!!!Strukturelle Unbarmherzigkeit

Von

__Anton Kolb__

Aus: ''Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 172/2016''

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Papst Franziskus hat am 08. Dezember 2015 ein außerordentliches Heiliges Jahr verkündet, das bis 20. November 2016 dauert und dem Thema „Barmherzigkeit“ gewidmet ist. An diesem Tag fand zugleich das 50-Jahr-Jubiläum des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils statt. Anfang 2016 ist ein kleines Buch von ihm mit dem Titel „Der Name Gottes ist Barmherzigkeit“ erschienen. Das Buch wird in 92 Ländern veröffentlicht; in Deutsch bereits im Verlag Kösel. Es handelt sich um ein Gespräch des Papstes mit Andrea Tornelli.[1] Dort legt er seine Gründe und Ansichten hinsichtlich der Barmherzigkeit Gottes und des Menschen dar. Dieses Buch wird sicher noch viel Lob finden.

Jeder Gläubige, wohl jeder Mensch, bedarf der Barmherzigkeit Gottes. Wir alle sind darauf angewiesen, erhoffen oder erbitten diese Barmherzigkeit. Franziskus erweist sich als guter Seelsorger, als guter Hirte seiner Herde, der weniger auf Theologie und Theorie, dafür aber umso mehr auf die Menschen mit ihren vielen Nöten, Sorgen und Sünden, auf die Pastoral Wert gelegt. Seine eigene Barmherzigkeit, sein Stil, sein Einsatz für die Armen sind bewundernswert, obwohl man seine heftige Kritik an der Kurie in seiner Weihnachtsansprache an diese im Jahre 2014, am Klerikalismus nicht übersehen soll.

Franziskus interpretiert in diesem Buch, nach dem ich zitiere, verschiedene Stellen der Bibel, in denen eindrucksvoll Gottes Erbarmen ausgeführt wird. Man darf dabei aber die vielen anderen Bibelstellen nicht übersehen, die eine andere Sprache sprechen. Die richtige Hermeneutik bzw. Exegese besteht darin, dass man die gesamte Bibel in Augenschein nimmt, dass man die Aussagen über ein Thema mit den Aussagen über andere Themen synchronisiert.  So darf man z. B. das harte Urteil Jesu über die Pharisäer, ihre Vertreibung aus der Synagoge, die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies nicht übersehen. Was wäre geschehen, wenn Gott alles verziehen hätte? Es gibt also im Sinne der Bibel bleibende Konsequenzen für das Fehlverhalten von Menschen.

Gottes Barmherzigkeit gibt es nicht bedingungslos und ausnahmslos. Sonst wäre alles gleich gültig bzw. gleichgültig. Bei Einsicht, Reue und Beichte wäre nach Franziskus die Barmherzigkeit Gottes grenzenlos. „Gott vergibt alles.“ (S. 105) Ausgenommen ist nach Franziskus nur die Korruption. (S. 105 f.) Dann eben doch nicht alles. Ist nicht vielleicht doch eher an Hitler, Stalin, die Verantwortlichen für den Holocaust, die Terroristen, an alle, die auf Dauer Verbrecher bzw. Kriminelle sind, an Kinderschänder zu denken? Jesus sagt gemäß Mt 18,6.: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde.“
 
Würde es im Fall der Korruption wie überhaupt bei allen Verbrechen nicht genügen, am Ende des Lebens Einsicht und Reue zu zeigen? Handelt es sich so nicht um einen Freibrief? Sündige 

froh, fröhlich, frei und tapfer weiter! Man bräuchte sich kaum zu bessern, zu ändern, zumindest was die religiöse Seite betrifft. In Wirklichkeit geht es aber immer um den ganzen Menschen. Untergräbt man damit nicht doch die Pastoral, von der Papst Franziskus immer spricht?
 
Im Blickwinkel dieser religiösen, christlichen Betrachtungsweise würde es im irdischen Leben, in der Gesellschaft genügen, möglichst ohne Strafe davon zu kommen. Wo bleiben dann aber Ethik und Moral? Man darf Gottes Barmherzigkeit nicht so darstellen, als ob es ohne Religion, ohne Christentum, ohne Glauben, ohne Beichte keine guten Menschen, keine Barmherzigkeit gäbe. Man darf die Barmherzigkeit Gottes und des Menschen nicht in so hohem Maße mit der Beichte verbinden, wie dies Franziskus tut. Nachdem immer weniger Menschen zur Beichte gehen, würde es immer weniger Barmherzigkeit Gottes geben. Speziell dieses Sakrament wird vor allem im Westen immer weniger in Anspruch genommen. Da wird auch der Wunsch des Papstes nicht viel helfen und ändern, im Heiligen Jahr „sich voller Vertrauen auf die Beichte zu stützen“. (S. 123) Auch Atheisten können gute Menschen sein. Die Übernatur, der Glaube setzen die Natur und die Kultur voraus.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat den bis dahin gültigen Grundsatz „Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil“ (Extra ecclesiam nulla salus) endlich aufgehoben. Daher darf man seither nicht mehr die Lehre vertreten, dass es nur im Rahmen der Kirche, durch die Kirche, durch die sieben Sakramente das Erbarmen, die Liebe, die Gnade Gottes gäbe. Dieses Konzil wird von Franziskus immer wieder gelobt, so auch beim 50-Jahr-Jubiläum dessen Abschlusses. Das Konzil mit seiner neuen Theologie, seinen fortschrittlichen Ansichten hat Vorrang. 

Gott hat den Menschen in Freiheit erschaffen. Daher respektiert er die Willens- und Gewissensfreiheit des Menschen. Es ist interessant, dass gerade das letzte Konzil diese Freiheiten nachdrücklich betont hat, die nachher wieder unterdrückt wurden, auch leider von der letzten Bischofssynode. Die Schuld für Verbrechen, für Sünden, ja auch für Krankheiten, kann und darf man daher nicht Gott in die Schuhe schieben. Genauso kann man nicht annehmen, dass Gott jede Schuld verzeiht. Dann würde er den Menschen, deren Freiheit und deren Verantwortung zu wenig ernst nehmen. Gott kennt und würdigt den Menschen aber insbesondere auch deshalb, weil er in Jesus selbst Mensch geworden ist. 

!Gott ist genauso gerecht wie barmherzig

Bei Gott ist die Barmherzigkeit mit seiner Gerechtigkeit verbunden. Gott ist genauso gerecht wie barmherzig. Die eine Eigenschaft hebt die andere nicht auf. Bei Menschen sollte es nach dem Beispiel Gottes genauso sein. Es wird kaum einen Menschen geben, der zeitlos nur barmherzig ist oder sein kann. Die Gerechtigkeit wird manchmal die Barmherzigkeit einschränken (müssen). Das trifft auch auf die Flüchtlingsproblematik zu. Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Solidarität sind der Wahrheit, der Gleichheit, der Gleichberechtigung verpflichtet. In Wahrheit bleibt der Mensch für sein Tun und Lassen verantwortlich. Franziskus schreibt: „Die Barmherzigkeit ist eng verknüpft mit der göttlichen Treue.“ (S. 30) Auch zur Treue gehören zwei Seiten.

Franziskus vertritt die Auffassung, „dass es keine Gerechtigkeit ohne Vergebung gibt … Mit Barmherzigkeit ist die Gerechtigkeit gerechter und verwirklicht sich so tatsächlich selbst.“ (S. 103 f.) Damit wird weder die irdische noch die himmlische Rechtsprechung einverstanden sein. „Die Barmherzigkeit wird immer größer sein als jede Sünde.“ (S. 111) Die Barmherzigkeit Gottes ist sicher größer als die Sünde des Menschen. Das heißt aber noch nicht, dass jede Sünde verziehen wird. Die Gerechtigkeit kommt bei Franziskus zu kurz. 

Auch Reinhard Kardinal Marx von München vertritt ähnliche Auffassungen wie Papst Franziskus.[2] Die Barmherzigkeit sei „das große theologische Leitthema von Papst Franziskus“. Die beiden Grundprinzipien „Barmherzigkeit und Gerechtigkeit“ würden „sich im Licht des Glaubens … gegenseitig ergänzen und verstärken“. „Barmherzigkeit ist eine grundlegende Motivation, durch die sich Christen an demokratischen Entscheidungsprozessen beteiligen.“ Durch Unbarmherzigkeit würde man „von der Gemeinschaft der Menschen getrennt“. 

Auch die neue Theologie geht in ihrer Gesamtheit weit über die Barmherzigkeit hinaus. Die Barmherzigkeit dürfte de facto kaum eine Motivation für demokratische Beteiligung sein. Durch Unbarmherzigkeit schließt man sich natürlich nicht „aus der Gemeinschaft der Menschen“ aus. Die Kritik an Franziskus gilt in diesem Punkt auch Marx gegenüber. 

Die Vorgänger von Papst Franziskus sind in vielerlei Hinsicht sehr unbarmherzig gewesen. Franziskus will nun offensichtlich ausgleichen. Beide Seiten, These und Antithese, scheinen einseitig zu sein. Die Wahrheit dürfte wohl in der Mitte liegen. Die Einseitigkeiten der beiden Seiten sind zu beseitigen. 

Es wird zu Recht beklagt, dass Franziskus bei der harten, alten und teilweise veralteten Lehre, der immer noch rigiden Sexualmoral, der Überziehung des Wahrheitsanspruches nichts ändert, immer wieder diesbezügliche Enzykliken, den Kodex, den Weltkatechismus zitiert. Gerade diesen gravierenden Gesichtspunkt habe ich insbesondere zusammen mit der letzten Bischofssynode nachhaltig kritisiert.[3] Diese hat viel von Barmherzigkeit geredet, blieb in der Sache selbst aber eher unbarmherzig, hat keine Konsequenzen daraus gezogen. Braucht nicht gerade in diesem Sinne die Kirche ein „Feldlazarett“? 

Franziskus betont, „dass die Barmherzigkeit die Lehre ist“. (S. 85) Man kann und darf sicher nicht die ganze Lehre auf die Barmherzigkeit reduzieren, wie ich bereits der letzten Bischofssynode gegenüber kritisch bemerkt habe. Die derzeitige Lehre der Kirche muss sich gründlich ändern, damit die Pastoral nicht auf Dauer ins Leere geht. In der Bibel heißt es: „Gott ist die Liebe.“ Bei dieser bekannten und herrlichen Aussage sollte man bleiben. Man soll sie nicht durch die Barmherzigkeit ersetzen, die sich aus der Liebe ergibt. In der Bibel heißt es auch nicht, dass Gott die Barmherzigkeit ist. 

!Verleugneter „Klimawandel“ der Kirche

Franziskus tritt erfreulicherweise nachhaltig für Änderungen, für den Wandel der Lehre, der Auffassung ein, das Klima betreffend. Er und die gesamte Kirchenleitung lassen aber einen solchen notwendigen Wandel in ihrer eigenen Lehre nicht zu, verleugnen damit den „Klimawandel“ der Kirche. Auch deshalb wird das Klima in der Kirche immer schlechter.
 
Zurzeit wäre es viel wichtiger und richtiger, diese strukturelle Unbarmherzigkeit der Kirche zu erkennen und abzuschaffen, anstatt ein Loblied auf die Barmherzigkeit Gottes zu singen. Gott 

wird daraufhin weder Ort noch Zeit noch den Adressaten seiner Barmherzigkeit ändern. Franziskus und die Kirche müssen aufpassen, dass das Jahr und das Thema der Barmherzigkeit nicht zur Ablenkung, zur Ausrede, zum Alibi, zur Kompensation für die vielfache Unbarmherzigkeit, für die vielen Ungerechtigkeiten in der Kirche gerät. So manches Recht in der Kirche ist ein Unrecht.

Man denke an die Laien, die Frauen, die Homosexuellen, die geschiedenen Wiederverheirateten, den Pflichtzölibat. Es wäre besser, den Pflichtzölibat endlich abzuschaffen, anstatt wie Franziskus zu empfehlen, mit den Sündern gegen den Zölibat im Beichtstuhl barmherzig umzugehen. 

Weltweit gibt es ca. 100.000 Priester ohne Amt, in Österreich allein schon fast 1000, die wegen einer Heirat, einer Liebe zu einer Frau von der Ausübung ihres Priesteramtes ausgeschlossen wurden, die genau auch in diesem Zusammenhang viel Unbarmherzigkeit von der Kirche, von ihrer Kirche erfahren müssen. Der Großteil der Gläubigen tritt schon länger für die Aufhebung des Pflichtzölibates ein. Immer mehr Priester halten den Zölibat immer seltener ein. Trotzdem geschieht bisher fast nichts. Sowohl der Papst als auch die Bischöfe lassen sie weitgehend im Stich.

Papst Franziskus scheint für die Diskussion um den Pflichtzölibat, um Viri probati im Prinzip offen zu sein. Seine Gegner sind aber, auch in diesem Punkt, sehr stark, zu stark. Der Papst hofft auf einschlägige und offene Vorschläge von den Bischofskonferenzen, von den Bischöfen, die allerdings noch immer weitgehend ausbleiben, weil sie zu konservativ sind, zu wenig oder keinen Mut aufbringen. Sie sollten also besser nicht von Barmherzigkeit sprechen.

Wie wird Gott mit dieser Unbarmherzigkeit der Kirche umgehen? Mit Barmherzigkeit allein kann man die vielen Korruptionen und kriminellen Tätigkeiten in der Kurie, im Vatikan nicht abschaffen. Die Täter und Vertreter derselben, die Feinde von Franziskus werden sich freuen, wenn sie nur mit der Barmherzigkeit des Papstes zu rechnen haben. Dagegen sollte der Papst mit aller Härte vorgehen. Gott wird aber wohl alle Täter bzw. Sünder nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Auch im Bereich der Ökumene gibt es leider noch viel Unbarmherzigkeit, zu wenig Gemeinsamkeit. Für die strukturelle Unbarmherzigkeit der Kirche gibt es auch kein Erbarmen und kein Verständnis seitens der Gläubigen.
 
Im Zusammenhang mit dem Heiligen Jahr der Barmherzigkeit ist wiederum vom Ablass die Rede. Das sieht nach Barmherzigkeit aus. Ist es aber nicht. Die Kirche muss endlich vom Ablass ablassen. Berechtigte Kritik daran ist nicht nur von der evangelischen Kirche erhoben worden.

Am 04. 02. 2011 haben mehr als 300 katholische TheologInnen das Memorandum „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“ veröffentlicht. Damals hieß es: „2011 muss ein Jahr des Aufbruchs für die Kirche werden.“ Dieser Aufbruch ist aber leider nicht nur im Jahre 2011, sondern weitestgehend auch bisher ausgeblieben. Ähnliches gilt für die „Kölner Erklärung“ vom Jahre 1989.

Es ist zu wünschen, dass endlich ein Jahr, eine Zeit der Barmherzigkeit der Kirche in wesentlichen Fragen ihrer Reform kommt, in der sie ihre vielen Unbarmherzigkeiten hinter sich lässt, und Beispiel nimmt an der Barmherzigkeit Gottes und dem ganzen Evangelium. Möge die Kirche nicht nur die „Heilige Pforte“ von St. Peter, sondern alle Türen und Fenster endlich öffnen!



''__Prälat Anton Kolb, Lic. phil. (Gregoriana), Dr. theol. (Graz)__, ist Emer. O. Universitätsprofessor. Er war Dekan Theologischen Fakultät, Rektor und jahrzehntelang Vorstand des Instituts für Philosophie und Fundamentaltheologie der Karl-Franzens-Universität Graz sowie Vorsitzender des gesamtösterreichischen Universitätsprofessorenverbandes.   ''





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!Fußnoten

[1|#1] Katholische Journalistin und Schriftstellerin – Anm. d. Hg.

[2|#2] Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Grundprinzipien des christlichen Glaubens in der Seelsorge. Zeitschrift für Pastoral und Gemeindepraxis.

[3|#3] Siehe dazu meine folgenden 4 Broschüren: Bischofssynode vom 05.-19. Oktober 2014 in Rom. 10 Gebote für die Sitzung 2015; Schreiben an Papst Franziskus, 3 Kardinäle, 5 Bischöfe in der Causa „Bischofssynode“;  Bischofssynode. Instrumentum laboris. Ehelose beurteilen die Ehe; Stellungnahme zum Abschlussbericht der XIV. Generalversammlung der Bischofssynode vom 04.-25.10.2015, Brief an Papst Franziskus; Alle erschienen im Eigenverlag, Uni-Druck, Graz 2015 bzw. 2016. Mein Brief an Papst Franziskus vom 10.12.2015 wurde zur Gänze am 20.01.2016 im Standard abgedruckt. Der erste und größere Teil der genannten Broschüre ist in damals in noch etwas kürzerer Form in den „Gedanken und Glaube und Zeit“ erschienen.
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