriege“ zwischen 1918 und 1922 mit Anklagen konfrontiert, wovon manche heute als Kriegsverbrechen bezeichnet würden. Die Untersuchungsergebnisse sollten die Grundlage für strafgerichtliche Sonderverfahren vor einem Sondersenat des Obersten Gerichtshofs (OHG) liefern.

Zeitungskrieg#

In den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg verarmten weite Teile des Offizierskorps zusammen mit ihren Familien. Wertlose Kriegsanleihen und eine Währungsreform vernichteten die Ersparnisse. Die Heimgekehrten mussten sich neue Verdienstmöglichkeiten suchen. Im Schnellsiedeverfahren wurden kommerzielle, sprachliche, landwirtschaftliche, Stenographie-, Bank-, oder Staatsverrechnungskurse abgehalten. Offiziere der technischen Waffengattungen (Artillerie) waren noch am ehesten verwendbar, am schwersten traf es die ehemaligen Marineoffiziere. Anfang 1919 zählte man allein in Wien rund 130.000 Arbeitslose.

Vorerst war die sozialdemokratische Partei die politische Siegerin. Dieser standen vier Gruppen als typische Vertreter der Donaumonarchie gegenüber: das Kaiserhaus, der hohe Klerus, das Militär und hier besonders das Offizierskorps als Verkörperung systemerhaltender Macht sowie die Industriellen. Alle vier Gruppen wurden von den der Sozialdemokratie nahestehenden Tageszeitungen bekämpft. Die politische Wirksamkeit der damaligen Presse beruhte auf ihrer Monopolstellung auf dem Medienmarkt.

In Wien, wo über 25 Tageszeitungen erschienen, führte die „Arbeiter-Zeitung“ die Auseinandersetzung an erster Stelle. Unterstützt wurde sie vom Blatt „Der Abend“ und der sozialdemokratischen Soldatenzeitung „Der Freie Soldat“. Diesen Blättern stand vor allem die christlich-soziale „Reichspost“ gegenüber. „Die Neue Freie Presse“, die „Wiener Zeitung“ sowie das „Neue Wiener Tagblatt“ schalteten sich nur fallweise ein, wenn es galt, zu krasse, einseitige Berichterstattungen zu korrigieren. Dabei griffen die Zeitungen auf einen Fundus an privaten Zuschriften zurück, die während des Krieges wegen der Zensur nicht veröffentlichen wurden. Viele Artikel beschrieben Brutalitäten, Ungerechtigkeiten, Willkür und Korruption. Der Fotohistoriker Anton Holzer befasste sich 2008 mit den „Kriegsverbrechen der k.u.k. Armee“.

Während der letzten Tage des Ersten Weltkrieges waren hunderttausende Soldaten in italienische Kriegsgefangenschaft geraten. Zeitungen aller politischen Richtungen brachten nach der Kapitulation Berichte darüber, dass höhere Kommandierende der k.u.k. Wehrmacht dafür die Verantwortung tragen würden, weil sie ihre Untergebenen führungslos der Gefangenschaft preisgegeben hätten.

Rasch bildeten sich im November 1918 in der österreichischen Nationalversammlung Initiativen zur Aufklärung des Verhaltens des Armeeoberkommandos (AOK). Am 19. Dezember 1918 wurde das Gesetz „über die Feststellung und Verfolgung von Pflichtverletzungen militärischer Organe im Kriege“ verabschiedet. Das Gesetz gliederte sich in neun Paragrafen.

§ 1 legte fest, dass eine Kommission einzusetzen sei, mit der Aufgabe, grobe Verschulden der Armeeführung oder andere schwere Verstöße gegen die Dienstpflichten zu recherchieren. Kommissionsvorsitzende waren die beiden Universitätsprofessoren Alexander Löffler, ein Jurist, und sein Stellvertreter, der Arzt Julius Tandler.

Wie der Medizinhistoriker Karl Sablik belegt, bezeichnete Tandler das Gesetz als ein „Beruhigungsgesetz“. Es war ein psychologisch notwendiges Gesetz, da es schon viele Anzeigen gegeben hatte und die Bevölkerung beunruhigt war. So fielen etwa nach dem Krieg Rechnungsoffiziere auf, die vor dem Krieg nichts besessen hatten und nun Grundstücke im Wert von tausenden Kronen besaßen. Die den Untersuchungen der Kommission folgende Gerichtsbarkeit übte ein Sondersenat des Obersten Gerichtshofs (OHG) aus. Weitere Mitglieder waren Richter des Obersten Militärgerichtshofes (Auditoren). Die Anklage vertrat der Generalstaatsanwalt.

Die Sitzungen fanden vorerst im Gerichtsgebäude in der Riemergasse in Wien I und später im Parlamentsgebäude statt. Dort verstaubten die stenografischen Protokolle der Kommission über Jahrzehnte im Parlamentsarchiv, bis sie von Doppelbauer aufgearbeitet wurden.

„Absolut unbeirrbar“#

Wie Karl Sablik belegt, fehlte dem AOK oft das Verständnis für die damalige Rechts- und Militärstrafprozessordnung. Die Kommissionsberichte zeigten Verschwendung, Bereicherung, falsche Befehle, unmenschliche Behandlung der Soldaten, Befehle zum Hängen, Erschießungen von Kriegsgefangenen und die schlechte Armeeführung mit all ihren Folgen.

Am 20. November 1919 fand die erste Hauptverhandlung gegen Feldmarschallleutnant Alois Pokorny (1861–1936) statt. Er hatte laut Anklage im August 1914 einem Hauptmannauditor in der Nähe von Brzezany in Galizien (Ukraine) befohlen, einen der Spionage verdächtigen Müllergehilfen standgerichtlich zu verurteilen. Der Auditor verweigerte zunächst die Durchführung dieses Befehls, weshalb Pokorny drohte, auch gegen ihn vorzugehen.

Das Urteil des OGH gegen Alois Pokorny erging am 20. November 1919 und lautete auf Freispruch. Nach diesem Urteil drohte der Kommissionsvorsitzende Löffler mit seinem Rücktritt. Er empfand den Freispruch als eklatantes Fehlurteil. Auch der zweite Prozess, gegen den von Karl Kraus im Prolog zu „Die letzten Tagen der Menschheit“ karikierten Feldzeugmeister und ehemaligen Sektionschef im Ministerium für Landesverteidigung, Stefan Ljubii (1855–1935), endete am 17. April 1920 ebenfalls mit einem Freispruch vom Vorwurf des Mordes. Ljubii hatte Hinrichtungsbefehle gegeben und berief sich auf das Kriegsnotrecht.

Das dritte Urteil des OGH brachte schließlich erstmals eine Verurteilung, die aber in ihrer Milde ebenfalls einem Freispruch gleichkam. Der General der Infanterie, Kasimir Freiherr von Lütgendorf (1862–1958), musste sich am 4. Juni 1920 wegen des Vorwurfes des Mordes in drei Fällen verantworten. Lütgendorf erhielt bloß sechs Monate Arrest und behielt seine Offizierscharge.

Das Verfahren gegen den späteren Nobelpreisträger Julius Wagner-Jauregg (1857–1940), einem ursprünglichen Ersatzmitglied der Kommission, erregte großes Aufsehen. Universitätsprofessor Wagner-Jauregg hatte sich wegen „Faradisierung“, der elektrotherapeutischen Behandlung von sogenannten „Kriegsneurotikern“, zu verantworten. Sigmund Freud verfasste ein Gutachten über die Elektrotherapie und sagte als Sachverständiger vor der Kommission aus. Wagner-Jauregg drängte im Frühjahr auf eine baldige Verhandlung.

Der Spruch der Kommission am 16. Oktober 1920 war eindeutig: Wagner-Jauregg wurde für absolut „unantastbar“ erklärt, er habe sich den „Dank des Vaterlandes und tausender Patienten verdient“. Wie Karl Sablik schreibt, verhielt sich Tandler abwartend, „er warf das Gewicht der persönlichen Beziehung in die Waagschale“. Tandler hielt seinen Kollegen Jauregg für „absolut unbeirrbar“.

Dass die Behandlung der Kriegsneurotiker an der Psychia-trischen Universitätsklinik äußerst brutal war, ist heute unbestritten. Der Medizinhistoriker Michael Hubenstorf weist darauf hin, dass damals die gesamte Wiener Psychiatrie (und implizit ebenso die Grazer, die Innsbrucker oder die Prager) mit auf der Anklagebank saß, was auch die leidenschaftlichen Stellungnahmen der Wagner-Jauregg-Schüler vor der Kommission verdeutlichte.

Dürftige Bilanz#

Ein weiterer Freispruch sowie die Einstellung eines Verfahrens nach dem Tod des angeklagten Militärarztes FML Josef Teisinger komplettieren die äußerst dürftige Bilanz der Kommission. Im Abschlussbericht wurde dem Verstorbenen keine Pflichtverletzung nachgewiesen.

Gemäß dem Schlussbericht waren insgesamt 484 Fälle anhängig geworden. Bei 325 von ihnen stellte sich heraus, dass die Kommission gar nicht zuständig war. 40 Fälle wurden an den Generalstaatsanwalt, 52 an verschiedene Staatsanwaltschaften, 55 an die zuständige Militäranwaltschaft abgetreten. Lediglich die vier oben beschriebenen Verfahren gelangten zu einer Hauptverhandlung. Das waren 0,8 Prozent der anhängigen Fälle. Am 24. März 1922 wurde die Kommission per Bundesgesetz aufgelöst und das ihr zugrunde gelegte Gesetz aufgehoben.

Kurz darauf, im Jahr 1923, resümierte der Staats- und Verwaltungsrechtswissenschafter Adolf Merkel: „Wenn auch die gewissenhaften Erhebungen der Kommis- sion fast nie zu einer Verurteilung geführt haben, so haben diese doch (. . .) reinigend gewirkt. (. . .)“

Tatsächlich war das Gegenteil der Fall: 2005 kam der Zeithistoriker Hans Hautmann in seiner Pu-blikation „Geschichtsbild über die Besatzungszeit“ zu dem Schluss, dass „der Versuch der inneren Selbstreinigung in Form eines von der republikanischen Nationalversammlung eingesetzten Gremiums einen vollkommenen Fehlschlag darstellte, da die Verantwortlichen und Ausführenden der Verbrechen ungeschoren blieben“.

Dieser Meinung ist auch der Historiker Winfried Garscha. Er fasst in seiner Analyse über „die Verbrechen der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg und ihre Nicht-Bewältigung nach 1918“ die Probleme der Kommission zusammen: „Nicht selten gelangten die Fälle gar nicht vor Gericht, sondern musste sich die Parlamentskommission damit begnügen, Massenmorde als ‚grobe Pflichtverletzungen‘ zu tadeln. Die Kommission scheiterte jedoch nicht nur an der Obstruktion durch eine Justiz, in welcher der Geist des gestürzten Regimes noch ungebrochen weiterlebte, sondern auch am Desinteresse der übrigen Parlamentsabgeordneten und der breiten Öffentlichkeit an einer gründlichen Aufarbeitung der Verbrechen von Kommandeuren der k.u.k. Armee.“

Brigitte Biwald, geboren 1951, ist Historikerin und in der Erwachsenenbildung tätig, Schwerpunkt Medizingeschichte. Veröffentlichungen über die Revolution 1848 (1996) und über das Sanitätswesen im Ersten Weltkrieg (2003).

Wiener Zeitung, 30. Mai 2020