!!!Barbarische „Kristallnacht“ 


!!Der Pogrom vom 10. November 1938 war der Auftakt zur „Endlösung der Judenfrage“. Hinter dem Terror tobte ein Machtkampf zwischen Goebbels, Göring und Himmler.


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''Von der [Wiener Zeitung|http://www.wienerzeitung.at] (Samstag, 8. November 2008) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.''


von

__Clemens M. Hutter__ 

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In der Nacht auf den 10. November 1938 fallen die braunen Horden im Deutschen Reich „spontan“ über die Juden her. Bilanz: 191 Synagogen und 171 Wohnhäuser gebrandschatzt, 7500 jüdische Geschäfte geplündert, 26.000 Juden in „Schutzhaft“. Drei Monate später stellt das oberste Nazi-Parteigericht in einem Verfahren gegen 117 braune Plünderer „91 Tötungen“ an Juden fest. Es verstößt fünf Genossen wegen verübter „Rassenschande“ (Vergewaltigung von Jüdinnen), Mordes oder „Disziplinlosigkeit“ aus der Partei und ersucht Hitler, die Verfahren vor öffentlichen Gerichten niederzuschlagen. Das Parteigericht begründet seine Nachsicht für die Verbrecher mit der Erklärung des Propagandaministers Goebbels, der einzelne Täter habe damals „den zwar unklar zum Ausdruck gebrachten, aber richtig erkannten Willen der Führung in die Tat umgesetzt“. Die „New York Times“ schrieb: „Terrorakte, wie es seit dem 30jährigen Krieg nicht mehr gab. Die Polizei sah den Barbareien untätig zu.“ Dieser Pogrom auf Juden im Dritten Reich ging als „Kristallnacht“ in die Geschichte ein. Sie war das Wetterleuchten der „Endlösung“, wie sie Hitler bereits im September 1919 in einem „Juden-Gutachten“ angekündigt hatte: „Das letzte Ziel des Antisemitismus muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein.“ Den mittelbaren Anstoß zur „Kristallnacht“ lieferte Polens Regierung. Sie verweigerte die Aufnahme von 17.000 (deutschen) Juden polnischer Staatsangehörigkeit. Daraufhin verfügte Gestapo-Chef Heydrich die gewaltsame Vertreibung dieser Menschen nach Polen – unter ihnen befand sich auch das Ehepaar Grünspan. Diese Brutalität gegenüber seinen Eltern rächte der 17-jährige Herschel Grünspan während eines Besuchs in Paris. Er drang am 7. November 1938 in die deutsche Botschaft ein und schoss den Legationssekretär Ernst vom (sic!) Rath nieder. Am nächsten Tag donnerte die Nazi-Presse auf Goebbels’ Befehl: „Es ist klar, dass das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird.“ Noch schärfer das Nazi-Zentralorgan „Völkischer Beobachter“: „Das Judentum trägt die Verantwortung (für den) jüdischen Mordbanditen (an vom Rath).“ Und schon begannen braune Horden „spontan“ jüdische Läden zu verwüsten. Am 10. November feierte Hitler gerade mit seinen „alten Kämpfern“ den 15. Jahrestag des gescheiterten Putschs in München. Da erhielt Goebbels die Nachricht, dass vom Rath seinen Verletzungen erlegen sei. Er informierte Hitler, der sogleich die Versammlung verließ, um als Staatsoberhaupt nicht angepatzt zu werden. An seiner Stelle hielt Goebbels die Festrede und schwelgte sichtlich im Gefühl, nun der SS und Göring die Lenkung der „Judenfrage“ abgejagt zu haben. Im Vollgefühl dieses vermeintlichen Sieges über seine Gegenspieler verkündete er, dass „spontane“ Repressalien gegen Juden im ganzen Land schon eingesetzt hätten. Wie „spontan“ der Pogrom ablief, enthüllt ein Fernschreiben von Himmlers Stellvertreter Heydrich vom 11. November 1.30 Uhr früh an alle Gestapo-Leitstellen: „Im Laufe der heutigen Nacht sind im ganzen Reich Demonstrationen gegen die Juden zu erwarten. Die Gestapo hat sofort den Partei-Leitungen mitzuteilen, dass sie ihre Maßnahmen den Weisungen der Polizei anzupassen hat.“ Damit entriss SS- und Polizeichef Himmler der Partei und zumal dem „machtbesessenen und hohlköpfigen Goebbels“ (Himmler) wieder die „Judenfrage“.

!„Arische“ Abrechnung

Heydrichs Weisungen sollten Übergriffe auf „arisches Eigentum“ unterbinden: Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen zerstört, aber nicht geplündert werden; Synagogen können angezündet werden, falls für die Umgebung keine Feuersgefahr entsteht; 20.000 bis 30.000 vornehmlich begüterte Juden seien zu verhaften, die Archive der Synagogen der Gestapo zur Auswertung zu übergeben. Die Partei-Leitungen organisierten allerdings die antisemitischen Orgien in einem entscheidenden Punkt stümperhaft. Hinterher stellte sich nämlich heraus, dass mehr als die Hälfte der demolierten Geschäfte „Ariern“ gehörten und lediglich an Juden vermietet waren. Diese Panne beschäftigte am 12. November eine interministerielle Konferenz, auf der Reichsmarschall Göring als De-facto-Chef der deutschen Wirtschaft das große Wort führte. Zuerst bezifferte ein Sprecher der Versicherungen den Gesamtschaden mit gut sechs Millionen Euro (Geldwert 2008) – das Doppelte eines normalen Schadensjahres – davon allein 1,55 Millionen Euro durch zertrümmerte Auslagenscheiben bei „arischen“ Geschäftsinhabern. Anschließend setzte Göring drei Verordnungen durch, die das Reichsgesetzblatt noch am selben Tag veröffentlichte: Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben; Ersatz des angerichteten Schadens durch die Juden selbst und nicht durch die Versicherungen; kollektive „Sühneleistung“ aller deutschen Juden in Höhe von 260 Millionen Euro (Geldwert 2008). Görings Kommentar: „Das wird hinhauen. Die Schweine werden einen zweiten Mord so schnell nicht machen. Im übrigen möchte ich kein Jude in Deutschland sein. Sollte das Deutsche Reich irgendwann in einen außenpolitischen Konflikt kommen, so ist es selbstverständlich, dass wir in allererster Linie eine große Abrechnung mit den Juden vollziehen.“ Dass die führenden braunen Genossen einander nie grün waren, bezeugt der weitere Verlauf: Himmler versuchte Hitler einzureden, dass Goebbels den Mob aufgestachelt und schwerste Schäden verursacht habe, deshalb aus allen Staatsämtern entfernt gehöre. Dem pflichtete Göring bei, weil er Goebbels - aber auch Himmler - für gefährliche Rivalen in Hitlers Gunst hielt. Am 14. November entschied Hitler: Goebbels behält seine Posten, mischt sich aber nicht mehr in die „Judenfrage“ ein – eine schwere Niederlage für den Propagandaminister; Göring „fasst in der Judenfrage die entscheidenden Schritte zusammen“ – ein Sieg für den eitlen Reichsmarschall und eine Schlappe für den SS-Chef. Von der SA, die sich als Privatarmee der Partei beim Pogrom hervorgetan hatte, war jetzt nicht einmal mehr die Rede – das war eine schmerzliche Niederlage. Das SS-Organ „Schwarzes Korps“ kleidete am 23. November 1938 sein Lob für die Kristallnacht-Lösung in einen ebenso prophetischen wie sadistischen Befund: Die verbliebenen Juden müssten nun zum Überleben erst ihr Kapital aufzehren und dann unweigerlich zu Kriminellen werden, denen man „mit Feuer und Schwert“ entgegentreten werden. „Das Resultat wäre das Ende des Judentums, seine totale Vernichtung.“ Diese aber vollzog die SS unter Himmlers und Heydrichs Leitung.

!Wütender Wiener Mob

Das Wetterleuchten der „Kristallnacht“ begann in Wien bereits Mitte September 1938, als erstmals die Verdunkelung der Fenster und der Straßenbeleuchtung zum Schutz gegen Fliegerangriffe geübt wurde. Im Schutz der Dunkelheit häuften sich Gewaltakte gegen und Raubüberfälle auf Juden. Am 5. Oktober übernahm die SS die Regie solcher „Aktionen gegen die Juden“, um sie zur damals noch möglichen Auswanderung zu nötigen. Allerdings warnte die SS: Es müsse „der Eindruck vermieden werden, dass es sich um eine Parteiaktion handelt, es sollen spontane Kundgebungen aus dem Volk heraus veranlasst werden. Da könne es zu Gewaltanwendung gegen widerstrebende Juden kommen.“ Ziele der Gewaltakte waren vornehmlich Geschäfte und Wohnungen von Juden – mit der Begründung, dass es Ariern unzumutbar sei, mit Juden unter einem Dach zu leben. In der Nacht auf den 11. November tobte sich dann in Wien die Furie der Gewalt aus. 7800 Juden wurden festgenommen, 27 von ihnen ermordet. 42 Tempel und Bethäuser wurden „durch Werfen von Handgranaten im Inneren oder durch Anzünden des Mobiliars“ niedergebrannt. 4080 Geschäfte wurden „gesperrt“ und so „der arische Kleinhandel auf eine gesunde Wirtschaftslage gebracht“. Allein im Stadtzentrum wurden an die 2000 Wohnungen „geräumt“, worauf „2000 Parteigenossen entsprechende Kleinwohnungen erhielten.“ In der Leopoldstadt fütterte der Parteimob 40 Stunden lang einen Scheiterhaufen mit Thorarollen, Talmudfolianten und Gebetbüchern und zertanzte nebenan ausgebreitete Torarollen zu Fetzen. Viele der verhafteten Jüdinnen wurden zu Prostituierten in Zellen gesteckt, von diesen entkleidet und zu Sexorgien gezwungen. Die angemaßte Überlegenheit der arischen Herrenrasse spricht aus den Verhörprotokollen: „Sag’ Jud, welchen Beruf hast du?“– „Kaufmann“ – „Kaufmann? Ein Schwindler bist du. Wie viele Kinder hast du?“ – „Fünf“ – Aha, du verunreinigst mit deinen Schweinen das arische Wien!“ „Du verfluchter Jud, welchen Beruf hast du?“ – „Rechtsanwalt“ – „Na da hast du schon den richtigen jüdischen Dreh gemacht. Wie viele Kinder hast du?“ – „Eines“ – Aha! Und bei welchem jüdischen Doktor macht deine Saujüdin verbotene Abtreibungen?“ In Salzburg kritisierte die SS verblüffend offen, dass die Parteipresse „von einer spontanen Volksbewegung spricht. Die Bevölkerung wusste von der ganzen Sache nichts. In der Stadt Salzburg wurden sieben Geschäfte und die Synagoge ausschließlich von der SS zerstört, Brandstiftungen erfolgten nicht.“ Aber „60 bis 70 männlichen Juden“ wurden verhaftet. In Wien bilanzierte die SS, dass „die Maßnahmen gegen die volkstumszersetzende Judenheit von der ganzen Bevölkerung mit Begeisterung aufgenommen wurden und die SS ganze Arbeit geleistet hat“. Der Wiener Gauleiter Odilo Globocnik sah das allerdings anders: „Die Aktion wurde von der Bevölkerung eher ablehnend als zustimmend bewertet. Die Behandlung der Juden war zum Großteil sehr hart und artete meist in brutale Züchtigungen aus. Die größeren Aktionen wurden fast ausschließlich von der SS durchgeführt. In einigen Fällen hielten SS-Leute politische Leiter (der NSDAP) mit gezogener Schusswaffe von Requirierungen und sonstigen Übergriffen zurück.“
 

''Clemens M. Hutter, geb. 1930, war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den „Salzburger Nachrichten“und ist Autor von bisher rund 45 Büchern (Themen: Totalitarismus, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Ostalpen, Alpinistik).''


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[Wiener Zeitung,|http://www.wienerzeitung.at] Samstag, 8. November 2008
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